Klaus Hart Brasilientexte

Aktuelle Berichte aus Brasilien – Politik, Kultur und Naturschutz

Brasilien – Kultur, Mentalität, Musik, Karneval, soziokulturelle Faktoren. Hintergrundtexte, Fotoserien.

Schriftsteller Luiz Ruffato in der Neuen Zürcher Zeitung 2013: ”Allerdings sind wir im Alltag noch immer mit einer institutionalisierten Barbarei konfrontiert, die sich nicht nur in einer konstanten physischen Bedrohung, sondern auch in der Korruption und in der absoluten Missachtung des menschlichen Lebens äussert. In Brasilien ist der Begriff des «wilden Kapitalismus» keine Metapher.”

“Schönheit und Fäulnis”. Neue Zürcher Zeitung/NZZ – Klaus Hart:https://www.nzz.ch/schoenheit_und_faeulnis-1.700750

https://www.bpb.de/internationales/amerika/brasilien/gesellschaft/185280/das-oeffentliche-gesundheitssystem

Lula – Brasiliens Ex-Staatschef – im Juli 2017 zu 9,5 Jahren Gefängnis verurteilt. “Lula Superstar”. “Die Brasilianer lieben ihren Präsidenten Lula da Silva, die Mächtigen der Welt reißen sich um ihn – jetzt besucht der “beliebteste Politiker der Erde” Bundeskanzlerin Merkel in Berlin.” Süddeutsche Zeitung 2010…Lula und das “betreute Denken”:http://www.hart-brasilientexte.de/2017/07/12/lllll/

“Wir haben keine Elite – wir haben eine Oberschicht, fast immer dumm und grobschlächtig.” Daniel Piza, renommierter Kulturkolumnist der Qualitätszeitung “O Estado de Sao Paulo”.

http://www.hart-brasilientexte.de/2009/05/15/dr-claudio-guimaraes-dos-santos-mediziner-therapeut-schriftsteller-sprachwissenschaftler-publizist-unter-den-wichtigsten-denkern-brasilien/
Japaner in Brasilien – Kultur und Werte als Faktor des Erfolgs.  Rund 1,8 Millionen Nikkeis mit markanter Präsenz – größte Japanerkolonie außerhalb Japans(2015)

An der City-Kreuzung Sao Paulos fluten bei Rot an die 30, 40 über die Avenida, werden von Autos beinahe umgefahren. Neben mir wartet lediglich eine junge japanischstämmige Frau auf Grün, lächelt mich mit etwas Ironie an, denkt wohl dasselbe: Pro Jahr statistisch über 50000 Verkehrstote, ein Mehrfaches an schwer Unfall-Geschädigten – kein Wunder bei soviel bewußter Fahrlässigkeit. Eine Stunde vorher fällt mir im großen Schwimmbad ein japanischstämmiger Vater auf. Fast alle, Kinder wie Erwachsene,  tummeln sich dort, wo man die Füße noch  auf den Grund bekommt, können wie die übergroße Mehrheit der Brasilianer nicht schwimmen. Er indessen bringt als einziger seinen Sprößlingen spielerisch, doch systematisch das Schwimmen bei, sie können es schon ganz gut. Pro Jahr ertrinken weit über 7000 Menschen in Brasilien, bei sehr hoher Dunkelziffer.

France Gall – A Banda von Chico Buarque:http://www.hart-brasilientexte.de/2018/01/08/france-gall-zwei-apfelsinen-im-haar-die-3-tornados-zwei-tellerminen-im-haar-und-an-der-huefte-granaten-und-zwei-kassiber-im-arsch-und-in-der-akten-raketen-chico-buarquebrasilie/

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Soziokulturelle Faktoren – ein Land in der Mentalitätsfalle: http://www.hart-brasilientexte.de/2013/04/07/brasilien-das-land-der-selbsttauschung-philosoph-und-psychoanalytiker-andre-martins-analysiert-vor-deutschlandjahr-2013-die-situation-des-tropenlandes-aufgebaute-fassade-hinter-der-unsere-g/

http://www.hart-brasilientexte.de/2014/07/07/brasilien-verstos-gegen-gesetze-nimmt-zu-laut-studie-bruch-von-normen-und-regeln-immer-leichter/

http://www.hart-brasilientexte.de/2008/08/20/buchbiennale-2008-in-sao-paulo-interessante-deutschsprachige-autoren-vor-ort-doch-kaum-besucher-und-experteninteresse/

http://www.hart-brasilientexte.de/2013/12/30/brasiliens-mentalitat-soziokulturelle-faktorenwir-sind-tatsachlich-nichtig-belanglos-oberflachlichschriftstellerin-heloisa-seixas-nach-der-ruckkehr-von-einer-deutschlandreise-dem-besuch-der/

http://www.hart-brasilientexte.de/2013/09/21/brasilien-mentalitat-raub-und-skrupellosigkeit-sind-in-unserer-kultur-verwurzelt-verspaten-die-verbesserung-unserer-ranking-position-fur-menschliche-entwicklung-qualitatszeitung-o-globo-in-eine/

http://www.hart-brasilientexte.de/2008/08/24/nur-drei-prozent-der-brasilianer-halten-fur-moglich-in-mitmenschen-zu-vertrauen-sagt-neue-mentalitatsstudie/

http://www.hart-brasilientexte.de/2012/11/17/brasilien-mentalitat-das-verhaltnis-zur-luge-marcelo-rubens-paiva-politisch-unkorrekt-in-o-estado-de-sao-paulo/

Mentales Niveau:  http://www.hart-brasilientexte.de/2009/05/25/das-mentale-niveau-der-brasilianischen-tv-zuschauer-liegt-bei-etwa-neun-jahren-ein-junger-franzose-liest-200-mal-mehr-als-ein-brasilianer-dramaturg-miguel-falabella-fusballstar-ronaldo/

http://www.hart-brasilientexte.de/2009/12/22/fast-60-prozent-der-brasilianer-ab-15-sind-laut-pisa-kriterien-funktionelle-analphabeten-warnt-bildungsexperte-joao-batista-araujo-e-oliveira/

Chico Buarque gegenüber der  Hamburger “Zeit”: “Brasilien kennt nur Konkurrenz, keine Solidarität…Brasilien ist ein Land der Gewalt und war es immer…Brasilien ist ein Land der Egoisten…Jedem geht es nur um individuellen Erfolg, niemandem um Gerechtigkeit für alle…Es steckt kein Rassismus im Kern der Gewalt, der Schwarze ist ebenso Opfer des Schwarzen, der Mulatte Opfer des Mulatten. Jeder kämpft gegen jeden.”

Luiz Ruffato:  ”Die Verewigung der Ignoranz als Herrschaftsinstrument, Erkennungsmarke der Elite, die noch unlängst an der Macht war, läßt sich messen…Respekt gegenüber der Umwelt existiert nicht. Wir haben uns daran gewöhnt, die Gesetze zu umgehen.”

 ”Wir leben tatsächlich in einer dynamischen Gesellschaft, allerdings ist diese auch dynamisch chaotisch und gründet auf zweifelhaften Fundamenten und verkehrten Werten — dies ist eine Erbschaft unserer von Gewalt und Unruhe geprägten Geschichte. Heute blicken wir auf 28 Jahre Demokratie zurück, was nicht wenig ist angesichts der Tatsache, dass es sich um den längsten Zeitabschnitt institutioneller Legalität unserer gesamten Geschichte handelt. Wir sind es gewohnt, mit autoritären Regimen zu leben, selbst wenn diese auf diktatorische Abwege geraten, und haben uns im Sport perfektioniert, die Gesetze zu korrumpieren — einem «Sport», der auf allen Ebenen der Gesellschaft betrieben wird und nicht nur von den Politikern, wie wir es gerne behaupten. Wir fühlen uns als Bürger zweiter Klasse, die stets Pflichten, aber nie Rechte haben, und wir besitzen noch immer eine kolonialistische Mentalität: Wir verhalten uns, als wäre unser Aufenthalt hier nur provisorisch und empfinden keinerlei Verantwortungsgefühl — weder den Nachbarn noch der Gemeinde oder der Umwelt gegenüber. Dieses Gefühl der Nichtzugehörigkeit hat die Voraussetzungen für ein Zusammenleben untergraben: Was in Brasilien allen gehört, gehört niemandem . . 

Die Brasilianer besitzen wohl wirklich freundliche und fröhliche Züge, doch dieses Bild trägt auch sein Negativ in sich: Wir sind intolerant, pflegen Vorurteile und sind scheinheilig. Der Hang, die Existenz der Anderen zu negieren und sie aus dem Blickfeld zu verbannen, ist die Grundlage unserer Kultur.” (Ruffato in der Neuen Zürcher Zeitung)

Bernardo Carvalho, der als DAAD-Stipendiat ein Jahr in Berlin tätig war,  sagte im Dezember 2013 im Website-Interview in Sao Paulo, die Frankfurter Buchmesse 2013 – Gastland Brasilien – negativ erlebt zu haben. Die intellektuellen Möglichkeiten eines Diskurses über Brasilien würden verkleinert, man komme  mit “fertiger Politik” – und dies sei schockierend. Auf deutscher Seite sei eine erstaunliche Sicherheit im  Nicht-Wissen über Brasilien festzustellen. “Als ob deren Augen dort nicht offen sein können, um zu sehen, wie die brasilianische Realität ist. Mir wurden unglaubliche Interviewfragen gestellt, die von totaler Unkenntnis zeugten.” Sein Verhältnis zu Deutschland nannte Bernardo Carvalho eigenartig, über die Literatur, es sei wie ein Dialog mit tauben Menschen. Wegen einer bestimmten deutschen Vision von Brasilien, wegen Vorurteilen würden von Brasilien bestimmte Dinge erwartet – aber nur bis zu einer gewissen Grenze. “Es bilden sich neue grauenhafte Klischees über Brasilien – für mich ist das beeindruckend.” Die Vision von Brasilianern über ihr eigenes Land interessiere nicht. “Es bestehen Vorurteile gegenüber der intellektuellen Produktion in Brasilien. Als ob es hier nichts intellektuell Interessantes gäbe für die Welt draußen.”

Karneval und Pflicht-Fröhlichkeit:  http://www.hart-brasilientexte.de/2011/02/22/karneval-in-brasilien-pflicht-frohlichkeit-alegria-als-marktprodukt-sich-zerquetschende-massen-wildnis-der-epileptiker-karnevalsexperte-arnaldo-jabor-analysiert-kulturelle-veranderungen-des-g/

Brasilien und Karneval – Hintergrundtexte, Fotoserien:

http://www.hart-brasilientexte.de/2016/02/11/rio-de-janeiro-karneval-2016-die-siegerparade-der-sambaschulen-die-unausrottbaren-klischees-des-deutschsprachigen-mainstreams-dominiert-im-rio-karneval-tatsaechlich-samba/

Theaterstück über Scheiterhaufen von Rio de Janeiro:  http://www.hart-brasilientexte.de/2011/04/29/brasiliens-scheiterhaufen-erstmals-in-einer-anklagenden-inszenierung-der-scheiterhaufenstadt-rio-de-janeiro-zu-sehen/

In Sao Paulo erläuterte ein Bürgerrechtler  die Situation in seiner Slumregion:”Probleme mit Raub, Diebstahl, Überfällen haben wir dort nicht – denn jeder  potentielle Kriminelle weiß, daß er schon in Kürze nicht mehr auf dieser Erde ist, wenn er sich danebenbenimmt. So sind die Favela-Regeln nun einmal.”

http://www.hart-brasilientexte.de/2014/07/15/wm-2014-ironischer-kommentardie-deutschen-sind-uns-im-grunde-in-allem-71-uberlegen-was-wir-auserhalb-des-fusballplatzes-machen-o-estado-de-sao-paulo/

http://www.hart-brasilientexte.de/2014/10/28/brasilien-hinternvergroserung-mit-todesrisiko-2014/

 

Vicente Maiolino:

http://www.hart-brasilientexte.de/2010/01/12/ein-guter-freund-und-langjahriger-nachbar-theaterregisseur-vicente-maiolino-in-rio-de-janeiro-bergstadtteil-santa-teresa-durch-12-schusse-getotet-kein-hinweis-auf-tater/#more-4261

 

Schwerlich zu übersehen – unter den rund 200 Millionen Brasilianern fallen die etwa 1,8 Millionen Japanischstämmigen überraschend deutlich durch ihr Alltagsverhalten auf, ob in Freizeit oder Beruf. Japoneses, wie man sie gewöhnlich nennt, sind hoch anerkannt, werden von vielen bewundert. Ihr wirtschaftlicher und sozialer Aufstieg ist erstaunlich, Lebensstandard und Bildungsniveau sind überdurchschnittlich hoch. Japoneses zählen nicht zum Heer der Slumbewohner und Obdachlosen. Straßenkinder mit japanischen Gesichtszügen wird man in den übervölkerten Millionenstädten vergeblich suchen. In den begehrtesten, bestbezahlten Berufen, darunter der Ärzteschaft, in den Chefetagen trifft man Japoneses jedoch geradezu häufig. Frappierend dabei ist – sie alle haben durchweg kleinbäuerliche Vorfahren aus ärmsten Verhältnissen.

1908 bringt der Dampfer „Kasato Maru” die ersten 165 japanischen Familien nach Brasilien – die eigene Regierung fördert die Auswanderung, um einen Bevölkerungsteil loszuwerden, der nicht ins Entwicklungskonzept paßt. Brasiliens Kaffeebarone brauchen für ihre Plantagen billige Arbeitskräfte, übernehmen die Japaner, zahlen ihnen jedoch nur Hungerlöhne. Bereits die Familien von der „Kasato Maru“ verlassen daher noch vor Ablauf der Kontrakte die Kaffeefazendas, wagen den Start als selbständige Siedler – Hunderttausende von später Eingewanderten folgen ihrem Beispiel.

Was die Japaner anpacken, so lautet ein gängiges Urteil, funktioniert. Und wie sie Brasiliens Landwirtschaft umkrempelten, revolutionierten, die Ernährungsgewohnheiten des Tropenlandes grundlegend veränderten, ist kaum zu glauben. Die Papaya-Frucht und selbst italienischer Wein, schwarzer Pfeffer und Tee kommen erst mit den Japanern nach Brasilien – später Melonen und sogar die Kiwis. Japoneses brachten den Anbau von Kartoffeln, Mais, Bauwolle, Ölfrüchten stark voran, modernisierten Brasiliens Vieh-und Geflügelzucht von Grund auf, setzten als erste massiv Dünger ein, verblüfften mit entsprechenden Ertragssteigerungen.  Japanische Landwirte, größtenteils in Kooperativen zusammengeschlossen, produzieren heute in Brasilien das meiste Geflügel, Obst und Gemüse.

Inzwischen ist nur noch ein kleiner Teil in der Landwirtschaft tätig – Bildung und Werte machten es möglich.  

Weltbank-Berater Kaizo Beltrao von der angesehenen Getulio-Vargas-Stiftung hat ausführlich untersucht, was die „Japoneses” bis heute von den anderen Bevölkerungsgruppen so deutlich unterscheidet.”Es ist vor allem die Bildung, die Ausbildung, der die Japaner hier besonders hohen Wert beimessen. Durch Lernen, durch Studieren im Leben voranzukommen –  diese Denkweise haben die Einwanderer aus Japan mitgebracht. Sie waren Kleinbauern und haben im brasilianischen Hinterland sofort ordentliche Schulen für ihre Kinder gegründet, haben diese später zum Studieren in die Stadt geschickt. Jede japanische Gemeinde in Brasilien hat sich dafür zusammengetan, Geld gesammelt –  es war eine kollektive Anstrengung, aus Gemeinschaftssinn. Soviel Zusammenhalt, solche Werte gab es im Rest der Bevölkerung nicht.  Die Japaner waren eine homogenere Gruppe als Weiße, Schwarze und Mischlinge.”

Ein brasilianischer Durchschnittsschüler verbringt pro Tag etwa fünf Stunden mit Unterricht und Hausaufgaben, der japanische indessen etwa doppelt so viel. Ein beträchtlicher Teil der Heranwachsenden Brasiliens bleibt häufig sitzen, verläßt die Schule vor der achten Klasse. Meist schlichtweg aus mangelnder Lust am Lernen, wie eine neue Studie ergab. Vor allem in den öffentlichen, aber auch in vielen privaten Schulen herrschen enorme Disziplin-und Gewalt-Probleme –  für Schulen mit hohem Asiatenanteil gilt dies nicht. Und wie in der Einwanderergeneration tun die Eltern alles, damit ihre Kinder zu den Klassenbesten gehören. Lernen ist eine Art kultische Handlung, die besten Ergebnisse zu erreichen, eine Frage der Ehre. Nur 26 Prozent aller Brasilianer können ausreichend lesen und schreiben…

Kaizo Beltrao: ”In keiner anderen Bevölkerungsgruppe macht ein so hoher Anteil der Heranwachsenden sämtliche Schulabschlüsse, selbst das Gymnasium – und zwar weit früher als im Landesdurchschnitt. Die übrigen Brasilianer sind da deutlich im Rückstand.“

–Teilstaat Sao Paulo – weit über die Hälfte der Nikkeis wohnen hier –

 In der Megacity Sao Paulo mit den besten Hochschulen sind nur 1,2 % der Bewohner japanischstämmig – doch in den am meisten gefragten Universitätsstudiengängen wie Medizin und Ingenieurwesen entfallen gemäß einer auf die „Nipo-Brasileiros“ zwischen 15 und 20 % der Studenten. In ganz Brasilien besitzen 28 % der Japoneses eine abgeschlossene Universitätsausbildung, während es im Bevölkerungsdurchschnitt nur 8 % sind. Professoren und Dozenten schätzen die Studenten mit den asiatischen Namen außerordentlich – diese arbeiten intensiver, beharrlicher und disziplinierter als andere.

 Im Alltag bedeutet dies auch, daß den weit besser gebildeten Japanern der Gesprächsstoff, die Anknüpfungspunkte mit dem weit weniger gebildeten großen Rest der Bevölkerung rasch ausgehen – sie haben da ähnliche Probleme wie die ebenfalls weit überdurchschnittlich gebildete jüdische Gemeinde in Städten wie Rio oder Sao Paulo. 

Fallen die Japaner auf dem Arbeitsmarkt durch aggressives Wettbewerbsverhalten, Konkurrenzdenken, Ellenbogenmentalität auf? Kaizo Beltrao verneint dies: ”Ich sehe nach wie vor eher Gemeinschaftssinn, den Geist der Kooperation in der japanischen Gemeinde. Die Japaner Brasiliens sind materiell besser gestellt als der Durchschnitt, zählen aber nicht zur reichsten Schicht.”

Dies entspricht den Beobachtungen, die man im Alltag des Landes macht. Die dunkelhäutige Mittelschichtlerin Elmira Brandao hat in ihrem Großunternehmen von Sao Paulo eine ganze Menge Japoneses als Kollegen und auch als Vorgesetzte. „Ich komme mit ihnen sehr gut aus, da sie kollegial, effizient, korrekt, objektiv sind. Japoneses mögen keine Tricksereien, kein Hintenrum und keine Scheinheiligkeit, all dieses unangenehme Klima von unsauberer Konkurrenz und Neid gerade in Großraumbüros.“ Heißt dies, Freundschaft zu schließen ist mit ihnen einfach? „Keineswegs – Japoneses, ob Männer oder Frauen, ziehen es vor, unter ihresgleichen zu bleiben – das gibt ihnen offenbar mehr Sicherheit. Das kommt von der familiären Erziehung – respektvoll gegenüber anderen sein, Abstand halten, sich nicht aufdrängen. Vielen extrovertierten Brasilianern gefällt solches Verhalten garnicht –  ich dagegen finde, mit einem höheren Bevölkerungsanteil von Japanischstämmigen wäre Brasilien wohl nicht so stark von Korruption, Gewalt und Kriminalität geprägt.“

Zu den großen sozialen Problemen Brasiliens zählt die für mitteleuropäische Begriffe schwer vorstellbare Zerrüttung, Verwahrlosung eines beträchtlichen Teils der  Familien, besonders in den rasch wachsenden Slums. Auf Brasiliens Japaner trifft das indessen nicht zu – man beobachtet es auch in der Mittelschicht bei den verschiedensten Gelegenheiten. Typisch für japanischstämmige Eltern ist, daß sie sich ständig, und besonders in der Freizeit, intensiv um ihre Kinder kümmern, didaktisch-spielerisch mit ihnen umgehen, stets darauf bedacht, daß ihr Nachwuchs wichtige Dinge für das Leben lernt. Sport, körperliche Bewegung verschiedenster Art zählen dazu. Und dies in einem Land, in dem sportliche Betätigung unpopulär ist. Etwa in geschlossenen Freizeitanlagen der Mittelschicht die Kinder sich selbst zu überlassen, kommt für Japaner nicht in Frage.

Während die Mehrheit der Brasilianer inzwischen übergewichtig bis fett ist, trifft dies auf die Japanischstämmigen nicht zu – wichtigen Anteil hat daran bereits die zumeist sehr gesunde Ernährung in dieser Bevölkerungsgruppe. Was nicht heißt, daß sich nicht auch Nikkeis an dem in Brasilien so überaus populären US-Fastfood vergreifen – mit entsprechenden Folgen. Hirofumi Yoshioka hat eine gut gehende Autowerkstatt, wandert jedes Wochenende, warnt seinen einzigen Sohn immer wieder vor fettigen Fritten und übersüßten Cola-Getränken – vergeblich. Bereits mit 23 ist er aufgedunsen, hat Bluthochdruck und Diabetes, konsumiert täglich entsprechend viele Tabletten, schafft es einfach nicht zurück zum Normalgewicht. Studien haben ergeben, daß Yoshiokas Sohn keineswegs der einzige ist – gerade bei der Diabetes-Rate ist der Unterschied zwischen der Einwanderergeneration und deren Nachkommen erheblich.

San Francisco und New York haben ihr Chinatown – Sao Paulo hat sein  Nippon-Town, im City-Bezirk Liberdade, Freiheit. Frühmorgens ist der gleichnamige Platz gefüllt mit meist älteren Japoneses, die ihre ganz spezielle fernöstliche Gymnastik betreiben. Danach öffnen Läden und Bars, steigt einem der Geruch japanischer, doch auch chinesischer Speisen in die Nase. In den Schaufenstern japanische Waren zuhauf, an den Kiosken die zwei im Viertel herausgegebenen Zeitungen in japanischer Sprache. Am Wochenende, den Tagen japanischer Feste wird das Viertel zum Touristenmagnet, reihen sich Garküchen aneinander, treten gar japanische Rockbands auf. Ein Shintoist erklärt einem gerne, wie stark die Religion, neben dem Buddhismus, noch unter den Japoneses vertreten ist. Gemäß amtlicher Statistik sind heute  indessen weit über die Hälfte Katholiken, im größten katholischen Land der Erde.

Brasiliens Japaner unterhalten zahlreiche Organisationen, Klubs, ein Einwanderermuseum – und sogar die brasilianische Vereinigung der Atombombenopfer. Gründer ist Takashi Morita:“Wenn wir damals in Japan sagten, zu den Überlebenden zu zählen, wurden wir diskriminiert und bekamen nicht einmal in Hiroshima eine Anstellung. Man dachte, wir könnten ganz plötzlich während der Arbeit sterben.“ Auch Morita erlitt Verbrennungen – als er nach einem Monat das Hospital verlassen konnte, nach Hiroshima zurückkehrte, hing beizender Geruch von Leichen in der Luft – dazu überall Schwaden großer Moskitos.

Bis 1956 hielten Morita und seine Frau Hayako es aus, im eigenen Lande wie Aussätzige behandelt zu werden. – dann gingen beide nach Brasilien, um zu vergessen und sich eine neue Existenz aufzubauen.

Yoshito Matsushige war 33 Jahre alt, als die Piloten der „Enola Gay“ über Hiroshima die Atombombe ausklinkten – als Fotograf einer Lokalzeitung dokumentierte er als einziger, was nach der Explosion in der Stadt geschah. Als Präsident der brasilianischen Atombombenopfer-Vereinigung erinnert er sich in Sao Paulo:“Überall Tote, wer noch lebte, schrie und weinte. Richtete ich meine Kamera auf jemanden, gelang mir oft nicht, auf den Auslöser zu drücken – ich heulte auch, es war die Hölle.“ Nicht wenige japanische Auswanderer starben erst in Brasilien an den Folgen der radioaktiven Verstrahlung. Shoji Mukai, dem in Hiroshima am Katastrophentage nichts anderes übriggeblieben war, als über brennende Leichenberge zu klettern oder zu springen, hatte acht Jahre später eine Überlebende aus seiner Stadt geheiratet. Ihr erstes Kind starb nach einem Monat, bei der Mutter wurde Strahlenkrebs entdeckt. In Brasilien wurde sie insgesamt achtmal operiert – doch die Bemühungen der Ärzte waren vergeblich.

Brasilien

Kein prima Klima – die Musikszene vor der Geldfußball-Weltmeisterschaft 2014

2006, vor der WM in Deutschland, steht Brasilien schon Monate vorher nahezu Kopf – Vorfreude, karnevaleske Euphorie, Spannung, Menschentrauben an den Straßenbars und nur ein Thema.  Viele Klischees – etwa die von typisch brasilianischer Musik-und Tanzbegeisterung, scheinen  wieder zu stimmen. Fußball-Sound, Fußball-Hymnen wummern durch die Straßenschluchten der Millionenstädte – keine Musikshow, ob Samba, Forró oder Rock, ohne die mitreißenden Klassiker, Gassenhauer des „Futebol“.

2014 ist von all dem sogar Wochen vor dem WM-Anpfiff  nichts zu spüren. Stattdessen verwirrendes Desinteresse und Pessimismus bei einem Teil der Brasilianer – Wut, Empörung bei den restlichen.  Zwar werden einige neue Fußball-Songs mit WM-Bezug auf den Markt geworfen – doch nicht einmal das offizielle FIFA-Lied „We Are One (Ole Ola)“( http://letras.mus.br/pitbull/we-are-one-ole-ola-fifa-world-cup-song/), mit bekannten Namen der brasilianischen Popmusik,  animiert, ist zudem selbst in den Radios kaum zu hören.

 Bereits im April, so seriöse Umfragen, finden nur noch 48 % gut, daß die WM in ihrem Land veranstaltet wird – Tendenz sinkend. Die Mehrheit weist auf immer gravierendere soziale Probleme, auf Staatskorruption, Mittelverschwendung, gebrochene Regierungsversprechen, auf das grauenhafte öffentliche Gesundheits-und Bildungswesen.

Deutschland liegt auf dem UNO-Index für menschliche Entwicklungs auf Platz 5, der strategische Partner der Berliner Regierung indessen nur auf Platz 85 – Kuba, nebenbei bemerkt, auf Platz 59. Die Mordrate Rios – laut Studien etwa dreißigfach höher als die Deutschlands.

“O Iraque é aqui”, Der Irak ist hier, singt  Jorge Aragao in einem sozialkritischen Rio-Samba, „das Volk lebt in Angst.“

Sein Kollege Marcelo Yuka, 2000 von neun Banditenkugeln getroffen, seitdem im Rollstuhl, analysiert 2014:“In Brasilien gewinnen heute Grausamkeit, Faschismus und Dummheit die Oberhand.“

 

Und kann sich das jemand in Deutschland vorstellen? Selbst in der Megacity Sao Paulo, reichste Stadt Lateinamerikas mit über 2600 Slums, brechen Kranke in der Warteschlange vor Hospitälern tot zusammen, sterben andere auf dem harten Boden von Klinikkorridoren, weil Ärzte und Pfleger, Medikamente und Betten fehlen.  Dazu gravierende Menschenrechtsverletzungen: Systematische Folter, Todesschwadronen, Diktatur des hochbewaffneten organisierten Verbrechens vor allem über die Slumperipherien, Scheiterhaufen-und Lynchpraxis, Sklavenarbeit, weltweit höchste Zahl von Morden an Homosexuellen, von den kontinuierlichen Morden an systemkritischen Journalisten, Bürgerrechtlern und Umweltaktivisten ganz zu schweigen.

Statt Fußballmusik drängte sich in der lateinamerikanischen Kulturhauptstadt Sao Paulo ein ganz anderer Sound in den Vordergrund: Permanentes Knattern von Hubschraubern der Militärpolizei, Sirenen der Militärpolizei, Sprechchöre von Demonstranten, Explosionen von Tränengas-und Blendgranaten. Wieso Militärpolizei und keine zivile? Selbst Lula und seine Amtsnachfolgerin Dilma Rousseff behielten dieses berüchtigte Relikt der Folterdiktatur bei – Lula stand sich bereits unter dem Militärregime bestens mit der extremen Rechten.

WM-Anpfiff ist am 12. Juni im Itaquerao-Stadion von Sao Paulo – kurz zuvor zeigt das jährlich größte städtische Kulturfestival „Virada Cultural“  die Stimmungslage. Nur noch etwa halb soviel Publikum wie 2013, auffällige Desorganisation, Dutzende von „Arrastao“, Fischzug, genannten Überfällen, bei denen Gruppen von bis zu hundert bewaffneten Kriminellen über Festivalbesucher herfallen, diese berauben. Dazu Plünderungen aller Art – Bands müssen wegen Banditenattacken ihre Auftritte abbrechen bzw. absagen. Fußball-Songs, WM-Stimmung – Fehlanzeige. Wer als europäischer Besucher dachte, die ganze Vielfalt brasilianischer Populärmusik anzutreffen, wird bitter enttäuscht. Auf den meisten Festivalbühnen zweit-bis drittklassiger Rock in-und ausländischer Bands, Samba-Stars an den Rand gedrückt wie noch nie. „Der Samba liegt im Sterben“, singt Altmeister Nelson Sargento bitter-ironisch auf einer abgelegenen Bühne vor höchstens zweihundert Leuten – einige Jahre zuvor steht  er indes vor mehreren tausend auf der Hauptbühne. Doch inzwischen haben Sao Paulos Kulturverwalter gewechselt, der neue Bürgermeister Eduardo Haddad, Ex-Bildungsminister, ist aus der Arbeiterpartei von Lula. Seit dessen Amtsantritt 2003 gerät auch Brasiliens genuine Musikkultur immer mehr ins Abseits, bekommen nordamerikanische Wegwerf-Rhythmen staatlichen Rückenwind wie nie zuvor. Die Kultur des Tropenlandes, so renommierte Kulturkritiker und Musiker, wird zunehmend „entbrasilianisiert“,  Markt und staatliche Kulturpolitik favorisieren die kommerziellen Megatrends der internationalen Musikkonzerne, darunter Primitiv-Rap, auch extrem sadistischen Gangsta-Rap, Hiphop und Reggae. Darfs ein bißchen plastisch-anschaulich sein?

„Steck ihn mir hinten rein, steck ihn mir vorne rein – fick mich durch, fick mich durch“, schallt von einer Freiluft-Massendisco namens „Baile Funk“ tausende Male wiederholt in Hardrock-Lautstärke über ganze Stadtviertel von Rio de Janeiro oder Sao Paulo. Das ist ein noch harmloser Text, gängigere wären schwerlich hier abdruckbar. Gibt es Scheiterhaufen-HipHop zum Tanzen, mit Texten, die sich über Verkohlende lustig machen? Aber natürlich – daß Menschen, zumeist mißliebige Slumbewohner, etwa Bürgerrechtler, von Banditenkommandos lebendig verbrannt werden, weiß jeder in Brasilien, ungezählte Slumkinder haben bereits zugesehen.

Ein Glück, daß es dann wenigstens noch alljährlich den Samba-Karneval gibt, mögen manche in Deutschland einwenden. Deutsche Medien verbreiten Jahr für Jahr, ganz Brasilien sei im Sambataumel. Schön wärs, zumal Samba noch nie die populärste Musik des Tropenlandes war, Sertaneja-Rhythmen seit jeher vorn liegen.

Noch in den 80er, 90er Jahren kannte vor allem in Rio de Janeiro fast jedermann die neuesten Karnevalssambas, sang sie bei den berühmten Paraden mit, tanzte dazu. Vorbei. Heute wird die Parade von den allermeisten konsumiert wie ein Konzert mit Folklore vergangener Zeiten. In den Diskotheken an der Paradestrecke wird Rap und HipHop aufgelegt.

Brasiliens wichtigster Sänger und Komponist Chico Buarque: “In den Karnevalssambaschulen wird schon lange kein Samba mehr gelehrt, tanzt doch keiner mehr echten Samba no Pé. Was man dort komponiert, interessiert mich längst nicht mehr, hat mit Sambakultur nichts zu tun. Das sind Märsche, man merkt es an Struktur und Melodie.”

Kollege Ney Lopes, Komponist und Sambamusiker, zudem Schriftsteller: “Der heutige Karneval macht mir regelrecht Angst, ich lasse mich dort schon lange nicht mehr blicken. Den Sambaschulen gehts zuallererst um Kohle.“

Er kritisiert ebenfalls die von den großen Musikkonzernen betriebene kulturelle Gleichschaltung. Unter dem Primat der Globalisierung, so Lopes, erreichten diese “Internationalierungsanstrengungen” ihren Höhepunkt. “Die transnationalen Konglomerate attackieren in allen Formen und an allen Fronten, um Brasiliens Musik gleichzuschalten. Gerade der Samba werde wegen seiner starken symbolisch-ästhetischen Inhalte immer wieder strategisch angegriffen. Samba sei eines der Hauptziele des von den internationalen Musikkonzernen angerichteteten Massakers. An diesem “Massaker” beteiligen sich auch in Deutschland nicht wenige pseudoprogressive Figuren der Musikmedien, die nicht zufällig schon seit Jahren guten brasilianischen Samba beiseiteschieben und stattdessen ganz im Sinne der Auftraggeber die bekannten “Megatrends” entsprechend mitteleuropäischen “Hörgewohnheiten” favorisieren.

 Übertreibt  Ney Lopes? Keineswegs – andere Große der Musica Popular Brasileira analysieren ähnlich.

Zeca Pagodinho:“Im Grunde gibt es keinen Karneval mehr, sie haben alles geraubt, zerstört, was unsere Kultur war. Der Karneval ist tot”.  

Martinho da Vila, Samba-und Karnevalskomponist:“Der Karneval hat sich völlig von seinen Ursprüngen entfernt, wurde Industrie – alles dreht sich um Profit.”

“Der Karneval war keine Aktivität für Profit – dies war nicht das Ziel; doch wie früher wird es nicht mehr. Alles ist kommerziell und muß Geld bringen, niemand tut noch etwas nur aus Lust und Vergnügen…Ich mag nicht, daß es so geworden ist. Ich ziehe das Vergangene vor, als alle sich als Eigentümer der Sambaschule fühlten und sich einsetzten, damit die Dinge funktionierten. Heute ist das nicht mehr so. Sogar im Karneval hat der Kapitalismus gesiegt…Die Sambaschulen sind fast so wie die Fußballklubs.” Was derzeit an sogenannten Sambas in den Radios gespielt wird, findet Martinho da Vila grauenhaft, musikalisch armselig: „Von solchen Sambas könnte ich zehn am Tag produzieren.“

Auffällig, daß auf vielen Straßenumzügen selbst des Rio-Karneval keinerlei oder kaum noch Samba gespielt wird – stattdessen Pop, Rock, Rap, Tecno, Rio-Funk – wie auf Festen außerhalb des  Karnevals. Deutlich weniger Brasilianer hören, spielen Samba – und schlimmer noch – viel weniger können ihn überhaupt tanzen. Sambaschwoofs waren noch in den siebziger, achtziger Jahren ein kulturelles Massenphänomen des Nachtlebens der Großstädte und des Hinterlands. Heute sind die Chancen, irgendwo Samba, Bolero oder Forrò tanzen zu können, in Brasilien stark geschrumpft, nur eine ständig geringer werdende Minderheit kann überhaupt noch die Schritte.

Stop – aber dieser Rhythmus bei der berühmten Rio-Karnevalsparade – das ist doch Samba? Schon lange nicht mehr, wie Kultur-und Politikkolumnist Janio de Freitas betont: „Diese Parade ist gar kein Karneval. Von Schulen, wie man die Samba-Organisationen nennt, haben sie nichts an sich – vom Samba ebensowenig.” Was im Sambodromo von den Sambaschulen gezeigt werde, könne man auch an jedem anderen beliebigen Tag des Jahres aufführen. Defiliert eine Sambaschule, singt sie über 80 Minuten immer dasselbe Lied. (Testen Sies mal im Selbstversuch mit einem deutschen Karnevalsschlager…)

In der Tat handelt es sich um eine Aufführung mit Musik, das Karnevaleske ist gestellt und nicht spontan wie früher, alles verlangt den Teilnehmern wegen des Wettbewerbsprinzips viel Konzentration ab, wie von Schauspielern auf der Bühne. Entsprechend gespannt wirken die Defilierer bereits vorm Start, nur zu oft total kaputt, fertig am Ende der Parade.Das Publikum macht nicht mit, sondern schaut, von Ausnahmen abgesehen, nur zu, konsumiert.

Früher indessen, so Freitas, war der Rio-Karneval eine außerordentliche Ansammlung bezaubernder Originalität, freier Kreativität, spontan, glückselig, im wahrsten Sinne des Wortes volkstümlich. 

Brasiliens populärster Kommentator, der Cineast Arnaldo Jabor:”Karneval wird nicht mehr erlebt, sondern man schaut ihm zu.”  Laut Umfragen nehmen  nur etwa 25  Prozent der Brasilianer tatsächlich teil.

Brasilianerinnen konstatieren:  “Unser Karneval ist nicht mehr sexy, selbst im Karneval von Rio spielt Sex immer weniger eine Rolle.”

Außerhalb des Kommerz-Exhibitionismus von Parade und Shows passiert heute auf Rios Straßen kaum noch Aufregendes, gar Frivoles – die allermeisten trinken ihr Bier und gehen dann brav nach Hause. Der Karneval hat sich auf ganz erstaunliche Weise enterotisiert, ist auf den früher so frivolen Bällen direkt asexuell geworden – das Klima von Flirt und Verführung ist nahezu verschwunden, eine soziokulturell anders gepolte junge Generation, die Sex und Erotik kaum noch viel abgewinnen kann, drückt auch dem Karneval zunehmend ihren Stempel auf.

Auf den Sambaschwoofs nahm niemand Drogen, kam es nie zu brutalen Schlägereien. Jetzt erlebt Brasilien einen Boom von Raves, auf denen auch deutsche DJs auflegen. Drogen aller Art werden dort massenhaft konsumiert, die Raves schufen einen neuen, zusätzlichen Rauschgiftmarkt – oder wurden extra dafür geschaffen. Massenschlägereien mit Toten, Schwerverletzten machen regelmäßig Schlagzeilen. Von den „Bailes Funk“ mit sexistischen, sadistischen Raps ganz zu schweigen.

 

Frauen in Sao Paulo – Performance am Kunstmuseum MASP:

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Frauen in der Politik Brasiliens: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/10/28/8-jahre-lula-regierung-die-ministerinnen-riege-veranderungen-bei-geschlechterungleichheit-und-frauenrechten/

http://www.hart-brasilientexte.de/2010/03/06/brasilianerinnen-in-der-politiksie-rauben-genauso-lugen-genauso-sind-genauso-scheinheilig-und-zynisch-wie-die-manner-mensalao-skandale-tricks-und-betrugereien-jeder-grosenordnung-politikerinn/

“Die Brasilianerinnen sind apathisch, Machisten und Sklaven der Schönheitsdikatur. Sie fördern den Machismus, indem Mütter Söhne in Schutz nehmen, die Gewalt gegen Frauen anwenden und nicht zulassen, daß ihre Söhne aufwaschen oder das Zimmer aufräumen. Wir haben eine grobe Entwertung von Errungenschaften der Frauen – durch diese selber.”

Geschlechterungleichheit: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/10/12/geschlechterungleichheit-in-macholand-brasilien-unter-lula-gestiegen-lauten-neuer-studie/

“In puncto Gleichberechtigung ist Brasilien weiter als viele westliche Länder.”(National Geographic Deutschland 2011)

Zu den soziokulturellen Besonderheiten Brasiliens zählt, daß Jungen gewöhnlich nicht von Vätern, sondern von Müttern zu dümmlich-parasitären Machos erzogen werden. Dies gilt auch für die Mittelschicht: Mütter pflegen nicht selten wohleinstudiert und politisch korrekt einen frauenrechtlerischen Diskurs, formen indessen Jungen ganz gezielt zu Machos, die später in nicht-brutalmachistischen Kulturkreisen entsprechend auffallen.  Brasilianische Soziologinnen verweisen nicht selten auf diesen problematischen Kontext.

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SchulenKugelhagel3
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Nordostmachismus3
Nordostmachismus4
Nordostmachismus5

Fotoserien.

Kuba:http://www.hart-brasilientexte.de/2015/01/12/kuba-menschen-gesichter-2/

Uruguay:http://www.hart-brasilientexte.de/tag/uruguay-tango-in-montevideo/

Chile:http://www.hart-brasilientexte.de/2012/12/29/santiago-valparaiso-puerto-montt-puerto-varas-etc-gesichter-in-chile/

Rußland:http://www.hart-brasilientexte.de/2015/07/02/russland-2015/

Brasilien:http://www.hart-brasilientexte.de/2011/01/18/sao-paulo-fotoserie-uber-brasiliens-megacity/

http://www.hart-brasilientexte.de/2015/10/31/gesichter-brasiliens-megacity-sao-paulo-2015/

http://www.hart-brasilientexte.de/2016/03/28/ouro-preto-2016-ostern-in-der-weltkulturerbe-barockstadt-brasiliens-fotoserie/

http://www.hart-brasilientexte.de/2011/01/17/piacabucu-an-der-mundung-des-rio-sao-francisco-in-brasilien-am-besten-mal-hinfahren-gesichter-brasiliens/

http://www.hart-brasilientexte.de/2010/02/21/schwarze-in-sao-luis-maranhao-gesichter-brasiliens/

http://www.hart-brasilientexte.de/2011/01/11/piranhas-essen-in-piranhasbrasilien/

http://www.hart-brasilientexte.de/2009/11/19/fisch-zerlegen-rio-negro-amazonien/

http://www.hart-brasilientexte.de/2011/04/06/osterprozession-in-tiradentes-brasilien/

http://www.hart-brasilientexte.de/2011/10/18/ballett-in-brasilien-bolshoi-in-joinville-fotoserie/

http://www.hart-brasilientexte.de/2015/10/30/aparecida-brasiliens-wichtigster-wallfahrtsort-2015-deutliche-zunahme-der-pilgerzahlen-in-letzten-jahren/#more-50247

http://www.hart-brasilientexte.de/2015/10/29/juedische-prostituierte-in-brasilien-der-einzige-denkmalsgeschuetzte-friedhof-juedischer-putaspolacas-der-zuhaelterinnen-und-zuhaelter-in-cubatao-fotoserie/

http://www.hart-brasilientexte.de/2011/11/27/zdf-adveniat-gottesdienst-in-favela-cachoeirinha-von-sao-paulo-2011-brasiliens-kontraste-fotoserie/

–Kein Musikunterricht an Brasiliens Schulen—fatale Folgen für Musikszene-
Während der Diktaturzeit wurde in Brasilien auch der Musikunterricht an den Schulen abgeschafft. 1985 endete das Militärregime, doch bis heute wurde das vergleichsweise gute Vor-Diktatur-Niveau an den öffentlichen Schulen nicht wieder erreicht, wurde auch der Musikunterricht nicht wieder eingeführt – trotz permanenter Forderungen von Musikexperten, Psychologen, Soziologen, die natürlich auf das Vorbild mitteleuropäischer Länder verweisen.
Die Folgen solcher Starrköpfigkeit und Verantwortungslosigkeit Brasilias sind zunehmend fataler: Kinder, Jugendliche ohne Stimmschulung durch Musiklehrer singen entsetzlich falsch und merken es nicht. Keineswegs ungewöhnlich, Heranwachsende zu treffen, die auf total verstimmten Gitarren spielen und dazu auch noch völlig schräge singen.

Ohne guten Musikunterricht keine Grundkenntnisse über klassische Musik, kein von klein an gefördertes Interesse daran, keine musikalische Sensibilität, kein Sinn für Echtes, für Qualität. Und dadurch mehr Anfälligkeit für billigste Wegwerfmusik, wie vom Musikbusiness gewollt. Das gilt auch für Deutschland.
Wird Brasiliens Populärmusik, werden Samba und Forrò schon in absehbarer Zeit im Museum landen, weil die global agierenden Musikkonzerne in dem Tropenland zunehmend nordamerikanische Rhythmen und Stile wie Rap und Hiphop durchdrücken und heimisch machen, den Musikgeschmack, die Hörgewohnheiten der Brasilianer verändern? Dori Caymmi, aus einer hochkarätigen Musikerfamilie Brasiliens, steht auf diesem Standpunkt.
„Was sich derzeit abspielt, ist sehr dekadent, unsere Musikkultur wird regelrecht demoliert. Als Resultat der Globalisierung sehe ich überall kulturelle Infiltration, unsere Musik verliert diesen typisch brasilianischen Charakter, man imitiert kulturell Minderwertiges. Hier in Brasilien wird doch alles aus den USA kopiert, unser Modell ist nordamerikanisch – die Fernsehprogramme, die Ideen, die Kleidung. Alles Neue kommt von dort – und zwar sofort!” Gewaltvideos und Killerspiele geradezu in Massen.
“Unsere Kultur ist heute eine nordamerikanische – aber eben leider die armselige von dort, die des ungebildeten Nordamerikaners. Was die Musikkonzerne jetzt in Brasilien durchdrücken, auch über Bestechung, große Korruption, das berüchtigte Jabaculè, ist entsetzlich kommerziell, selbst die Kultur unserer Schwarzen wurde bereits ausgetauscht – der Samba, die Sambaschulen kamen aus dem Takt. Ich denke, es gibt keine Zukunft mehr für unsere Musik. Echte brasilianische Musik wird bald im Museum landen. Die brasilianische Kultur verarmt generell.“

Auffällig ist, daß Dori Caymmi beinahe wie ein Rufer in der Wüste wirkt, niemand sonst auf die Barrikaden geht. “Ja, ich prangere diese Dinge offen an, all das, was hier hereinkommt – und dadurch verliere ich Sponsoren. Die sagen sich, den engagieren wir nicht, der ist unser Gegner. Meine Musikerkollegen verkneifen sich Kritik. Die großen Künstler Brasiliens, in ihrer Mehrheit, wollen keine Einkünfte verlieren, passen sich lieber an, loben diese Trends, die ich scharf verurteile.

Sprechgesang, Hiphop, Techno, überhaupt primitiv-monotone elektronische Musik hält Dori Caymmi für entsprechend armselig: “Die Leute hören heute Musik nicht mehr mit den Ohren, sondern mit dem Arsch. Die neue Musikergeneration hat keine Seele, singt simpel, mit wenig Emotion. Dieser neue Stil ist nicht mehr brasilianisch, wie der meiner Generation, ob Maria Bethania, Elis Regina oder Gal Costa.

Schriftstellerin Heloisa Seixas nach einer Deutschlandreise. ”Bei der Rückkehr in Brasilien packte mich das Gefühl, daß wir ein Land der billigen Trends und Moden sind. Ein nichtiges, belangloses Volk. Brasilien – dieses Land, das keine Bücher liest, aber wo fast alle ein Handy haben. Wir sind eitel. Wir wollen Botox im Gesicht und Silikon in den Brüsten. Auf den Straßen in Europa sieht man nicht diese Quantität an künstlichen Brüsten wie hier.”

Was brasilianische Kulturkritiker beunruhigt: Alle führenden Musiker und Komponisten der Musica Popular Brasilieira sind 70, 80 – doch niemand knüpfte  ansie an, entwickelte deren Stile weiter. Als ob alle Kreativität in den Sechzigern, Siebzigern, Achtzigern geendet habe, fragen sich viele.

Auf die Fußball-Lieder trifft genau dies zu. Just „Pra frente Brasil“, Vorwärts Brasilien, komponiert von Miguel Gustavo für die WM von 1970, mitten in der Diktaturzeit,  ist nach wie vor d i e Fußball-Hymne Brasiliens.

„Neunzig Millionen in Aktion“, heißt es da, denn damals hatte das Land soviele Einwohner – heute sind es rund 200 Millionen, die Bevölkerungsexplosion brachte Brasilien gravierende Sozialprobleme.

 

Noventa milhões em ação
Pra frente Brasil, no meu coração
Todos juntos, vamos pra frente Brasil
Salve a seleção!!!
De repente é aquela corrente pra frente, parece que todo o Brasil deu a mão!
Todos ligados na mesma emoção, tudo é um só coração!
Todos juntos vamos pra frente Brasil!
Salve a seleção!
Todos juntos vamos pra frente Brasil!
Salve a seleção!
Gol!

Nachfolge-Songs sind häufig heftig politisch unkorrekt. Immer wieder wird die „brasilianische Rasse“ besungen, gerühmt und gepriesen, ist von „Kraft der Rasse“ die Rede, wird mit „Rasse“ gestürmt, mit „Rasse“ gekämpft, gesiegt. Brasiliens Bestsellerautor Verissimo, im Nebenberuf Fußballexperte, erklärt solche Texte aus einer Zeit, in der man in Brasilien „ die Überlegenheit unseres Fußballs mit unserer Rassenmischung begründete, mit der natürlichen Elastizität der Schwarzen, ererbt vom früheren Zusammenleben mit Tieren Afrikas – all diese Dummheiten! Der Rest der Welt verlor, weil er eben diese unbeweglichen Hüften hatte. Und falls mal Brasilien gegen ein Team der harten Hüften unterlag, hatte man eben nicht brasilianisch gespielt, nicht auf Rhythmus und Beweglichkeit gesetzt. Solche Klischees überleben bis heute.“

Wenn demnächst die brasilianische Auswahl spielt, können sich deutsche Zuschauer bereits auf einen kurzen, prägnanten melodischen Schlachtruf der einheimischen Fans gefaßt machen:“Eu sou brasileiro, com muito orgulho e muito amor!(Ich bin Brasilianer, mit viel Stolz und viel Liebe!“)

 

Ballett-Star Richard Cragun in Rio de Janeiro (2004):

„Wir beide sind eigentlich verrückt, so etwas hier zu machen.” Die Stuttgarter Ballettlegende  –  neuer Start am Zuckerhut mit dem brasilianischen Choreographen Ricardo de Oliveira.

Morgens um zehn in der chaotischen, entsetzlich lauten City von Rio de Janeiro, das wunderschöne Theatro Municipal, der alten Oper von Paris nachempfunden, wie ein Fels in der Brandung, verkehrsumtost –  überragt von häßlich funktionalen Zweckbauten. Drinnen im Theatro die andere Welt des Richard Cragun, Idealist, wie er im Buche steht.

 

 

Der Korrepetitor greift in die Tasten, vor hohen Spiegeln proben Tänzerinnen, Tänzer – ein Augenschmaus – die Ballettmeister –  alles Russen, seit Cragun hier das Zepter übernahm. Er hätte in Europa, in Deutschland bleiben können –  warum gerade Brasilien?

”Da ist zuerst die große Beziehung durch Marcia Haydee, die berühmte brasilianische Ballerina, mit der ich verheiratet war sechzehn Jahre lang und auch in Stuttgart vierunddreißig Jahre mit ihr zusammen getanzt habe. Und durch diese Beziehung habe ich Brasilien  kennengelernt. Und eines Tages sage ich mir, wenn ich aufhöre zu tanzen, möchte ich nach Brasilien ziehen und und hier irgendetwas anfangen. Ich habe so viele, viele gute Jahre gehabt, durch London, Stuttgart, ich habe sehr hart gearbeitet, es war eine goldene Zeit. Diese ganzen Probleme hier –  das ist wie die andere Seite des Mondes. Ich muß auch das kennenlernen, um ein lebenserfahrener Mensch zu werden. Ich muß lernen, nicht nachzulassen, hier kein Selbstmitleid zu haben –  nur sagen, vorwärts, Cragun, vorwärts. Die hier wissen nicht, was sie tun. Man muß einfach sagen, okay, ich bin hier, euch zu helfen!”

Richard Cragun –  einst  gefeierter Stargast in  Rio de Janeiro –  seit zwei Jahren auf einmal Direktor dieses einzigen klassischen Balletts von Brasilien, des wichtigsten von ganz Lateinamerika. Ballettdirektor in einem Land der Dritten Welt, mit den entsetzlichsten Sozialkontrasten –  Nobelviertel der Weißen neben Slums, Schwarzenghettos. Dazu der  unerklärte Bürgerkrieg mit rund 55000 Gewaltopfern jährlich, mehr Getöteten pro Jahr als im Irakkrieg. Der Start in Rio wie böses Erwachen?

”Tolle Überraschung!”

Cragun meint es ernst und ironisch zugleich. ”Das brasilianische Volk hat ein außerordentliches Gefühl für Musik, Rhythmus, Tanz und Humor. Das sind wirklich Elemente, die man unbedingt braucht für eine Tanzkarriere. Was sie nicht haben, ist genügend klassisches Ballett. Die haben zwar verschiedene Schulen, aber die sind die letzten Jahre sehr heruntergekommen. Das System, die Ausbildung eines Tänzers sind sehr zurückgeblieben die letzten Jahre “ wie wohl überall in der Welt. Die große Epoche des Tanzes reichte von den 60er Jahren bis spätestens in die 80er Jahre, schon in den 90ern ging es bergab –  ziemlich stark.

Der Dirigent und Komponist John Neschling wechselte 1997  von Deutschland nach Sao Paulo, übernahm das heruntergewirtschaftete Sinfonieorchester der Metropole, initiierte eine regelrechte lateinamerikanische Klassik-Kulturrevolution –  durch Neschlings zähe Anstrengungen hat Brasilien, hat Lateinamerika erstmals in der Geschichte ein Orchester von internationalem Niveau, dessen CDs auch in deutschen Plattenläden stehen. Richard Cragun versucht das gleiche mit seinem Ballett in Rio, hat heute sehr ähnliche Probleme wie Neschling damals.

”Es ist wahnsinnig kompliziert. Viele Leute fragen mich, Cragun, warum bleiben sie hier, machen sie das immer noch. Vorauszuplanen ist leider nicht die Methode in Brasilien. In Deutschland planen wir manchmal zwei, drei, vier Jahre voraus,  weiß man, was in Berlin und Stuttgart dann läuft. Wir versuchen hier, für mein nächstes Programm diesen Oktober einen Sponsor zu finden. Zu finden! Wir haben noch keinen Sponsoren. Und durch diesen Sponsoren wird das finanziert.”

Die Gagen der Tänzer wenigstens werden pünktlich vom Bundesstaat Rio bezahlt –  umgerechnet zwischen achthundert und 1700 Euro –  doch dem Ballettdirektor selbst –  und sogar ausländischen Solisten, Choreographen bleibt man den Lohn monatelang schuldig. Wird deren Idealismus schamlos ausgebeutet?

”Ich soll eine feste Summe bekommen, aber zwei Monate schon wird mir nichts gezahlt. Und das ist viel, wirklich sehr viel. Ich kann das nicht mehr erlauben , daß die Versprechungen machen für Künstler des Auslands. Neulich, ich habe das erlebt, daß die erst fünf Monate nach der Premiere bezahlt haben. Was glauben sie, was ich für E-Mails bekommen habe aus Deutschland! Cragun, sie haben uns angelogen!  Ich sage Kinder, Kinder, das ist Brasilien. Deshalb bin ich wütend geworden, habe gesagt, ich will aufhören hier.”

Und –  kaum zu glauben, weil die Kulturbürokratie den Ballettdirektor einfach übergeht, fehlen den Tänzern immer wieder sogar die Schuhe.

”Die Schuhe waren zu spät bestellt von der Verwaltung –  warum, das Geld war noch nicht da. Die sagen manhamanhamanha. Es war zu spät, die Tänzer hatten keine Schuhe zur Vorbereitung, hat man also einige Vorstellungen abgesagt. Ich habe mich auf die Seite der Tänzer gestellt –  die können doch nicht ohne Schuhe tanzen!”

Doch Ärger, Streit hat Cragun selbst mit einem Teil des Ensembles –  bereits viel zu alt, weit über vierzig, doch unkündbar, mit Beamtenmentalität. Neueinstellungen fast unmöglich.

”Ich habe 91 Tänzer, und ich würde sagen, ungefähr 45, 48 kann ich einsetzen. Die anderen können nicht tanzen. Die kriegen ihr Geld, müssen ihr Training machen –  und das ist alles. Was kann ein Ballettdirektor mit diesen Leuten tun? Die bleiben nicht aus Bösartigkeit, haben ja keinen anderen Job. Aber jedes Jahr, das die Company älter wird, und kein frisches  Blut hinzukommt,geht es auf eine Katastrophe zu. Das ist der Tod jeder Company!”

Aus all diesen Gründen leere Häuser, böse Kritiken? Genau das Gegenteil, denn das Ensemble tanzt deutlich besser. Vor Cragun war Ballett nur ein Elitevergnügen, Eintrittskarten absolut unerschwinglich für die Masse jener, die Stundenlöhne um die fünfzig Cents umgerechnet bekommen. Cragun boxte durch, daß die Eintrittspreise halbiert werden –  manche Vorstellungen kosten gar nur 28 Cents. Auch deshalb volle Häuser, viel mehr Vorstellungen, erstmals sogar sehr viele Slumbewohner in dem noblen Theater mit dem Schriftzug „Goethe” an der Vorderfront. Slumbewohner, Arme ohne Bildung, ohne eine Idee von der Kunst des Balletts. Cragun macht daher dasselbe wie Dirigent Neschling in Sao Paulo, spricht zum Publikum, ”…um denen beizubringen, um was es geht. Ein bißchen Kunsthistorie.  Ich rede mit ihnen, lade ein paar auf die Bühne, damit sie einen Spitzenschuh anfassen können. Oder ich spreche mit der Tänzerin Ana Botafogo. Das ist enorm erfolgreich, man muß nur in die Gesichter schauen.”

Die zierliche Ana Botafogo –   beste, auch populärste Solistin des Theatro Municipal. Sie betont vor allem den Qualitätssprung durch Cragun.

”Für uns ist er ein Geschenk –  wenngleich er sehr viel fordert, sehr hohe Ansprüche an uns hat. Er will Technik u n d Seele, setzt besonders auf die Interpretation. Cragun gibt uns sehr viel Sicherheit, weil er ja selbst Tänzer war, und weiß, wie unser Leben ist, unser Alltag. Cragun hat einfach sehr gute Ideen. Durch ihn wurde unser Theatro Municipal auf einmal weltweit bekannt “ alle Welt weiß, daß hier in diesem so fernen Brasilien derzeit etwas Wichtiges, Großes passiert. Cragun leidet sehr unter dieser Bürokratie, diesen Geldproblemen. Denn manchmal denkt er noch, er sei in Deutschland, wo doch im Vergleich zu hier alles funktioniert. Er muß verstehen, daß er jetzt in Brasilien ist.”

Immer wieder Übernahmen aus Stuttgart –  darunter den Onegin, von John Cranko.

Und schon wirbt man Cragun Tänzer ab –  etwa ans Royal Ballett in London. Das zählt für ihn ebenso wie Stuttgart, Leningrad, New York zu den A-Kompagnien, zur Weltspitze.

”Ich zähle unsere am Theatro Municipal zur B-Kategorie, die sind noch nicht auf dem A-Level, aber die machen gute Fortschritte, die sind sehr professionell. Neulich sagte einer: Die Staatsoper in Berlin ist gar nicht besser wie das hier. Das waren Ballettouristen aus Deutschland.”

Richard Cragun ärgert sich über den Rassismus in Brasilien –  und attackiert ihn sogar im Theater. “Natürlich gibt es Rassismus – und manchmal ist er sogar sehr stark.” Erstmals in der Ballettgeschichte Brasiliens gibt er einem Schwarzen eine Hauptrolle –  dem einzigen Nicht-Weißen in seinem Ensemble. Jener Bruno Rocha tanzt den Albrecht im Ballett Giselle, als Partner von Ana Botafogo.

”Es war ein Riesenerfolg –  er war der erste Schwarze in der ganzen Geschichte von Brasilien und dem Theatro Municipal “ in fast hundert Jahren. Man fragte mich vorher, warum haben sie ausgerechnet einen Schwarzen da eingesetzt. Ich habe gesagt, ja, ist der schwarz –  ich habe das nicht bemerkt. Der ist ein toller Tänzer, der ist elegant, der hat alle Fähigkeiten –  daß der schwarz ist, oder grün oder blau, das ist mir egal. So habe ich darauf reagiert.”

Und Bruno Rocha?

”Damit wurde sozusagen ein Tabu gebrochen –  denn nie hat ein Schwarzer hier eine Hauptrolle getanzt. Erst seit ich Solist hier bin, fühle ich mich gleich wie die anderen hier, glaube ich an mich.”

Nachmittags wechselt Cragun im Sauseschritt vom noblen City-Opernhaus ins arg heruntergekommene Hafenviertel, in einen dunklen früheren Lagerschuppen. Wieder intensive Proben, ein Korrepetitor.

Craguns zweiter Arbeitsplatz –  abgewetzt, extrem simpel und provisorisch eingerichtet, Lärm der Hafenstraße dringt herein. Das DeAnima-Ballett für zeitgenössischen Tanz –  vor zweieinhalb Jahren hat er es mit dem Brasilianer Roberto de Oliveira gegründet, zuvor Solotänzer und Hauschoreograph in Stuttgart. DeAnima hat sechzehn feste Bailarinos, Bailarinas “ im angeschlossenen Sozialprojekt zusätzlich zweihundert Talente aus den Slums, zu 99 Prozent Schwarze. Sprach-und Informatikkurse, für die Zeit nach dem Tanzen.  Probleme, weit komplizierter als im Theatro Municipal. Präfekt Cesar Maia hatte Cragun und Oliveira nach Rio eingeladen, DeAnima sollte die offizielle Tanzkompagnie der Zuckerhutstadt sein, finanziert von der Präfektur. Doch schon bald kommt kein einziger Centavo mehr.

„Für mich eine sehr große Enttäuschung “ alles war von einem Tag auf den anderen futsch.”

Die Rettung kommt kurioserweise aus Deutschland.

”Das ist der Witz, und ich bin dermaßen froh und dankbar. Deutsche Sponsoren, die Firma Bosch. Wir haben auch von Siemens in Deutschland Geld bekommen. von der Birgit-Keil-Stiftung.”

Wenigstens schlossen sich zwei Stiftungen Rios an. Roberto de Oliveira –  Star der Stuttgarter Bühne, hochgelobt von den deutschen, europäischen Ballettexperten. Doch hier werden der Choreograph und sein DeAnima-Ballett von der Tanzszene, den anderen freien Gruppen der Zehn-Millionen-Stadt extrem negativ empfangen, von den Medien, in denen die Gegner stark sind, mit furchtbaren Kritiken niedergemacht. Oliveira,  DeAnima werden als lästige Konkurrenz behandelt, die nicht hochkommen soll. Craguns, Oliveiras Biographie zählt hier nur wenig.

”Wir beide sind eigentlich verrückt, so was hier zu machen. Manchmal denke ich, ach, ich packe jetzt meine Koffer und kehre zurück nach Europa. Ich denke das oft bis heute. Die Situation hier ist kompliziert, nicht so einfach, wie ich dachte. Die Atmosphäre in Brasilien ist sehr wenig kreativ heute. Selbst die Ballettkompagnie Grupo Corpo, die wichtigste von Brasilien, bringt nur alle zwei Jahre ein neues Stück heraus. Wir haben dagegen schon 28 Stücke im Repertoire, zweieinhalb Jahre nach der Gründung. Wir haben einfach die europäische Mentalität mitgebracht. In Stuttgart hatten wir jährlich drei Premieren, vier Wiederaufnahmen, dort produziert man viel, schafft man viel Neues. Ich glaube, Brasilien ist in vielen Dingen noch ganz am Anfang, man ist neidisch, engstirnig, kleinlich. Doch das Schlimmste haben wir hinter uns, jetzt stabilisieren wir DeAnima. Und stopfen unsern Gegnern den Mund –  erst jetzt wird unsere Qualität langsam anerkannt. Jetzt sehen es die Leute!”

Immer wieder stoßen Talente aus den mehr als 800 Rio-Slums hinzu.

”So unglaublich es klingt, von Richard Cragun hörte ich erstmals, kurz bevor ich hier als Fester anfing”, sagt Marcus Dias aus Brasilia. „Der hat keine Starallüren, der mag dieses Land, tanzt sogar Samba. DeAnima fordert viel, holt viele neue Choreographen, wie keine andere Ballettkompagnie hier “ phantastisch für uns.”

”Hier werde ich nicht reich, aber eine Persönlichkeit”, urteilt der Schwarze Claudio Cardoso.  „Viele meiner Freunde sind zu den Banditen gegangen, alle schon tot. Roberto und Richard zeigen uns hier Alternativen, andere Perspektiven.”

”Nur durch Roberto habe ich überhaupt entdeckt, daß ich Ballett mag, daß mir das liegt”, meint Thiago de Silva   aus dem Slum Vila de Joao, „ich will Tänzer und Choreograph werden. Falls ich hier keine Anstellung kriege, versuche ichs eben im Ausland –  dort schätzt man ja Kultur viel mehr als hier. Immer diese Schießereien in Vila de Joao finde ich furchtbar.”

Drei Schwarze, mühsam ausgebildet, wurden bereits für sehr gute Gagen nach Europa abgeworben, zwei davon sogar nach Deutschland –  stets ein Verlust für uns, ein Jammer, wie Cragun beklagt.

Roberto zeigt auf zwei hochbegabte Jungen “ deren Brüder sind Killer, die Mutter ist Prostituierte.

”Oft können wir mit Slumjugendlichen nicht arbeiten, weil die Gangsterkommandos es verbieten. Für ein Ballett im Theatro Municipal hatte ich für vierzig Leute Gratiskarten besorgt. Doch niemand kam! Die Gruppe war in ein Feuergefecht rivalisierender Banditenmilizen geraten, alle wären um ein Haar erschossen worden. Und sowas passiert hier viel! Unsere Jugendlichen leben wie in einem Parallelstaat, unter einer Parallelmacht! Deshalb ist unser Sozialprojekt so wichtig. Aber für all das braucht man  viel Idealismus, Selbstvertrauen, Beharrlichkeit, unendlich viel Geduld…”

Mit der Zeit bemerkt Cragun, daß man am Opernhaus seinen Idealismus auf absurdeste Weise ausbeutet, Projekte sabotiert. Rio de Janeiros Opernhaus hatte das unverschämte Glück, einen der fünf besten, wichtigsten Tänzer des gesamten zwanzigsten Jahrhunderts, als Ballettdirektor engagieren zu können – nutzte diese Chance indessen nicht, kein Einzelfall in Brasilien. Cragun kündigt: “Ich habe es einfach satt, es geht nicht mehr – angesichts von Inkompetenz und Fehlplanung in diesem Haus. Ich habe acht Ballette absagen müssen. Ich konnte nicht ein einziges Mal eine Produktion mit unterschriebenem Vertrag anfangen. Das alles bedeutet für den Ballettdirektor einen Streß, du glaubst es nicht.” Als es um die Aufführung des Dornröschen-Balletts von Tschaikowsky geht, möchte die zuständige Kulturfunktionärin wissen, wer eigentlich die Musik geschrieben habe. “Und wieviel müssen wir dann Herrn Tschaikowsky für die Aufführungsrechte bezahlten?”, wird Cragun gefragt. Wie Neschling in Sao Paulo hat er auch Probleme mit brasilianischen Gewerkschaften, eine ganz besondere Sorte. “Es ist teilweise zum Weinen hier. Ein Tänzer ist immer wieder kurz vor einer Vorstellung besoffen. Er fehlt bei Proben, ruft aus Sao Paulo an, daß er nicht kommen könne, weil der Hund krank ist. Der Tänzer hat immerhin eine Hauptrolle!” Cragun will ihn entlassen, doch die Tänzergewerkschaft setzt per Anwalt durch, daß er bleibt, die wegen der Probenausfälle gestrichenen Gagen dennoch bekommt. Cragun steht da wie ein Hampelmann, ohne Autorität. “Das System blockiert sich selbst.”  Die mittelmäßige, provinzielle Tanzszene Rios macht weiter auch über die wichtigsten Medien gegen DeAnima mobil – Intrigen, absurd schlechte Kritiken, Verleumdungen. “Das ist eine Mafia, ein Komplott. Die wollten mich hier nicht haben, die wollten DeAnima nicht.” Typisch Brasilien – Cragun und Oliveira werden nicht als Bereicherung empfunden, sondern als lästige Gegner, Konkurrenten. Denn beide hätten Qualitätsmaßstäbe gesetzt, an denen alle Tanzkompagnien Brasiliens, Rios künftig gemessen würden. Oliveira sagt:”Die Athmosphäre in Brasilien ist sehr wenig kreativ, man ist neidisch, engstirnig, kleinlich, will keine Ausländer. Die Situation ist kompliziert, nicht so einfach, wie ich dachte. Ich denke oft, ach, ich packe meine Koffer und gehe zurück nach Europa.” Auch Cragun, inzwischen in Rio überfallen und ausgeraubt worden, ist skeptisch:”Die hier haben nicht die Klugheit, die Tanzszene attraktiv zu machen. Die Leute in Europa werden die hier einfach auslachen und sagen, das gibts doch nicht, das ist nicht diskutabel.”

Richard Cragun(1944-2012) – eine außergewöhnliche Persönlichkeit – sinnlich und hochsensibel.

Cragun sprach gegenüber O Globo auch über seine Bisexualität, die zur Trennung von Marcia Haydee geführt habe. Cragun habe ein Verhältnis mit dem Masseur des Stuttgarter Balletts gehabt – was die Trennung bewirkte. “Vier Monate tanzten wir nicht mehr zusammen. Bis sie sagte: Ricky, ich habe Sehnsucht, wieder mit dir zu tanzen. Laß es uns versuchen. Marcia ist meine beste Freundin und die Frau meines Lebens.”

Brasilien gilt als größtes bisexuelles Land der Welt.

Roberto de Oliveira in Website-Interviews:  “Wir haben die europäische Mentalität mitgebracht. Dort produziert man viel, schafft man viel neu. Das hängt von einem kulturellen Apparat ab, der in Brasilien leider nicht existiert. Der Brasilianer ist sehr neidisch, sehr kleinlich, wenn es darum geht, die Arbeit, das Talent anderer anzuerkennen…Wir mußten unser Sozialprojekt schon dreimal stoppen, weil das Geld fehlte. Die Präfektur hat uns im Stich gelassen – das war das Problem. Der Präfekt ist leider eine Person mit dem denkbar schlechtesten Charakter, er lügt. Das schuf für uns eine sehr komplizierte Situation. Das Problem hier ist auch die Desinformation. In Brasilien wird die Kultur in Sao Paulo gemacht. Ich arbeite hier nur, weil ich an das glaube, was ich hier schaffe. Und das hat für mich keinen Preis. Unsere berufliche Vergangenheit interessiert hier nur sehr wenig. Tanzen – da überträgt ein Körper die Geheimnisse des anderen Körpers – das ist für mich etwas Spirituelles.”

Gilberto Gils Amtszeit als Kulturminister – eine grausige Bilanz für Brasilien. Befreiungstheologe Frei Betto wandte sich öffentlich gegen Ernennung.

Musiker Dori Caymmi: Brasiliens Kultur verarmt generell

Würde Deutschlands Kulturstaatsminister die klassische Musik, das reiche musikalische Erbe links liegenlassen, oder schlimmer noch, boykottieren, wäre er vermutlich binnen kurzem geliefert, seinen Posten los. Und wäre er ein gewiefter schwerreicher Musikunternehmer, mit einschlägigen Interessen in der Popbranche, hätte er aller Wahrscheinlichkeit nach in einem recht zivilisierten Land wie Deutschland den Posten gar nicht bekommen.In Brasilien, der immerhin zehntgrößten Wirtschaftsnation, die nach wie vor von extremen neoliberalen Sozialkontrasten, Analphabetismus, gravierenden Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Sklavenarbeit und neofeudalem Terror der Banditenmilizen gegen Slumbewohner, über 50000 Morden jährlich gezeichnet ist, gehen indessen auch im Kulturbereich die Uhren völlig anders. Entgegen den Warnungen zahlreicher Intellektueller und Künstler ernannte Bankiersliebling Lula vor vier Jahren den Popmusikmillionär Gilberto Gil, gelernter Firmenadministrator vom Multi Gessy-Lever, Popunternehmer und PR-Talent, zu seinem Kulturminister – selbst in deutschen Medien wurde das beklatscht.

Die Kritiker in Brasilien verwiesen auf Gils traditionell enge, freundschaftliche Kontakte zu rechtsextremen Diktaturaktivisten wie Bahias Ex-Gouverneur Antonio Carlos Magalhaes. Oder auch auf Gils aktive Unterstützung für Staatschef Lulas Amtsvorgänger Fernando Henrique Cardoso, gemäß internationalen Tribunalen politisch hauptverantwortlich für Massaker an Landlosen sowie andere barbarische Menschenrechtsverletzungen. Gil wird vorgeworfen, zu all dem geschwiegen zu haben – als typischer Opportunist, der für seine teils von der eigenen Frau geleiteten Firmen ja bereits viele Millionen Staatsknete, Subventionen eingesackt habe. –„geringes“ Ministergehalt— Gleich zu Beginn der Amtszeit regte sich Gil über das „geringe“ Ministergehalt auf, was selbst in seinem Heimatteilstaat Bahia Schlagzeilen machte. Das Salär betrug immerhin das Vierzigfache des damaligen brasilianischen Mindestlohns. Gil – privat drei Ehen, sieben Kinder – ist ohne Zweifel ein talentierter Musiker, Komponist und Sänger – nicht wenige in Brasilien hören dessen Hits heute jedoch nur noch mit zwiespältigen Gefühlen, angesichts seiner Ministerbilanz. In vierjähriger Amtszeit wurde die Kultur des Tropenlandes weiter „entbrasilianisiert“, wurden die kommerziellen Megatrends der internationalen Musikkonzerne, darunter Rap, auch extrem sadistischer Gangsta-Rap, Hiphop und Reggae, indessen spürbar favorisiert. Beispiel Karneval in Rio 2008: Noch vor wenigen Jahren kannte fast jedermann die neuesten Karnevalssambas, sang sie bei der berühmten Parade mit, tanzte dazu.  Vorbei. Heute wird die Parade von den allermeisten konsumiert wie ein Konzert mit Folklore vergangener Zeiten. In den Diskotheken an der Paradestrecke wird Rap und HipHop aufgelegt, stört bereits viele der Samba von draußen. ”Gilberto Gil möchte den HipHop als Ausdrucksform Jugendlicher in den Slums gesellschaftlich akzeptabel und massentauglich machen”, heißt es in einer deutschen Zeitschrift. Auch zum Schaden der mehreren Dutzend Sinfonieorchester des Tropenlandes, überhaupt der genuinen brasilianischen Musik, wie ihm seine Kritiker vorwerfen. Nach mehreren  Jahren Gil-Amtszeit ist Brasilien noch weniger Sambaland, Bossa-Nova-Land als zuvor: Deutlich weniger Brasilianer hören, spielen Samba – und schlimmer noch – viel weniger können ihn überhaupt tanzen. Sambaschwoofs waren noch in den siebziger, achtziger Jahren ein kulturelles Massenphänomen des Nachtlebens der Großstädte und des Hinterlands. Heute sind die Chancen, irgendwo Samba, Bolero oder Forrò tanzen zu können, in Brasilien stark geschrumpft, nur eine ständig geringer werdende Minderheit kann überhaupt noch die Schritte. Außergewöhnliche Tanzprofessoren wie Jaime Aroxa oder Philip Miha halten, so verrückt es scheint, mit enormem Kraftaufwand mühselig am Leben, was vielen in Europa als typisch brasilianisch gilt. Zouk-Experte Philip Miha in Sao Paulo:“Wir bekommen keinerlei kulturelle Förderung – es gibt dafür bei denen oben einfach kein Interesse, Null, nichts. Alles lebt nur von unserem Idealismus. Die Zahl jener, die in Brasilien überhaupt noch tanzen können, ist trotz stark gewachsener Bevölkerungszahl nicht größer geworden, sondern kleiner.“ Danke, Gil.

–Immer weniger Sambaland—

Auf den Sambaschwoofs nahm niemand Drogen, kam es nie zu brutalen Schlägereien. Jetzt erlebt Brasilien einen Boom von Raves, auf denen auch deutsche DJs auflegen. Drogen aller Art werden dort massenhaft konsumiert, die Raves schufen einen neuen, zusätzlichen Rauschgiftmarkt – oder wurden extra dafür geschaffen. Massenschlägereien mit Toten, Schwerverletzten machen regelmäßig Schlagzeilen. Von den „Bailes Funk“ mit sexistischen, sadistischen Raps ganz zu schweigen. Im Dezember 2006 ließ sich Gil in der Megacity Sao Paulo überraschend auf dem ersten Seminar der brasilianischen Sinfonieorchester blicken, die fast durchweg mit enormen existentiellen Problemen zu kämpfen haben und deshalb in dem riesigen Drittweltland auf Vorschlag von John Neschling einen nationalen Orchesterverband gründeten. Minister Gil schlug bei seinem Kurzauftritt unverhohlene Kritik und Skepsis entgegen. Die hatte zuvor bereits Dirigent John Neschling auf den Punkt gebracht, der in Sao Paulo seit 1997 Lateinamerikas bestes Sinfonieorchester leitet. Sein Orchestra Sinfonica do Estado de Sao Paulo(OSESP) ist heute für Brasiliens Kulturszene so wichtig wie die Berliner Philharmoniker oder das Gewandhausorchester Leipzig für Deutschland. Zahlreiche CDs, die Neschling mit dem OSESP für das Label BIS aufnahm, stehen auch in deutschen Geschäften. “Ich finde, daß unser Kulturminister heute nicht besonders famos die brasilianische Kultur vertritt. Wenn man sich anschaut, was 2005 im Brasilienjahr Frankreichs gezeigt wurde, ist man nicht gerade angetan. Sehr viel der brasilianischen Kultur und Kunst wurde nicht in Frankreich gezeigt. Wir machen unsere Arbeit hier so gut wie möglich – ich glaube nicht, daß sie von unserem Kulturminister sehr geschätzt wird. Er hat ja keinen Bezug zur klassischen Musik. Und selbst als Musiker nicht, hat sich auch sehr wenig dafür eingesetzt. Er ist ein großer Popmusiker, ein Star in der Welt der Popmusik, betreibt als Minister just jene Kultur, die er für gut hält. Und als ich gesehen habe, daß es so ist, habe ich gesagt, wir machen unseren Weg alleine, ohne Kulturministerium. Wir wollen einfach zeigen, daß in Brasilien die Möglichkeit besteht, ein ganz erstklassiges Welt-Sinfonieorchester zu führen, daß wir ein Publikum dafür haben. Und gute Musik, die hier komponiert wurde vom 18. Jahrhundert an bis heute: Von 1708 an gibts brasilianische Musik, die erstklassig ist.“ Das Brasilien-Jahr in Frankreich hatte nicht zufällig den ironischen Beinamen „Ano do BraGil na França“ –Protokoll, Monolog, umstrittene Copa der Kulturen— Gerade kam Neschling mit dem OSESP von seiner zweiten umjubelten USA-Tournee zurück, erntete hervorragende Kritiken. Im März 2007 führte eine große Europatournee  auch nach Deutschland. Alles einmalig für ein lateinamerikanisches Orchester. Die internationale Anerkennung ist da, Minister Gil kommt um diesen gewichtigen brasilianischen Kulturbotschafter aus Sao Paulo nicht mehr herum. Auf dem Orchesterseminar las Gil vom Blatt sogar etwas Selbstkritik ab, die nicht nur für Deutschlands Klassik-Experten, gar Kulturstaatsminister Neumann, kurios und exotisch klingen dürfte. “Vor vier Jahren hatten wir keine Politik für die klassische Musik – und bis heute sind wir in diesem Bereich nur sehr wenig vorangekommen. Ja, wir müssen den Forderungen der Sinfonieorchester Aufmerksamkeit schenken, denn ohne Zweifel haben viele von ihnen derzeit große Probleme. Der Staat muß den Orchestern helfen, das Kulturministerium ist sich der Dringlichkeit bewußt. Eine systematische Orchesterpolitik ist nötig. Und hoffentlich wird dieses Seminar unseren Dialog verbessern. Die Orchester müssen zugänglich sein für alle, die ihre musikalische Sensibilität kultivieren wollen.“ Kurz darauf stand er auf und verließ mit seinen Beratern den Saal. Unverständnis, Kritik daher auch bei bei dem Dirigenten Ricardo Rocha aus Rio de Janeiro, der seine Ausbildung in Deutschland gemacht hatte. Rocha sagte, der Minister habe bei der Copa der Kulturen, dem umstrittenen brasilianischen Kulturprogramm anläßlich der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland, viel kommerziellen Mist gezeigt, unerträgliche Brasilienklischees gefördert, statt beispielsweise auch Hochkarätiges aus dem Bereich der brasilianischen Klassik zu präsentieren.

“Gil fehlt dafür Interesse – er hat nichts gemacht. Wo sind die Leute vom Kulturminister jetzt? Sie sind weggegangen. Er hätte vielleicht einen Repräsentanten hierlassen müssen. Es gibt niemand mehr – das ist die Realität. Nur Protokoll, Monolog, aus. Für die Copa der Kulturen haben wir ein riesiges Projekt entworfen und ans Ministerium geschickt. Erfolglos. Brasilien wurde repräsentiert mit Populärmusik, die lediglich für einen Teil unserer Kultur steht. Soviele Klischees, soviel Mist – ich kann das nicht mehr ertragen. Das repräsentiert uns nicht. Brasilien ist nicht nur das. Sie machen einfach nichts.“ Bei der Copa der Kulturen, die kurioserweise Brasiliens populärstes Genre, nämlich Sertaneja, ausschloß, wurden auch im Berliner Haus der Kulturen der Welt einige große Namen wie Chico Buarque präsentiert – Kritik richtete sich vor allem gegen Figuren aus der einschlägig bekannten DJ-und Baile-Funk-Szene Brasiliens. –Kein Musikunterricht an Brasiliens Schulen—fatale Folgen für Musikszene- Während der Diktaturzeit wurde in Brasilien auch der Musikunterricht an den Schulen abgeschafft. 1985 endete das Militärregime, doch bis heute wurde das vergleichsweise gute Vor-Diktatur-Niveau an den öffentlichen Schulen nicht wieder erreicht, wurde auch der Musikunterricht nicht wieder eingeführt – trotz permanenter Forderungen von Musikexperten, Psychologen, Soziologen, die natürlich auf das Vorbild mitteleuropäischer Länder verweisen. Selbst Bischöfe, Kardinäle argumentieren, ein niedriges Bildungsniveau sei beabsichtigt, weil man dadurch die Menschen besser manipulieren könne. Die Folgen solcher Starrköpfigkeit und Verantwortungslosigkeit Brasilias sind zunehmend fataler: Kinder, Jugendliche ohne Stimmschulung durch Musiklehrer singen entsetzlich falsch und merken es nicht. Keineswegs ungewöhnlich, Heranwachsende zu treffen, die auf total verstimmten Gitarren spielen und dazu auch noch völlig schräge singen. Haben alle im Tropenland dennoch das berühmte brasilianische Rhythmusgefühl? Keineswegs, man merkts auch auf den Sambaschwoofs. Gil interessiert all derartiges nicht – obwohl Musiker, hat er den dringend nötigen Musikunterricht nicht durchgesetzt. Triste für Dirigent John Neschling, daß aufgrund solcher Kulturpolitik gute brasilianische Konzertmusiker kaum noch zu bekommen sind. Wenn sich nichts ändere, gebe es in zehn Jahren in seinem Orchester keine exzellenten Musiker des eigenen Landes mehr, da die entsprechende Ausbildung im Argen liege. „In den letzten zehn Jahren wurde kein Orchestermusiker bei uns eingestellt, der direkt von Universitäten oder Musikschulen kam. Alle hatten zwar hier studiert, danach aber zur weiteren Ausbildung ins Ausland gehen müssen. Hier in Brasilien läuft alles falsch. Man kann eben nicht einfach ins Musikfach überwechseln, nur weil man beispielsweise keinen Medizin-Studienplatz bekam. Man kann nicht erst an der Universität anfangen, Musik zu studieren, nicht erst mit achtzehn Jahren Violine lernen – das ist natürlich viel zu spät!“ Ein Nebeneffekt – manche Sinfonieorchester spielen deutlich falsch, was indessen kaum einer, mangels geschulten Gehörs, merkt. –Klassische Musik – Wegwerfmusik— Ohne guten Musikunterricht keine Grundkenntnisse über klassische Musik, kein von klein an gefördertes Interesse daran, keine musikalische Sensibilität, kein Sinn für Echtes, für Qualität. Und dadurch mehr Anfälligkeit für billigste Wegwerfmusik, wie vom Musikbusiness gewollt. Das gilt auch für Deutschland. Achtzig Prozent des Publikums von Neschlings OSESP sind älter als fünfzig Jahre. 75 von 100 Personen aus der relativ hochgebildeten Mittel-und Oberschicht Brasiliens waren noch nie in einem Konzert mit klassischer Musik. Bei den unteren Schichten sind es 93 bis 96 von 100. Qualitätszeitungen wie „ O Estado de Sao Paulo“ betonen, daß nach vier Jahren Gil die klassische Musik in seinem Ministerium eine Lücke, ein schwarzes Loch sei. Das Ministerium privilegiere indessen musikalische Sektoren, die kommerziell nutzbar seien. Das Blatt lobt just das staatlich finanzierte „Sistema“ im Venezuela von Hugo Chavez als beispielhaft, das bereits hunderttausende Kinder an die klassische Musik herangeführt habe. 15000 Lehrer arbeiteten in Venezuela mit 140 Kinderorchestern, 125 Jugendorchestern und dreißig professionellen Orchestern. Simon Rattle, Claudio Abbado und Daniel Barenboim betrachteten das „Sistema“ als das beste, was der klassischen Musik in der Welt von heute passieren könne. Über monströse Korruptionsskandale in der Regierung von Hugo Chavez steht nichts in der Zeitung, über Stimmen-und Parteienkauf in Brasilien durch enge Gefolgsleute Lulas dagegen um so mehr. Hiesige Kommentatoren betonen immer wieder, daß in zivilisierten Ländern die Regierung über derartiges natürlich schon gestolpert wäre. Gemäß dem „O Estado de Sao Paulo“ sagte Gil in Genf am Rande einer Konferenz über geistiges Eigentum:“Ich bin zufrieden mit der Regierung.“ Die Praxis der Korruption sei systematisch, allgemein, das Probleme existiere in allen Regierungen und Ländern. Derartige Praktiken würden zwar verurteilt, dann aber von der Gesellschaft doch akzeptiert und toleriert. “O Estado de Sao Paulo” sprach daraufhin von einer “internationalen Blamage”, ausgerechnet vor einem Weltforum in der Schweiz.  Der Kulturminister zähle nunmehr zu den notorischen Verteidigern von Unredlichkeit, fehlender Ethik. Daß Gil für die Freigabe allen Rauschgifts, darunter Kokain, plädiert, sehen manche in diesem Kontext.

Vor rund zwei Jahren wurde in Brasilien heftig diskutiert, daß Kulturminister Gil und der damalige Arbeitsminister Ricardo Berzoini, heute eine Schlüsselfigur in den Regierungsskandalen, sich laut Presseberichten von gefürchteten berüchtigten Gangsterbossen den Besuch eines Rio-Slums genehmigen ließen, wie gefordert ohne Bodyguards, Polizeibegleitung hineinfuhren und damit die neofeudale Diktatur der Banditenmilizen über ihren Parallelstaat der Armenviertel sozusagen offiziell anerkannten. Immerhin terrorisieren diese Milizen des organisierten Verbrechens auf grausame Weise die Bewohner, köpfen und foltern, verbrennen auch gemäß den Aussagen des einst im Westberliner Exil lebenden Kongreßabgeordneten Fernando Gabeira regelmäßig sogar Menschen lebendig. Seit dem Beginn der Aggression gegen den Irak machen immer mehr beteiligte US-Soldaten an Rios Nobelstränden, vor allem Ipanema, “Fronturlaub”. In Rio de Janeiro besuchte Gil zudem die berühmte Sambaschule Mangueira, als dessen Vizedirektor und Chef der hundertköpfigen Perkussionsgruppe gerade vom lokalen Banditenkommando bestialisch umgebracht worden war. Doch der Minister verurteilte keineswegs , wie erwartet, den zunehmenden Druck des organisierten Verbrechens auf die Sambaschulen, sondern überging den Mordfall mit Schweigen, suchte befremdlicherweise Optimismus und Karnevalsvorfreude auszustrahlen. Gegenüber der Presse nannte er später die Hipocrisia, Scheinheiligkeit, ein Werkzeug zivilisierten menschlichen Umgangs  und notwendig für das menschliche Zusammenleben. Er selbst bediene sich der Hipocrisia häufig. Manche Kritiker sehen in Gil seit jeher einen fragwürdigen Opportunisten. Der Befreiungstheologe Frei Betto beispielsweise, einer der führenden Intellektuellen Brasiliens, war vehement gegen die Ernennung Gils zum Minister, wohl auch wegen dessen engen und freundschaftlichen Beziehungen zu rechtsextremen Diktaturaktivisten. Frei Betto hatte schließlich während des Militärregimes Jahre hinter Gittern verbracht, war gefoltert worden. -Killerspiele seit Jahren als direkte Anleitung zu sadistisch-perversen Gewalttaten- Kein Geheimnis, daß die Banditenmilizen bereits seit den achtziger Jahren begeisterte Fans von US-Killerspielen, US-Gewaltvideos sind, das dort Gezeigte, Praktizierte als Anregung nutzen und sadistisch-pervers an Slumbewohnern ausprobieren. In Großstädten wie Sao Paulo und Rio de Janeiro verbringen ungezählte Jugendliche einen beträchtlichen Teil der Freizeit damit, am Computer per Killerspiel jedesmal Tausende von Menschen sadistisch zu quälen, zu foltern und zu ermorden, Mädchen und Frauen zu vergewaltigen und ebenfalls zu töten. Die bereits erzielte Brutalisierung, Verrohung, Gewöhnung an Gewalt sowie Gleichgültigkeit gegenüber Gewalttaten wie in den Killerspielen erscheinen manchen nachdenklichen Brasilianern in der neoliberalen sozialdarwinistischen Gesellschaft als vom System politisch gewollt, da ebenso wie in Deutschland ernstzunehmende Gegenmaßnahmen ausbleiben, im Unterschied zu Mitteleuropa Politiker nicht einmal die üblichen Alibiappelle absondern, auch in Brasilien gemäß den Kritikern “Jugendschutz” in völliger Absicht nur auf dem Papier steht. Auf dem riesigen Raubkopienmarkt der Millionenstädte erhalten selbst Kinder unter zehn Jahren problemlos und spottbillig auch das perverseste Killerspiel, notfalls kauft es ihnen, wie in Deutschland bei Pornographie und anderen Gewalt und Perversität fördernden Produkten üblich, eben der nächste Erwachsene. Im Teilstaate Rio de Janeiro werden gemäß einer neuen Studie von 2006 nur 1,31 Prozent der Morde überhaupt aufgeklärt. Nicht zufällig ist die Mordrate Rios  etwa dreißigfach höher als die Deutschlands. Zu den bekannten Untaten solcher Milizen im betreffenden Slum „Complexo da Marè“ von Rio kein Wort von Gil oder Berzoini. Paulo Sergio Pinheiro, Experte für Gewaltfragen an der Universität von Sao Paulo, sieht durch die Ministervisite bestätigt, daß der brasilianische Staat große Teile seines Territoriums nicht mehr kontrolliert. Beide Minister hätten sich zudem im Slum von fünfzehn Männern unterstützen lassen, die just von den Gangstern ausgesucht worden seien: „All dies ist ein Skandal – geschähe derartiges in Berlin, Paris oder London, würde das im Parlament debattiert, würde die Regierung gestürzt.“ In der Tat – ein deutscher Kulturstaatsminister in solcher Situation – die Aufregung in Deutschland, in den Feuilletons wäre vorhersehbar. Im Falle eines Kulturministers Brasiliens, der in Deutschland erfolgreiche Konzerte gibt, wird dies natürlich anders gesehen, willfährige hochbezahlte Leute für Jubel-PR finden sich immer. Preta Gil, des Ministers aufmüpfige Tochter:“Die Polizei ist korrumpiert, die Regierung ist korrumpiert, alle sind doch verwickelt, das ändert sich nie mehr, ist zu tief verwurzelt.“ –”Stolz, ein Brasilianer zu sein”– An vielen Supermärkten der Millionenstädte steht draußen in großen Lettern und drinnen noch einmal über den Kassen unübersehbar: „Stolz, ein Brasilianer zu sein“. Woran erinnert einen doch gleich dieser Spruch? Auf manchen Waren, darunter gängigen Mineralwasserflaschen, steht aufgedruckt: „Das Beste an Brasilien ist der Brasilianer“. Die Flugzeuge der großen nationalen Luftlinie TAM tragen die Aufschrift: „Stolz, brasilianisch zu sein.“ Manches Trendige aus Brasilien wird von vielen in Deutschland freudig kopiert. Soll man hoffen, daß die Lufthansa oder andere deutsche Linien auf einen Spruch dieser Art an ihren Maschinen verzichten, ebenso die Supermärkte, Warenfabrikanten? Oder wäre vorstellbar, daß eine Supermarktkette eines Tages dem brasilianischen Beispiel folgt, den Satz in der gefürchteten Version an der Frontseite anbringt, sich der Chef gegenüber der Presse verteidigt:“Na und, wir sind Multikulti – übernehmen gerne Kulturelles auch aus Brasilien, was dagegen?“ Anfang 2007 kamen in Brasilien landesweit massenhaft Schreibhefte mit der Aufschrift “Stolz, ein Brasilianer zu sein” auf den Markt. Und wenn ein deutscher Schulhefteverlag künftig Analoges auf seine Produkte drucken läßt? Musiker Dori Caymmi meint indessen, patriotisch seien die Brasilianer nur im Fußball. –Dori Caymmi über Kulturverlust und kulturelle Gleichschaltung in Brasilien— Wird Brasiliens Populärmusik, werden Samba und Forrò schon in absehbarer Zeit im Museum landen, weil die global agierenden Musikkonzerne in dem Tropenland zunehmend nordamerikanische Rhythmen und Stile wie Rap und Hiphop durchdrücken und heimisch machen, den Musikgeschmack, die Hörgewohnheiten der Brasilianer verändern? Dori Caymmi, aus einer hochkarätigen Musikerfamilie Brasiliens, steht auf diesem Standpunkt. Er kritisiert Kollegen wie den Kulturminister Gilberto Gil und Caetano Veloso, weil sie nach seiner Auffassung sogar als Paten, Förderer nordamerikanischer Trends agieren. Noch in den achtziger Jahren gaben in Brasiliens Musikmetropolen Rio de Janeiro und Sao Paulo nationale Rhythmen wie Samba, Bossa Nova und Forrò den Ton an. Das scheint vorbei – selbst in den berühmten Sambaschulen tanzt die schwarzhäutige Jugend vor allem nach musikalisch sehr simpel bis primitiv gestrickten Klängen. Ein Hiphop-und Rockfestival folgt in Brasilien dem anderen, alle werden gewöhnlich von großen multinationalen Konzernen gesponsert. Die Zeitungen und das Fernsehen machen dafür massiv Werbung, berichten ausführlich. Motto: Wer dort nicht hingeht, wer diese Musik nicht mag, ist out. Festivals für Samba, Bossa Nova, Forrò? Fehlanzeige. Typisch brasilianische Rhythmen hört man im Alltag immer seltener, die Medien berichten kaum. Im Radio, in den TV-Musikkanälen gibt es gravierende, schleichende Veränderungen. –„Frischer Wind“ in der Musikszene?— Der Anteil in Brasilien produzierter Musik ist nach wie vor erstaunlich hoch, erreicht in den Musikmedien etwa achtzig Prozent. Indessen ist es immer weniger genuiner Samba oder feinster Bossa Nova, sondern Brazilian Rock, Brazilian Rap, Brazilian HipHop, Brazilian Techno, Brazilian Reggae, Brazilian Pop – zumeist banale Imitiationen der Vorbilder, die die Musikmultis liefern. Die Welt, so argumentieren seit langem brasilianische Komponisten, will von uns Originales, typisch Brasilianisches, keine Imitationen und Kopien – das könne man in den jeweiligen Herkunftsländern besser. Entsprechende Erwartungen an Minister Gil wurden bisher enttäuscht. Das massive Einpeitschen kommerzieller Megatrends mit allen Methoden moderner PR läuft häufig unter dem beliebten Motto „frischer Wind in der Musikszene“ – in Deutschland nicht anders.

Ein Alarmsignal auch für Dorí Caymmi, der zusammen mit Schwester Nana, Bruder Danilo und seinem Vater Dorival Caymmi Brasiliens Populärmusik um zahlreiche Klassiker bereicherte. “Was sich derzeit abspielt, ist sehr dekadent, unsere Musikkultur wird regelrecht demoliert. Als Resultat der Globalisierung sehe ich überall kulturelle Infiltration, unsere Musik verliert diesen typisch brasilianischen Charakter, man imitiert kulturell Minderwertiges. Das macht mich traurig. Brasilien ist nicht das einzige Opfer. Die Massenmedien nutzen nicht mehr unsere Kultur, informieren nicht mehr über sie. In Europa haben wir die beste klassische Musik der Welt, die größten Komponisten, verschiedene davon in Deutschland. Dort hat das Volk ein anderes Informationsniveau als hier, eine andere Reife, eine andere Bildung. Doch wir sind Dritte Welt, das Land ist riesig. Selbst der Teilstaat Cearà hat eine eigene Musik, dort gibt es eine andere Kultur. Doch heute tauschen wir Sao Joao, unser Junifest, für Halloween ein! Das ist ein gravierendes Problem der internationalen Kultur. Heute wird die unterschiedliche Kultur der Länder von den Medien zerstört. Hier in Brasilien wird doch alles aus den USA kopiert, unser Modell ist nordamerikanisch – die Fernsehprogramme, die Ideen, die Kleidung. Alles Neue kommt von dort – und zwar sofort!” Gewaltvideos und Killerspiele geradezu in Massen. “Unsere Kultur ist heute eine nordamerikanische – aber eben leider die armselige von dort, die des ungebildeten Nordamerikaners. Was die Musikkonzerne jetzt in Brasilien durchdrücken, auch über Bestechung, große Korruption, das berüchtigte Jabaculè, ist entsetzlich kommerziell, selbst die Kultur unserer Schwarzen wurde bereits ausgetauscht – der Samba, die Sambaschulen kamen aus dem Takt. Ich denke, es gibt keine Zukunft mehr für unsere Musik. Echte brasilianische Musik wird bald im Museum landen. Die brasilianische Kultur verarmt generell. Selbst unser Kulturminister Gil ist ein Apologet von Bob Marley.“ Am letzten Nationalfeiertag des Schwarzen Bewußtseins dominierte bei der Schwarzen-Demo in Sao Paulo HipHop, hochgepriesen. Und was die Bestechungsmethode „Jabaculè“, in den USA „Payola“, betrifft: Nach Gils Amtsantritt rückte Mitte 2003 Andre Midani, einer der mächtigsten multinationalen Musikmanager Brasiliens in den sechziger bis neunziger Jahren, ganz überraschend mit der Sprache heraus, wurde so zitiert: “Ich habe damals Jabaculè bezahlt, damit Gilberto Gil in den Radios gespielt wird.“ Laut Midani sind nur deshalb auch andere bekannte Namen des Bossa Nova, des Tropicalismo und des brasilianischen Rock groß herausgekommen. Als Zahlungsmittel seien in der Branche auch Rauschgift und Prostituierte üblich gewesen. Wie läuft das in Deutschland, wie wars im Kalten Krieg, wie ist es heute, wann packt mal einer aus, schreibts auf? Aber gab es in Brasilien nicht schon immer kulturelle Einflüsse aus den USA? „In den 50ern kam der Rock `n Roll, dann die Beatles – das mochten die Jugendlichen. Doch zur Ära der Beatles hatten wir hier Tom Jobim, auch meinen Vater Dorival Caymmi – meine Musikergeneration wuchs in dieser Zeit auf. Ich habe das selbe Alter wie Mick Jagger! Musik aus den USA wirkte sich jedoch nie zuvor hier so negativ aus wie heute. In der Dritten Welt ließ man das Volk ohne Kultur, ohne Optionen. Der Sohn des Reichen hat Arbeit, der des Armen hat nichts! Die Slums wachsen unaufhörlich. Erst brauchte man in Sao Paulo die Leute aus dem Nordosten, dann schob man sie weg, zahlt ihnen ein Mindestsalär von 350 Real, während ein Abgeordneter 15000 Real kriegt. Der Nordamerikaner hat all das entdeckt und an unseren Schwarzen-Peripherien HipHop, Rap eingeführt. In den Texten heißt es, schieße auf die Polizei, kille diesen weißen Misthund. Es gibt den Gewalt-Rap, verschiedene Rapper wurden schon ermordet. Hör dir die CDs von Brasiliens führendem Gangstersyndikat PCC an – da hörst du MGs rattern. Alles eine regelrechte Strafe für die brasilianische Gesellschaft. Was man da jetzt durchdrückt, erreicht eine Bevölkerung, die keine anderen Optionen mehr hat – sie hören nur das, lernen nur das. Die Kinder tanzen HipHop, niemand hört doch mehr brasilianische Musik.“ Auffällig ist, daß Dori Caymmi beinahe wie ein Rufer in der Wüste wirkt, niemand sonst auf die Barrikaden geht. “Ja, ich prangere diese Dinge offen an, all das, was hier hereinkommt – und dadurch verliere ich Sponsoren. Die sagen sich, den engagieren wir nicht, der ist unser Gegner. Meine Musikerkollegen verkneifen sich Kritik. Die großen Künstler Brasiliens, in ihrer Mehrheit, wollen keine Einkünfte verlieren, passen sich lieber an, loben diese Trends, die ich scharf verurteile. Das betrifft Kulturminister Gilberto Gil, für dessen erste Platte ich die Arrangements geschrieben habe. Ich meine, der Kulturminister sollte sich für die Erhaltung unserer Kultur einsetzen. Caetano Veloso hat jetzt eine Rockplatte veröffentlicht – für mich ist das eine Dummheit, ich kritisiere das. Caetano und Gil sind stets für jede neue Mode, spielen die Paten für Rio-Funk, Reggae – ich halte sowas für gefährlich.“ –Maria Bethania:“Gil hat in seiner Amtszeit nichts Konkretes gemacht“–

Leicht zu erraten, wen Dori Caymmi lobt: „Chico Buarque ist das größte Idol meiner Generation, ist ein Phänomen, eine Hoffnung. Meine Generation hat noch Edu Lobo, Francis Hime, Tonio Horta, Paulo Cesar Pinheiro, Leute wie mich. Unsere Sängerinnen – Elis Regina, Gal Costa, Maria Bethania, Clara Nunes, meine Schwester Nana – alles wichtige Persönlichkeiten, mit Seele.“ Maria Bethania, Schwester von Caetano Veloso, kritisierte Kulturminister Gil öffentlich:“Er hat in seiner Amtszeit nichts Konkretes gemacht.“ Dori Caymmi komponiert hochkarätige, komplexe Rhythmen, liebt die deutsche Klassik – Bach, Beethoven, auch Wagner. „Der ist absolut genial, Tristan und Isolde höre ich häufig, auch die Werke von Bach. Da sage ich mir, meu Deus, que Beleza! Ich war noch nicht in Deutschland, will aber demnächst dorthin, um den Boden meiner Idole zu betreten. Ich sage immer zu meiner Frau, laß uns Musik hören in einem zivilisierten Land. Deutschland zieht die Menschen an wegen Bach-oder Wagner-Festivals, wegen der Qualität seiner Musiker, Schriftsteller, Denker – all das hat Gewicht, dahinter steckt eine große Kraft. Wunderbare Leute wie Liszt – die haben uns doch geformt! Solche Geniusse wie die Europas haben wir nicht.“ Sprechgesang, Hiphop, Techno, überhaupt primitiv-monotone elektronische Musik hält er für entsprechend armselig, drückt es drastisch aus. “Die Leute hören heute Musik nicht mehr mit den Ohren, sondern mit dem Arsch. Die neue Musikergeneration hat keine Seele, singt simpel, mit wenig Emotion. Dieser neue Stil ist nicht mehr brasilianisch, wie der meiner Generation, ob Maria Bethania, Elis Regina oder Gal Costa. In den Sechzigern, zu den Zeiten von Joao Gilberto oder meinem Vater, sang man sanfter, sensibler, das prägte meine Generation. Selbst die Sphäre der Religion ist heute betroffen, indem man die Gospelmusik einführte. Sie singen, als wären sie Whitney Houston oder Maria Carey, nur auf Portugiesisch, kopieren die Nordamerikaner. Denn damit läßt sich unheimlich viel Geld machen. Ich sehe die Dinge wie ein Europäer, der sich fragt – ist das denn noch brasilianisch? Es wird noch schlimmer kommen, ich habe wirklich nicht viel Hoffnung. A coisa tà preta, wie Chico Buarque singt. All diese Phänomene tragen dazu bei, daß die Menschheit immer mehr verblödet, der Kulturverlust voranschreitet. “ –„Unsere Eliten interessiert nur Reichtum und Macht“— Chico Buarque sagte einmal im Interview, Brasiliens Elite sei zunehmend kulturloser, ungebildeter. „Klar, so ist es tatsächlich. Unsere Eliten interessiert nur Reichtum und Macht. Der Reiche teilt nicht. Er stellt zwar Leute ein, zahlt ihnen aber schändlich niedrige Löhne. Das haben wir von den portugiesischen Kolonialisten übernommen. Chico Buarques Vater sagte, der Brasilianer sei ein herzlich-inniger Mensch. Aber eben in dem Sinne, daß er die ganze Zeit auf die Birne kriegt und einfach nicht reagiert! Wenn man, wie hier unter der Collor-Regierung, etwa in Deutschland oder Frankreich den Leuten für Jahre die Bankguthaben einfröre, würde man Paris anzünden, Berlin niederbrennen. Hier nicht, hier geht man in die Kneipe und trinkt einen, klagt übers Leben. Das brasilianische Volk ist sehr unterwürfig, ohne Präsenz. Die Leute interessieren sich nicht mehr für Goethe. Neulich fragte mich ein Musiker im Hotel, Goethe, was hat der doch gleich gespielt? Da wirds schwierig. Das Problem ist, wir haben nicht die Reife der Europäer. Dieses Land ist nach über 500 Jahren zwar eine Republik, änderte sich aber nicht wirklich. Leute ohne Arbeit, mit Hunger, denen man immer wieder was verspricht. Nur Versprechen, Versprechen, Versprechen. In Brasilia verbrennt man diesen Indianer, aber die Täter kommen frei, alles endet in Pizza. Das ist hier keine Demokratie. In einer Demokratie wird man nicht zum Wählen gezwungen! Wählt man hier nicht, kriegt man keinen Reisepaß, keine Arbeit im öffentlichen Dienst – das ist doch keine Demokratie, sondern eine Diktatur, sehr elitär dazu. Brasilien ist im Grunde ein feudales Land – und Sao Paulo dessen Lokomotive. Ohne Bildung, ohne Gleichheit kommen wir da nicht raus. Was die brasilianische Musik betrifft, habe ich wirklich nicht viel Hoffnung.“ Nach wie vor nimmt in Brasilien im Grunde nur die Mittel-und Oberschicht am Kulturleben teil, frequentiert Kino, Theater und Konzerte, kauft Literatur. Für die übergroße Mehrheit der Brasilianer ist all dies auch wegen der absurd ungerechten Einkommensverteilung völlig unerschwinglich. Dabei ist das Tropenland von der 24-fachen Größe Deutschlands immerhin die zehnte Wirtschaftsnation des Erdballs – und ein hervorragendes Experimentierlaboratorium für neoliberale Politik. –Samba wird massakriert– Nei Lopes, einer der großen Sambakomponisten Brasiliens und zudem Schriftsteller, kritisiert ebenfalls die von den großen Musikkonzernen betriebene kulturelle Gleichschaltung. Lopes nennt “internationale Liedfestivals” der siebziger Jahre die bis dahin größten handstreichartigen Unternehmungen, um Brasiliens Musikkultur zu dominieren. Daraus sei der “Rock Brasil” hervorgegangen, was u.a. derartiges nationale Medienlob gefunden habe:”Brasiliens Musik war langweilig und zurückgeblieben gegenüber dem Rest der Welt. Die Rockmusik hat Brasilien aktualisiert, das Land internationalisiert.” Unter dem Primat der Globalisierung, so Lopes, erreichten diese “Internationalierungsanstrengungen” ihren Höhepunkt. “Die transnationalen Konglomerate attackieren in allen Formen und an allen Fronten, um Brasiliens Musik gleichzuschalten – nach dem Modell jung, reich und schön, das überall im kolonisierten kulturellen Universum bereits herrscht…” Gerade der Samba werde wegen seiner starken symbolisch-ästhetischen Inhalte immer wieder strategisch angegriffen. Samba sei eines der Hauptziele des von den internationalen Musikkonzernen angerichteteten Massakers. An diesem “Massaker” beteiligen sich auch in Deutschland nicht wenige pseudoprogressive Figuren der Musikmedien, die nicht zufällig schon seit Jahren guten brasilianischen Samba beiseiteschieben und stattdessen ganz im Sinne der Auftraggeber die bekannten “Megatrends” entsprechend mitteleuropäischen “Hörgewohnheiten” favorisieren. –Bankwerbung mit Gil-Hits— 2006 hörte man eine geradezu berühmte Komposition Gilberto Gils namens „Andar com Fè“ andauernd in Radio und Fernsehen. Gil hatte sie der größten brasilianischen Privatbank Bradesco für eine Werbekampagne zugunsten von Haus-und Autokrediten zur Verfügung gestellt. „Andar com Fè“ heißt sinngemäß übersetzt soviel wie „Gehen mit Glauben, mit Gottvertrauen“. Katholiken und Anhänger afrobrasilianischer Kulte sangen den Titel gerne bei ihre Messen. Jetzt war der Sinn ein anderer – Gehe mit Glauben in die Großbank Bradesco und vertraue deren Kreditangeboten. Die Regierung, zu der Gil gehört, sorgte für die welthöchsten Realzinsen, was den Spekulanten, aber auch Banken wie Bradesco Rekordgewinne beschert. 2008 rügt ihn indessen die dem Staatspräsidenten unterstellte Ethikkommission wegen geschäftlicher Beziehungen zur brasilianischen Privatbank Itaú streng. Denn Gil hatte auch dieser für Werbezwecke gegen klingende Münze eine Komposition überlassen, obwohl sein Ministerium auch über Projektsubventionen, Kooperation und Steuererleichterungen für das Itaú-Kulturinstitut entscheidet. Gil wurde ermahnt, künftig privat Geschäftskontakte zu vermeiden, die ministerielle Zuständigkeiten tangierten. Marco Antonio Villa, Schriftsteller und Geschichtsprofessor an der Bundesuniversität von Sao Carlos, nennt in Brasiliens größter Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“ die fehlende Trennung zwischen öffentlichen Angelegenheiten und privaten Interessen ein Charakteristikum der von Korruptionsskandalen geschüttelten Lula-Regierung. Ein gutes Beispiel dafür seien die Aktivitäten von Gilberto Gil, der das Ministerium in sein persönliches Sprungbrett verwandelt habe. Von guter Kulturpolitik sei indessen nichts zu sehen. „Beklagenswerterweise hat das Kulturministerium kein Projekt für eine Kulturpolitik dieses Landes. Es verfolgt indessen ein persönliches Projekt – und das ist erfolgreich, sehr erfolgreich.“ Für 2008 hat Gilberto Gil seinen Rücktritt angekündigt. Als im Jahr zuvor wegen fehlender Staatsmittel eine Übernahme des Jorge-Amado-Nachlasses durch die Harvard-Universität droht, wirft Joao Ubaldo Ribeiro, der nach Paulo Coelho in Europa meistgelesene lebende Autor Brasiliens, dem Kulturminister öffentlich vor, die Amtspflichten zu verletzen. Schon im Titel einer seiner vielgelesenen Wochenkolumnen erinnert ihn Ribeiro an Amados unschätzbare Verdienste, auch bei der Pflege künstlerischen Nachwuchses: “Gil, ohne Jorge wärst du vielleicht nur eine Hypothese.”

Prof. Dr. Roberto Albergaria, Anthropologe, Machismusexperte.

Brasiliens Beziehungsrealität, deutsche Sextouristinnen.

Bahia-Sexualität und Erotik, Familienstrukturen, gemischtrassige Beziehungen und das viele Europäer so magisch anziehende Exotische, Exzentrische des „schwärzesten” brasilianischen Teilstaates –  all dies ist Spezialgebiet von Roberto Albergaria.  Er zählt zu den herausragenden Intellektuellen Bahias, lehrt an der Bundesuniversität in Brasiliens erster Hauptstadt Salvador und hat wegen seiner außergewöhnlich originellen, provokanten Vorlesungen stets volle Hörsäle. Man schätzt ihn als „Baianologo”, der Sitten, Gebräuche, soziokulturelle Besonderheiten der zu etwa achtzig Prozent aus Sklavennachfahren bestehenden Bevölkerung besonders scharf beobachtet –  den Kommerz-Rummel um Bahia-Mythen und Afro-Ethno-Chic indessen schonungslos kritisiert.

„Das große Problem Brasiliens ist die Misere, doch auch der Machismus brasilianischer Männer, die Frauen umbringen und manchmal wie Tiere behandeln. Man braucht nur in die Zeitungen zu schauen  immer wieder  werden Frauen aus den nichtigsten Gründen getötet.

Da ist dieser Fall des Wächters, Privatpolizisten, der seine Frau ermordete, weil sie sich eine Arbeit gesucht hatte. Er war arbeitslos –  für ihn bedeutete eine Ehefrau, die arbeitet, eben eine Art Attentat auf die persönliche Ehre. Wir haben zwar hier in Bahia, wie in ganz Brasilien, eine langsame Transformation des alten Modells mediterraner, lateinamerikanischer Maskulinität hin zu einem eher nordamerikanischen, individualistischen Modell. Doch geschieht dies vor allem in der zahlenmäßig kleinen Mittelschicht,  während in der Masse der Armen Bahias, unter den Schwarzen Bahias, in den Slums, an der Peripherie Salvadors, im Hinterland Brasiliens, in Amazonien dieses viel machistischere Modell des traditionellen Mannes fortexistiert. Mann zu sein, heißt, die Frauen des eigenen Harems, also Mutter, Frau und Tochter, maximal zu kontrollieren, zu beschützen –  und gleichzeitig zu versuchen, maximalen Zugriff zu den Frauen der anderen Männer, zu deren Harem zu haben. Es zu schaffen, mit der Mutter, der Frau des anderen zu schlafen, sich sogar dessen Tochter zu greifen. Stark zu sein, mit der größtmöglichen Zahl von Frauen zu schlafen, damit man von allen Freunden bewundert wird. Das ist die Logik des brasilianisch –  bahianischen Machismus! Doch die Macht der Männer über die Frauen impliziert auch große Verantwortung, Pflichten: Der Mann muß den Haushalt finanzieren, er erlaubt nicht, daß die Frau arbeitet, ihn mit einem anderen betrügt. Und er muß den Supermacho spielen –  Impotenz ist für ihn undenkbar! Immer hinter den Frauen her sein zu müssen, zu verführen, zu erobern, das dann den Freunden zu erzählen, ist Pflicht, kultureller Kodex, wird zu einer furchtbaren Sache, einer Art Sklaverei, aus der man nicht mehr rauskommt. Als hier das Potenzmittel Viagra auf den Markt kam, nutzte man Pelé als größten Produktwerber, zielte damit eindeutig auf den Schwarzen der Unterschicht. Heute nehmen die Männer hier Viagra wie verrückt, selbst jene, die es gar nicht brauchen –  um eben gleich drei Erektionen hintereinander hinzubekommen. Und das dann gleich herumzuerzählen. Doch nur zehn Prozent dieser Geschichten sind wahr, neunzig Prozent sind erfunden, gehören zum persönlichen Marketing, um das eigene Ansehen zu erhöhen.  Ein Mann, der es nicht schafft, ein sexueller Athlet zu sein, wird als minderwertige Person eingestuft. Ein richtiger Macho hat zudem mehrere Familien. Da haben wir eine Art Polygamie wie in der islamischen Welt, mit der gleichen Logik. Je mehr Frauen, Familien man hat, umso mehr ist man respektiert. Und ob ein Mann heiratet oder nicht –  er muß Kinder zeugen. Je mehr er schafft, um so mehr ist er angesehen. Hat er keine, hält man ihn für einen Homosexuellen oder für impotent. Die Männer müssen Kinder zeugen, um als mannbar zu gelten “ und die Frauen brauchen die Kinder, um als ehrbare Mütter angesehen zu sein. Da sie den eigenen Gatten nicht halten können, machen sie den Sohn zur Stütze, zum Beschützer der Familie. Die meisten Haushalte in Bahia werden von Frauen geführt, da Männer eben nur vorübergehend da sind, ein Kind zeugen, verschwinden, mit der nächsten Frau wieder ein Kind zeugen –  je mehr, umso besser. Wird so ein Mann von der Justiz gefaßt, muß er Alimente zahlen –  doch da viele arbeitslos, ohne festes Einkommen sind, zahlen sie eben nicht. Die Frauen sagen immer, einen Mann zu wollen, mit dem man gleichberechtigt die Aufgaben teile, der wie ein Freund, ein Kamerad sei. Doch die Beziehungsrealität dieser Frauen zeigt, daß alle Partner, alle großen Leidenschaften eben bad boys waren, die verführen und verlassen. Für die Frauen zählt der starke Mann, was sie natürlich nicht offen sagen. Unterbewußt, unbewußt wollen sie einen Wilden, Ungestümen. Das Schlüsselwort lautet Ambivalenz: Sie möchten den guten Kameraden, aber auch den Hengst. Die Frauen verzeihen ihren fremdgehenden Männern, sofern diese es diskret tun und immer wieder zu ihnen zurückkehren. Aber eine Frau verzeiht nie, wenn jene Andere durch ihn den gleichen Lebensstandard genießt wie sie selbst. Ein Hengst wird bei den Männern, aber auch bei den Frauen hochgeschätzt, sofern er  stets zurückkehrt, die Familie gut versorgt, seine sexuellen Pflichten erfüllt. Gerade in der Unterschicht  denkt man immer in Hierarchien, nie nach dem Gleichheitsgrundsatz: Der weiße Mann ist mehr wert als der Schwarze, die Frau weniger wert als der Mann, der Erwachsene mehr wert als ein Kind, undsoweiter. Wir haben hier doppelte Moral “ und die Moral der Scheinheiligkeit.  Zuhause spielt er die Rolle des perfekten Mannes, ist der Heilige, der Gott, doch auf der Straße wird er zum Hengst, zum Tier. Bei der Rückkehr ist er dann wieder der Tugendsame. Alle Welt macht das so. Wir spielen verschiedene Rollen –  so wie der selbe Schauspieler in verschiedenen Theaterstücken. Die Männer der Mittelschicht sind indessen über ihre Rollen verunsichert, wissen nicht mehr, ein sogenannter richtiger Mann zu sein. Deren Frauen verhalten sich sehr ambivalent, fordern manchmal eben diese zwei Profile, das verwirrt. Einerseits wollen sie den guten verständnisvollen Lebenskameraden –  andererseits den Starken.  Männliche Jugendliche unterscheiden bis heute zwischen dem Mädchen zum Austoben –  und zum Heiraten. Letztere sollte bessere Schulbildung haben und muß nicht sehr schön sein –  da sie ja nur als respektable, asexuelle Ehefrau und Mutter der eigenen Kinder vorgesehen ist. In Bahias Mittelschicht ist typisch, daß etwa ein Mann eine Universitätsabsolventin, beispielsweise eine Psychologin, Soziologin oder Anwältin heiratet, eine Familie gründet –  und sich als Geliebte eine dunkelhäutige Halbanalphabetin hält, die nicht so kopfgesteuert ist, aber witzig und fröhlich, mit der man die körperliche Lust gut ausleben kann. Alles Scheinheiligkeit, doppelte Moral –  das gehört zu unserer Kultur!  Viele von den Europäern, die sich manchmal hier eine traditionelle arme Bahia-Frau suchen, sind vergleichsweise arme deutsche Arbeiter, oder welche vom Lande in Deutschland. Die träumen noch von einer traditionellen Frau, die sich gut um sie und das Haus kümmert, schön unterwürfig ist. Hier in den Tropen will diese Art von deutschen Männern das verlorene Paradies wiederfinden. Eine blonde Europäerin, die sich unter schwarzen Bahia-Männern etwa aus der Musikszene aufhält, muß es eigenartig finden, daß all diese Männer aus der Unterschicht stammen. Und diese reproduzieren den Mythos des afrikanischen Super-Helden der Sexualität. Viele Europäerinnen zieht dieser Mythos an, dieses Tropen-Stereotyp. Und bei den Schwarzen wirkt es umgekehrt. Beide Seiten haben ihre Ideen, Wünsche, Begierden, kulturellen Codes –  und genau das führt zur Konfusion. Auf lange Frist geht es nicht gut, das ist das Interessante. Anfangs eine Explosion der Leidenschaften, Sex und Alegria, kurzfristig Anziehung, doch danach Distanz, Probleme wegen zweier so verschiedener Kulturen. Ich kenne hier keine interethnische Ehe, die lange hielt. Die Realität ist doch oft ganz anders als die Erscheinung, die Präsentation. Der große Bahia-Sänger Carlinhos Brown hat sich am meisten dieses tropische Exotenimage übergestülpt, um es den Europäern zu verkaufen. Motto: Na, wenn die das mögen, dann exotisieren wir uns eben und verdealen das denen so! Deutsche Sextouristinnen sind hier meist junge, intellektualisierte Frauen am Ende des Uni-Studiums oder am Berufsbeginn. Sie gehen zu den afrobrasilianischen Musikgruppen, treffen schwarze Intellektuelle, Schwarzenführer, gehen mit denen ins Bett. Und für einen Schwarzen ist es außerordentlich spannend und wertsteigernd, mit einer weißen Deutschen auszugehen, die als reich gilt, in der Werteskala Bahias weit höher angesiedelt ist als eine Frau von hier. Denn je weißer man ist, umso mehr Wert hat man. Diese deutschen Frauen halten den Schwarzen für einen sexuellen Athleten, obwohl das ja gar nicht stimmt. Ich beobachte diese Dinge viel in meinem akademischen Umkreis. Da gibt es auch diesen berühmten Fall einer US-Amerikanerin, die von der staatlichen Indiobehörde nach drei Monaten aus dem Xingu-Reservat ausgewiesen wurde, weil sie mit der Hälfte der Indianer geschlafen hatte. Sie kam nach Bahia, schlief hier mit der Hälfte der Schwarzenführer, wurde richtig famos. Das Interessante ist –  da wir hier keinen Schönheitskodex von euch haben, trifft man hier häßliche blonde weiße Frauen mit sehr schönen schwarzen Männern “ und umgekehrt! Einige wunderschöne Weiße mit fürchterlich aussehenden Schwarzen! Die Schwarzen wissen hier einfach nicht, woran man Schönheit dort in Europa mißt. Wenn ich in Bahia solche Dinge analysiere, schreiben das die Zeitungen nicht, halten solche Informationen für unbequem. Journalisten sind zudem meist Frauen, die Nichtregierungsorganisationen haben viel Kontrolle und Macht über die Medien, da geht nur  politisch Korrektes durch. Das ist doch eine Kultur der Scheinheiligkeit. Man tut so, als seien alle Menschen auf der Welt gleich, als gebe es keine solchen kulturellen Unterschiede. Doch in Wirklichkeit existieren diese Verschiedenheiten eben doch.”

Paulo Lins – Gesichter Brasiliens. Schriftsteller, Filmemacher, Menschenrechtsaktivist.

Der aufrüttelnde sozialkritische Streifen „City of God” lief mit großem Erfolg auch in den deutschen Kinos  – verfilmt wurde der Romanerstling „Cidade de Deus” des Schwarzen Paulo Lins aus Rio de Janeiro. Das Buch erschien auch bei einem deutschen Verlag.  Was Lins, der aus dem gleichnamigen Elendsviertel stammt, da zu Papier brachte, versetzte der brasilianischen Nation einen heilsamen Schock, veränderte die Kulturszene des Tropenlandes nachhaltig.

Bislang unterdrückte Diskussionen über die verdeckte Apartheid Brasiliens, die Machtstrukturen der Slums kamen in Gang. Wegen Lins, so die begeisterte Kritik, könne nicht länger verheimlicht werden, daß die Hölle gleich hinter Ipanema beginne, Brasilien zu den grausamsten Ländern der Erde gehöre.  DAAD-Stipendiat Lins konterte:”Würde ich die Realität so schildern, wie sie ist, könnte man das gar nicht publizieren.” Durch „Cidade de Deus” trennten sich in der Ersten Welt viele von sozialromantischen Brasilienklischees. Lins schrieb mit am Filmdrehbuch, suchte die Laiendarsteller der Elendsviertel aus, spielte den Co-Regisseur. Im Website-Interview sagt er: “Über dreißig Jahre lebte ich in der Gottesstadt, hatte keinerlei Zugang zu einer anderen sozialen Klasse. Ging ich durch Copacabana und Ipanema, fühlte ich mich ausgeschlossen, schlecht, fühlte ich Angst. Die Leute schauten mich so anders an, als ob es mir auf der Stirn geschrieben stand “ Schwarzer und Slumbewohner. Sie sagen hier, es gebe keinen Rassismus –  aber wir wissen, den gibts, das Problem ist sehr ernst. Im Fernsehen gibts so gut wie keine Schwarzen, alle wichtigen Posten in Unternehmen, in der Politik, in der Regierung sind von Weißen besetzt. Bis heute fühle ich mich schlecht, wenn ich in so eine abgesperrte Wohnanlage von Betuchten reingehe. Dort werde ich übel behandelt. Sitze ich mit Weißen im Auto, werden wir von der Polizei nicht angehalten. Sind wir aber nur Schwarze im Wagen, stoppen sie uns. Bis heute fühle ich diesen Rassismus.  Zu meinem Roman bekam ich nur ganz wenige negative Kritiken, weil er eben hinter die Kulissen schaut, geschrieben von einem, der im Slum haust. Das war ja das Interessante, das gab es noch nie. Heute sind die Schriftsteller doch alle aus der Mittelschicht. Die Leser waren völlig überrascht, weil da eine verheimlichte Realität zum Vorschein kommt. Ich hatte vorher nie mit Banditen gesprochen, denn nicht jeder kommt an die ran. Der Bandit ist die oberste Autorität im Slum, deshalb kann nicht jeder mit dem reden.  Früher wurde man mit 18, 20, 25 Jahren Bandit, heute mit neun, zehn Jahren! Hier in Brasilien erfaßt die Gewalt schon die Kinder. Brasilien mordet seine Kinder und läßt Kinder zu Mördern werden. So viele tote Heranwachsende, nie gezählt, nie registriert. Brasilien hat eine Gabe zum Töten, Brasilien ist ein Mörderstaat. Und das seit vielen Jahren schon –  man denke an die Sklaverei, die Lage der Indianer. Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert starben in Rio zweihundert Sklaven pro Woche, gab es Massaker an achthundert Menschen pro Woche! Die Slums waren immer gewaltgeprägt, nur gab es früher nicht so viele, war die Armut nicht so groß. Heute ist es überall gefährlich, heute kann jeder überfallen und entführt werden –  und anders als früher auch der Reiche.  Der braucht heute einfach Body-Guards, muß in diesen geschlossenen Wohnanlagen hinter hohen Gittern wohnen. Denn heute leben eben viele vom Verbrechen. Buch und Film zeigen: Brasilien steht beinahe in Flammen und die Leute merken es nicht, kümmern sich nicht drum! Die Gewalt ist aber nicht nur ein Fall für die Polizei, die Gewalt hat mit der Misere, mit Hunger, Krankheit zu tun. Es geht um Menschenrechte, um eine kraß ungerechte Einkommensverteilung. Wie wollen wir die Gewalt beseitigen, wenn wir nicht den Hunger, die Misere abschaffen? Brasilien stirbt noch mal an dieser Indifferenz, dem Volk fehlt einfach Bewußtsein. Weil der Film weltweit gezeigt wird, eine unbekannte Realität enthüllt, muß die brasilianische Regierung jetzt reagieren, wird sich die brasilianische Gesellschaft für diesen Film schämen. Wenn einer im Ausland sagt, ich bin Brasilianer, wird er hören, ich habs gesehen “ ein Scheißland! Und nach dem Film wird man die Brasilianer im Ausland fragen –  hast du davon gewußt? Und die werden antworten, nein, wußte ich nicht. In Wahrheit habe ich das Buch geschrieben, um unseren Eliten zu sagen –  das ist euer Werk, ihr wart das! Man wird jetzt fragen, bist du einer von den Geldleuten? Dann bist du mitschuldig an den Zuständen. Die Geschichte dieses anderen Brasilien wurde bisher nur mündlich weitergegeben, das ist jetzt vorbei, ab jetzt wird man darüber schreiben, öffentlich reden, ich habe schon Nachfolger. Wir haben eine NGO gegründet, mit der wir Heranwachsende aus den Slums zu Schauspielern, Fotografen, Maskenbildnern, Klangtechnikern ausbilden. Und die wollen wir alle auf einem Markt unterbringen, der bisher nur Mittelschichtlern vorbehalten ist. Die Filmszene öffnet diesen Heranwachsenden ein Universum, stimuliert sie, mehr zu lernen, mit Kunst zu arbeiten, kritisches Bewußtsein zu erwerben. Weil wir jetzt Schwarze ins Kino, in den Film bringen, gibt es jetzt krachende Kollisionen, weil die ganze Struktur ja nur für Weiße gemacht ist. Die Weißen dort sind über uns erschrocken, sind perplex, wissen nicht, wie sie reagieren sollen. Wie mit dieser neuen Generation von Schauspielern umgehen? Denn diese Jugendlichen im Film „City of God” sind einfach wundervoll, haben alle überrascht. Wir ändern jetzt die Realität des brasilianischen Kinos, des Fernsehens, arbeiten schon bei TV Globo, der größten Anstalt, öffnen uns die nötigen Türen. Nach diesem Film, in den größten Verleihen der Welt, muß man sich jetzt um diese jungen Schauspieler kümmern, sie einstellen “ und pronto! All das passiert jetzt auch. Ich bin optimistisch!”

Paulo Mendes da Rocha, Sao Paulo, Pritzker-Preisträger. Warner aus der Betonwüste. “Wichtig ist, daß wir uns vom PKW befreien. Der PKW ist ein Desaster.” (2012)

Rocha, der in Europa so gut wie unbekannt war, hat überraschend den Pritzker-Prize von der Hyatt-Stiftung aus den USA erhalten, der als Nobelpreis der Architektur gilt. Er ist mit 100000 Dollar dotiert und wurde Rocha in Istanbul für dessen durchaus umstrittenes Lebenswerk verliehen. Der Pritzkerpreis ging sozusagen an einen Warner aus der Betonwüste, der Brasiliens Städte „auf einem hochgefährlichen Weg in den Abgrund” sieht. Sao Paulo wurde 2006 gar von einer Attentatswelle heimgesucht.

Paulo Mendes da Rocha schmerzt, mit ansehen zu müssen, wie das einstmals außergewöhnlich schöne Sao Paulo etwa seit 1950 in ein häßliches Betonmeer verwandelt wurde, heute die drittgrößte Stadt der Welt ist. Und bis heute Erkenntnisse, Grundregeln humaner Stadtgestaltung von einer engstirnigen Elite bewußt mißachtet werden. Vor Rocha hatte als erster Brasilianer Oscar Niemeyer aus Rio 1988 den Pritzker-Prize erhalten. Niemeyer nennt sich Kommunist “ und Rocha ebenfalls. Auf einmal schaut die Welt wieder auf Brasiliens Architektur, interessieren sich auch Europas Stadtgestalter wieder mehr für die Arbeit ihrer brasilianischen Kollegen. Über diesen Nebeneffekt des Pritzker-Preises freut sich Paulo Mendes da Rocha derzeit am meisten. In einem von erschreckenden Sozialkontrasten geprägten Drittweltland haben er und sein Vorbild Oscar Niemeyer indessen mit ganz anderen Problemen zu kämpfen. Entsprechend radikal sind die Positionen, die Vorschläge für eine Humanisierung der brasilianischen Städte. In Brasilia oder Sao Paulo findet man vor allem gutbewachte Wohnghettos der Mittel-und Oberschicht sowie riesige, rasch wachsende Slums. „Apartheid social”, soziale Apartheid, ohne Mitleid, ohne Solidarität, wie auch Rocha beklagt. Oscar Niemeyer von der Copacabana ist entsetzt über die bauliche Verschandelung Rio de Janeiros “ und in der Megametropole Sao Paulo, so meint er, ließen sich die Lebensbedingungen nur verbessern, indem man ganze Stadtviertel abreißt, dort Parks und Gärten anlegt. Paulo Mendes da Rocha nennt Rio de Janeiro heute ebenso horrivel, also entsetzlich und grauenhaft, wie Sao Paulo. “häßliches Rio, häßliches Sao Paulo” ”Diese Planlosigkeit, diese Zerstörung des Raums in der brasilianischen Stadt ist einfach ein Horror”, sagt er im Website-Interview. „Das zeigt die Armseligkeit des Denkens der Wohlhabenden. Wie die Geier über Aas sind der Markt, die Immobilienspekulanten über Sao Paulo hergefallen, haben es in eine Ware verwandelt und jeden Quadratzentimeter verhökert, die Stadt immer mehr verdichtet. Hier blüht das Absurde. Ich leide darunter unglaublich, hier kann man ein enormes Spektrum von Widersprüchen studieren. Die Distanz zwischen den urbanistischen, architektonischen Möglichkeiten und der abstoßenden Realität ist einfach enorm. All dies hier dient keineswegs den Interessen der Bevölkerung. Vergiftete Flüsse und verpestete Luft durch die Autos, überall krasse Fehler.” Nicht zufällig nennen die über 20 Millionen Bewohner ihre Stadt selber „feio”, häßlich. Pritzker-Preisträger Rocha stammt aus einer Familie erfolgreicher Bauingenieure, wurde in der nordöstlichen Hafenstadt Vitoria geboren. Als Kind sah er, wie sein Großvater und sein Vater in unberührter Tropennatur Brücken und Hafenanlagen errichteten “ das reizte ihn, später einmal ebenfalls an solchen Transformationsprozessen teilzunehmen, Nützliches zu schaffen. Stattdessen muß er hinnehmen, wie in den letzten Jahrzehnten Brasiliens Stadtlandschaften immer monotoner, langweiliger wurden “ schlechter architektonischer Geschmack dominiert. Europas Altstädte werden zumeist sorgfältig restauriert –  in Brasilien reißt man das Alte zumeist rücksichts-und bedenkenlos nieder. ”Sao Paulo wurde bereits dreimal übereinander errichtet, ohne jemals bombardiert worden zu sein. Es wäre nicht nötig gewesen, soviel Desaströses zu schaffen, das später nur schwerlich korrigiert werden kann. Architekten und Urbanisten wie ich, die all dies kritisieren, fühlen sich an Galileu erinnert, der wegen seiner Ansichten auf dem Scheiterhaufen landete.” Brasiliens Städte, urteilt der Warner Rocha, könnten ungangbar werden. So wird in Sao Paulo trotz der viel zu engen, mit Autos verstopften Straßen weiterhin ein Hochhaus ans andere geklebt, bleibt kaum Platz für Grün. Architekt Rocha plädiert deshalb für eine radikale, wenngleich utopische Lösung: ”Ich würde die Privat-Autos abschaffen, dafür einen effizienten, komfortablen Nahverkehr installieren, das U-Bahn-Netz entsprechend erweitern. Man kann doch nicht eine Stadt für die Menschen und eine nur fürs Unterstellen der Autos errichten. Die Tiefgaragen der Blocks sind nur zu oft größer als die Wohnungen selbst.” – Rocha und Niemeyer umstritten-

Ebenso wie Oscar Niemeyer, der in Sao Paulo zahlreiche Gebäude, sogar einen Wohnblock für fünftausend Menschen errichtete, ist auch Paulo Mendes da Rocha in seinem Heimatland durchaus umstritten. Denn Rocha ist ein Vertreter des sogenannten brasilianischen „Brutalismo”, Rocha bevorzugt unverkleideten Stahl und rohen Beton “ ob bei Museen oder Verwaltungsbauten. Sao Paulos Präfektur überlegt gar, Rochas letztes Werk, die viel kritisierte Überdachung eines U-Bahn-Eingangs der City, wieder abzureißen. „Ich habe sie so geschaffen, daß man sie angepaßt auch an jede andere Stelle setzen könnte.” Der Pritzker-Preisträger kann keine typisch brasilianische Architektur erkennen, und würde das Bestehende niemals etwa nationalistisch als speziell brasilianisch verteidigen. Zum Stil der eigenen Bauten äußert sich Rocha indessen nur sehr zurückhaltend, übertrieben bescheiden – städtebauliche Lösungen habe er nicht anzubieten, lediglich sein Bestes versucht. ”Etwas ironisch würde ich sagen: Meine Arbeit charakterisiert, daß ich mich um Dinge sorge, die ich nicht tun darf. Daß mir sehr bewußt ist, was ich aus humanistischen Erwägungen auf jeden Fall unterlassen muß.” Sao Paulos Slums, die Favelas, wachsen jährlich um über zehn Prozent “ Rocha bewertet diese Provisorien überraschend positiv. ”Ich mag die Favelas sehr, sie sind intelligenter Urbanismus. Lobenswert die Courage unseres Volkes, selbst in dieser Form die Stadt mitzubauen. Die Leute sagen, ich warte nicht, bis die Stadt fertig ist, ich kampiere schon daneben. Die Menschen dort haben Selbstvertrauen. Sie manifestieren klar und politisch scharf: Wir wollen hier bleiben, wir wollen Lebensqualität, haben Wünsche, Hoffnungen.” Wie analysiert Rocha die Stimmungslage im heutigen Brasilien? „Wir verwandeln uns in eine Gesellschaft, die monstruös zynisch sowie niedrig, gemein ist, die konformistisch das Desaster der Obdachlosen akzeptiert. Wir haben eine Gesellschaft, die so kolonialistisch wird, wie der originale Kolonialist. Sie ist ausbeuterisch, ohne jegliches Gefühl des Mitleids und der Solidarität mit dem anderen.”

“Die Berliner Mauer hätte ich nicht abgerissen, aber angemessene schöne Portale eingebaut.”

Und die Kurven im COPAN-Wohnhaus von Sao Paulo, in dem etwa 5000 Menschen leben? “Diese Kurven haben nichts mit Brasiliens Bergen zu tun oder mit den Kurven der geliebten Frau. Man konnte das nicht anders bauen.”

“„Viele erschreckende Slums in Deutschland”” Die deutsche Hauptstadt Berlin, so urteilt er, sei nach der Rekonstruktion heute schlechter als vor dem zweiten Weltkrieg. Die Probleme dort seien ebenfalls fürchterlich, unlängst habe man Häuser von Türken abgebrannt. Zur Verblüffung des Interviewers besteht Rocha auf der Existenz großer Slums in Deutschland. „Wer als Brasilianer mit dem Zug etwa von Kassel nach Berlin fährt, ist seit mindestens zehn Jahren erschrocken über die wohl von Türken und anderen Ausländern errichteten Slums direkt an der Bahnlinie. Diese Leute hatten keinen Platz zum Wohnen. Slums in Deutschland “ soetwas hatte man als Brasilianer dort nicht erwartet.” Befragte Einwohner Sao Paulos erklären belustigt, daß der Architekt ganz offensichtlich die deutschen Schrebergärten mit ihren Bungalows für Slums hält. Tücken der Wahrnehmung in beiden Richtungen “ siehe die zahllosen Brasilienklischees. 2006 lobt eine brasilianische Touristin Hamburgs Schönheit auf einer Kanalfahrt, sagt laut Medienberichten:Wie wunderschön ihre Stadt doch ist – sogar die Slums! Der Kapitän klärt sie auf, daß es sich um Gartenhäuschen der Kleingärtner vom Goldbekkanal handelt, nicht etwa um Slumhütten.

Sertaneja – weit populärer als Samba „Nichts für coole Europäer“
Immer noch glauben manche, Brasilien sei das Land des feurigen Samba, zu dessen mitreißenden Rhythmen im Karneval Tag und Nacht ganz Rio tanzt. Besser schnell vergessen – alles Schwachsinn, erfunden von journalistischen Überfliegern, deren Zahl in Redaktionsstuben und vor Mikros ständig zunimmt. Wenn in Brasilien Samba den Ton angibt, dann war Deutschland schon immer Rapper-Country. Olodum aus Bahia trommelt vor dem Reichstag, Gilberto Gil, Caetano Veloso touren inzwischen fast jedes Jahr durch Deutschland, werden als Stars der Musica Popular Brasileira angekündigt und gefeiert. Pseudo-Insider bluffen in Feuilletons, Daude, Chico Cesar oder Carlinhos Brown seien die neuen großen Namen, würden hoch gehandelt undsoweiter.Kein Zweifel – sie alle machen eine interessante, meist wohlelaborierte Musik, doch, sorry, wirklich populär unter den absolut musikbesessenen Brasileiros sind ganz andere. Schon mal was von Zeze Di Camargo gehört? Im Karneval von Bahia singt er seine Hits, bringt die Massen stundenlang zum Tanzen, steht mit Carlinhos Brown am Mikro. Und was passiert? Anwesende Worldmusic-Puristen schreiben nur über den eitlen Brown im unsäglich überdrehten Afro-Look – doch kein Wort über Zeze Di Camargo, den wirklichen Star. Der spielt ja auch Musica Sertaneja – „vielleicht zu romantisch für coole Europäer“, wie der brasilianische Musikexperte Biaggio Baccarin sagt. Denn wider alle Klischees mögen die meisten Brasilianer, auch die jungen, sentimentale Balladen weit mehr als hektisch-aufgeregte Stücke nach Art der immer schnelleren, marschähnlichen Karnevalssambas. Ein Blick auf die Verkaufszahlen sagt genug: Ultraromantische Sertaneja-Musik ist unangefochtener Marktführer, war in den meisten Regionen Brasiliens schon immer populärer als Samba. Bringt Zeze Di Camargo mit seinem Falsett-Duo-Partner und Bruder Luciano eine CD heraus, ordern die Läden sofort über eine Million, annähernd doppelt so viel werden garantiert umgesetzt, ein mehrfaches zudem an Raubkopien.Von solchen Auflagen können Gilberto Gil, Marisa Monte oder Milton Nascimento und all die anderen in Deutschland mehr oder weniger bekannten Musikusse der Musica Popular Brasileira, von jedermann hier kurz „MPB“ genannt, nur träumen. Die beiden Brüder überließen dem linkssozialdemokratischen Präsidentschaftskandidaten Luis Inacio „Lula“ da Silva von der Arbeiterpartei PT ein Lied für die derzeitige Wahlkampagne, machen bei seinen Kundgebungen mit. Zeze Di Camargo zählt außerdem zu jenen vier fleißigsten brasilianischen Komponisten, die an Radio-und TV-Aufführungsrechten am kräftigsten verdienen:“Wir sind mehr MPB als Chico Buarque und Caetano Veloso – das P steht schließlich für populär – und das sind wir viel mehr als die.“ Eine Samba-Hitparade hat Brasilien nicht, Sertaneja-Charts dagegen schon. „Sertaneja, Pop romantico brasileiro, rangiert in Sao Paulo derzeit in der Hörergunst an der Spitze – mit achtzig Prozent“, konstatiert Marcio de Paula, Musikwissenschaftler, Journalist von Radio Gazeta in der Megametropole, im Interview. Daß die Deutschen, eigentlich die meisten anderen Europäer, Brasilien weiter klischeehaft mit Samba assoziieren, liegt an der Vermarktung des Rio-Karnevals auch durch ausländische Medien, meint Marcio de Paula. Wer kennt nicht die alljährlichen Schlagzeilen vom „Rio im Karnevalstaumel“? Gerade rund ein Drittel der Brasilianer, so seriöse Erhebungen, mag das Volksfest, beteiligt sich mehr oder weniger intensiv – der Rest bleibt ferne, hat für Carnaval ähnlich viel übrig wie der Durchschnittsdeutsche. Schwer zu übersehen – nur eine Minderheit kann richtig Samba tanzen. Leicht nachvollziehbar: Brasilien ist rund vierundzwanzigmal größer als Deutschland – manche Regionen, wie der Süden und Südwesten, sind durch deutsche, italienische, japanische, auch arabische Einwanderer geprägt, andere Landstriche, wie Bahia, durch Sklavennachfahren, Amazonien durch Indio-Mischlinge. „Auch daher kommt unser ziemlich eklektischer Musikgeschmack, Brasiliens enorme Vielfalt an Rhythmen ist in Europa kaum bekannt.“Noch ein paar wirklich große Namen gefällig, die ziemlich exotisch klingen? Xitaozinho & Xororò, oder gar Milionario & Josè Rico, das klassische Sertaneja-Duo mit den wildesten Coverfotos. 1986 spielen sie sogar vor hunderttausenden mitsingenden Pekingern, Shanghaiern und Kantonern – ohne Gage. Was war passiert? Die dortige Regierung schlägt im Rahmen eines Kulturaustauschs vor, die den Chinesen bekanntesten brasilianischen Musiker für eine Tournee einzuladen. Zum Erschrecken Brasilias sind das weder Tom Jobim, der das berühmte „Girl from Ipanema“ erfand, noch der unter den Kulturintellektuellen besonders angesehene Chico Buarque, sondern die beiden Hinterland-Musikusse. Ein Film, in dem die beiden auftreten, hatte den Geschmack der Chinesen getroffen. Brasiliens damaliger Kulturminister weigert sich sogar, dem Duo wenigstens den Flug zu bezahlen , hat zudem keine Ahnung, was Sertaneja-Musik eigentlich ist. Ganz einfach – zum Beispiel die schlichte Gitarrenballade der Viehtreibers nachts am Feuer, unverkennbar der Einfluß des Bolero, des mexikanischen Mariatchi und heute des Country-Pop.Aber der Hit sind die Falsett-„Duplas“, verrückte Figuren darunter, deren aufwendige Open-Air-Shows inzwischen Hundertausende anlocken. Man braucht sich in Rio de Janeiro nur in den Rumpelbus zu setzen und ins immense Interior aufzubrechen, sich in Teilstaaten wie Goias, Tocantins und Mato Grosso oder in den Goldschürfgebieten Amazoniens umzusehen und umzuhören. Die harten, groben Wildwest-Gestalten mit Lederhut und Revolver am Gürtel mögen keinen heißen Samba, nur ultraromantische Sertaneja-Musik, Die klingt für viele schnulzig, ein bißchen wie „Massachusetts“ von den BeeGees, oder „If you leave me now“ von Chicago, setzt sich aber überraschend schnell und zähe in den Ohrwindungen fest. Von Liebe und Leid, Herz und Schmerz, vor allem aber den Freuden des Bettes singen Gilberto Gil oder Chico Buarque auch – deren Texte sind komplex, poetisch-hochgestochen. Brasiliens eigentliche musikalische Aushängeschilder von der Sertaneja-Fraktion drücken sich viel, viel simpler aus – so wie die verarmten, wenig gebildeten Massen eben. Darunter Feldarbeiter, die brasilianischen Cowboys und jene landlosen Familien, die auch mit Unterstützung der deutschen Kirchen brachliegende Riesenfazendas besetzen und beflanzen, sich nicht wieder vertreiben lassen. In vielen Dörfern und Kleinstädten hängen überall Ortslautsprecher, dazu die stundenlangen Wunschmusiksendungen der Radios – wer nur Samba oder Rock mag, erlebt dort wahren Sertaneja-Terror.Kurios: Jahrzehntelang werden in Rio oder Sao Paulo Sertaneja-Duos von Medien und Plattenfirmen wie Drittklassige behandelt, um die man wegen des Publikumsgeschmacks leider nicht herumkommt. Daß diese Falsett-Duos häufig mehr Tonträger verkaufen als die am Zuckerhut bejubelten „Stars“, wird sogar verschwiegen. Doch Ende der 80er Jahre ändert sich das – die von den Intellektuellen und der elitären Musikkritik als hinterwäldlerisch verlachten Sertaneja-Anhänger machen aus ihrer hyperromantischen Seele keinen Hehl mehr, stehen zu ihren Idolen. In Rio wird eine öffentliche Kulturdiskussion darüber geführt, ob man ein Duo wie Leandro & Leonardo überhaupt in Musiktempel, Showpaläste hineinlassen dürfe, ob dies nicht unter aller Würde sei. Das Duo, dessen damalige CD sich viermillionenmal verkauft, tritt auf, hat einen Riesenerfolg – der große Liedermacher Chico Buarque sitzt bei der Premiere ganz vorne an der Bühne. Die abgehobene World-Music-Schickeria siehts mit Entsetzen. Als Leonardo an einem Tumor stirbt, triffts die Nation wie ein Schock, dem Sarg folgen über 250 000. Als 1994 Bossa-Nova-Star Tom Jobim bestattet wird, kommen in seiner Heimatstadt Rio nur einige tausend. In Deutschland immer noch kein Grund, das Samba-und Karneval-Klischee nicht weiter kräftig zu bedienen. Glatt unter geht zudem, wie populär im stark unterentwickelten Nordosten seit jeher der treibende Forrò-Rhythmus ist – gespielt mit Akkordeon und Triangel. In den großen Küstenstädten wie Recife, Fortaleza, Maceio und oder Sao Luis ist Samba absolut Mangelware. Doch auch in Sao Paulo und Rio hat neuerdings ein Großteil der Studenten das Alleinehopsen in der Disco satt – schwooft stattdessen beim „Forrò universitario“ eng aneinandergeschmiegt, wie die früher als Hinterwäldler verlachten bitterarmen Nordestinos.Manche Sertaneja-Stars kommen in die Jahre, werden in den Hitparaden von Talenten, die sie selber entdeckten und aufbauten – oder ihren eigenen Kindern überholt. Bestes Beispiel – Sandy und Junior, Sprößlinge von Xororò, Jugendidole, grade volljährig, von ihrem britischen Plattenmulti mit Pop romantico englischer, französischer, spanischer Zunge losgeschickt, dieses Jahr Europa zu erobern.

Projektierte Apartheid(2010)Brasilia, UNESCO-Weltkulturerbe der Menschheit, wird 50 – und im Tropenland erinnert man sich des Massakers an Bauarbeitern, des Terrors der Bauplatzpolizei damals, als Chefarchitekt Oscar Niemeyer, der sich immer Kommunist nennt, die Errichtung beaufsichtigt. Und wie er nach dem Militärputsch von 1964 mit den Folter-Diktatoren zusammenarbeitet, ihnen in Brasilia den Generalstab der Regime-Streitkräfte und noch vieles andere hinstellt. Obwohl doch bis heute in ungezählten deutschsprachigen Gazetten steht, Niemeyer sei während der 21 Jahre währenden Militärdiktatur verfolgt und mit einem Arbeitsverbot belegt worden. Schon 1960, bei der Einweihung Brasilias, sind kritische Brasilianer über die vielen Baufehler, die Pfuscharbeit entsetzt: Risse in Beton und Asphalt, bröckelnder Putz allerorten, sodaß Nachbesserungskolonnen noch jahrelang zu tun haben – genauer gesagt, bis heute. Daß die Hauptstadt so überstürzt in nicht einmal vier Jahren errichtet wird, damit sie der damalige Präsident Juscelino Kubitschek noch in seiner Amtszeit einweihen kann, hat zudem offenbar en masse Architektenfehler begünstigt.Nach scharfer Kritik der neuen Nutzer muß Oscar Niemeyer schon wenige Jahre später einräumen, daß in den offiziellen Gebäuden viel mehr Platz benötigt wird, zahlreiche nicht eben schöne Anbauten angeklebt werden müssen. Gleiches gilt für hingeschusterte, überaus hellhörige Wohnhäuser – sogar per Aushang wird aufgefordert, doch bitte, bitte beim Geschlechtsverkehr leiser zu sein, schon wegen der Kinder im Block. Wie es heißt, wurde der Präsidentenpalast für etwa 100 Menschen entworfen, doch heute arbeiten dort an die 700. Bereits jetzt, zum Stadtjubiläum am 21. April, fürchten sich den hiesigen Medien zufolge die Stadtbehörden vor dem Besuch von UNESCO-Experten im Juni, die zahlreiche Niemeyer-Bauten in sehr schlechtem Zustand oder sogar gesperrt antreffen werden. Womöglich droht die Aberkennung des Welterbe-Titels.50 Jahre später bezeichnet Brasiliens führende Qualitätszeitung Folha de Sao Paulo dieses von Slums umzingelte Brasilia als „projektierte Apartheid“ und die brasilianischen Architekturkritiker erinnern an entsetzliche Wahrheiten, dunkle Punkte der Errichtung Brasilias. Dort, wo die Bauarbeiter massakriert wurden, gibt es heute ein Kreuz und eine Gedenktafel, zeigte man gar im Freien jenen mehrfach im In-und Ausland preisgekrönten Dokumentarfilm vom Vladimir Carvalho. Der Regisseur befragt darin Niemeyer eingehend über das Blutbad, doch dieser sagt immer wieder höchst irritiert: davon weiß ich nichts, davon habe ich noch nie etwas gehört und will deshalb darüber auch nicht reden. Carvalho läßt im Film, wie Niemeyer ärgerlich wird, herumschimpft, das Abstellen der Scheinwerfer befiehlt, im Dunkeln weiterredet – ein ganz außergewöhnlicher Streifen, das Centre Pompidou in Paris hat ihn parat. Andere Zeitzeugen berichten in dem Film vom Massaker an bis zu 500 Bauarbeitern. „Der Bauplatz von Brasilia war damals ein Wilder Westen“ sagt Carvalho im Interview, „alles mußte schnell gehen, die Fristen waren kurz. Es gab damals viele Unfälle, viele Bauarbeiter fielen von den Gerüsten. Tote wurden rasch beseitigt, damit die Lebenden nicht die Lust verloren und der Bau in hohem Tempo fortgesetzt werden konnte. Die Bauarbeiter konnten nur wenige Stunden schlafen, sich nur wenig ausruhen, waren schlichtweg fix und fertig – deshalb kam es zu den Unfällen.Eines Tages war das Essen wieder verdorben – das brachte das Faß zum Überlaufen. Die Arbeiter protestierten – doch nachts kam die Bauplatzpolizei.“ Was dann geschah, hat eine Zeitung Brasilias inzwischen noch genauer rekonstruiert. Danach feuerte diese berüchtigte Spezialgarde zuerst mit Maschinenpistolen in die Bretterbaracken, bildete danach einen „polnischen Korridor“, zwang die überlebenden Arbeiter, dort durchzulaufen, grauenhaft mißhandelt zu werden. Zum Schluß, so das Blatt gemäß den aufgetriebenen Zeugen, mußten die Arbeiter ihre Toten und Verwundeten auf zwei LKW laden – die Opfer, sogar die Verwundeten, habe man dort, wo heute der TV-Turm Brasilias stehe, verscharrt – die LKW-Fahrer als lästige Zeugen ebenfalls liquidiert.„Für Niemeyers Biographie ist das nicht gut“, meint Regisseur Carvalho. Völlig egal – wer weiß davon schon, in deutschsprachigen Medien oder Biographietexten beispielsweise wird seit 50 Jahren so gut wie ausnahmslos das Massaker, der Dokumentarfilm nicht erwähnt.Eigentlich sollten die Reparaturen an prägenden Gebäuden wie dem Präsidentenpalast oder der Kathedrale rechtzeitig vor den 50-Jahr-Feiern fertig sein – doch nun dauern sie noch Monate, Staatschef Lula muß weiter vom Kulturzentrum einer Bank aus regieren. Zudem landete ausgerechnet der federführende Hauptstadtgouverneur wegen Abgeordnetenkauf im Gefängnis.Doch an offiziellen Huldigungen für Oscar Niemeyer fehlt es natürlich nicht, wenngleich die brasilianischen Architekturkritiker und zahllose Leserbriefschreiber Brasilias die mangelnde Funktionalität der Niemeyer-Bauten betonen. So sind die eckigen Blöcke der Ministerien alle gleich und zudem in Ost-West Richtung aufgereiht. Das gilt für ein Tropenland als schlechteste Lösung, weil dann die Morgen-und Nachmittagssonne direkt auf die großen Fenster knallt, furchtbare, unerträgliche Hitze erzeuge, gegen die keine Klimaanlage ankomme. Staatsangestellte würden dann eben eher nach Hause geschickt, kriegen sozusagen hitzefrei.Besonders vertrackt wird es, wenn man sich Niemeyers Aktivitäten zur Diktaturzeit widmet. Gemäß den deutschen, aber auch vielen brasilianischen Quellen haßte der famose Kommunist die nazistisch orientierten Putschgeneräle natürlich aus tiefstem Herzen, wollte mit ihnen nichts zu tun haben, ging flugs in Exil – das Arbeiten hatten sie ihm ohnehin verboten. „Gerade während der Militärdiktatur von 1964 bis 1985 realisierte Niemeyer viele Projekte“, sagt mir vor einigen Jahren der angesehene Architekt und Universitätsprofessor Joaquim Guedes, bestinformierter Niemeyer-Kritiker, in Sao Paulo. Ich will es anfangs kaum glauben, doch eine seriöse Werke-Liste des „Stararchitekten“ und brasilianische Fachtexte bestätigen Guedes: 1967, drei Jahre nach der Machtübernahme, projektiert Niemeyer in Brasilia eine imposante, nach Diktator Costa e Silva benannte Brücke. Und ausgerechnet in der grausamsten, schwärzesten Phase der Folterdiktatur, unter Generalspräsident Medici, entwirft der „Kommunist“ den Generalstab in Brasilia, 1973 wird er mit großem Pomp eingeweiht. „Und dies unter dem Säbel der Medici-Regierung“, bemerkt der brasilianische Autor Marcos Sá Correa zu Niemeyers damaligem Wirken. 1971 realisiert dieser in der nordostbrasilianischen Millionenstadt Recife sogar ein Stadion, das just nach dem berüchtigten Diktator Medici benannt ist – und für die Fußball-WM 2014 genutzt wird. Laut Werke-Liste projektierte Niemeyer allein in Brasilia während des Militärregimes über 20 Bauten, auch eine Militärschule ist darunter. Guedes übrigens kann an ihm nichts Kommunistisches entdecken, nennt ihn einen Stalinisten.2001 wird Niemeyer gefragt, warum er zwar Villen baue, aber keine einfachen Wohnhäuser, keine Viertel für die Armen. „Weshalb verzichteten Sie darauf, für jene, deren Schicksal Ihnen am Herzen liegt, ein architektonisch ansprechendes Zuhause zu errichten?“ Der Pritzker-Preisträger mag mit seiner Antwort manchen perplex machen:“Weil sich unsere Brüder in den Slums wohler fühlen als in geplanten Siedlungen, die keinerlei Komfort bieten und oft noch öder sind.“Komisch, daß europäische, darunter deutsche Architekturexperten, gar Architekturfeuilletonisten und Fernsehteams, dem in Brasilien wegen seiner originellen, umfassenden Niemeyer-Kritik so hochgeschätzten Guedes nicht die Bude einrannten. Jetzt ist es zu spät. 2008 wird Guedes auf nie geklärte Weise getötet. Direkt vor seinem Büro rast ein Stadtjeeplenker auf ihn zu, überrollt ihn, prescht gemäß den Zeugenberichten davon, und wird nie gefaßt. „In der Menschheitsgeschichte gab es keinen anderen Architekten, für den der Staat soviel nationale und internationale Reklame organisierte wie für Niemeyer“, sagt mir Guedes, „denn Niemeyer machte ja auch kräftig Reklame für den Staat. Über Niemeyer wurde nur verbreitet, was dieser selber hören wollte.“ Besonders deutlich wird das im Propagandafilm “Oscar Niemeyer – das Leben ist ein Hauch”, der auch in den deutschen Kinos läuft. In Brasilien erntete der Film Verrisse, in Deutschland dagegen höchstes Lob.Museu AfroBrasilDer 68jährige Schwarze Emanoel Araújo, Direktor des »Museu AfroBrasil« in São Paulo, zählt heute zu den wichtigsten und außergewöhnlichsten bildenden Künstlern Brasiliens. 1940 als Sklavennachfahre in Bahia geboren, hat der »Afro-Minimalist« als Bildhauer, Zeichner, Maler und Grafiker, doch auch als Kämpfer gegen Brasiliens Apartheid einen Namen. Sein von Oscar Niemeyer für São Paulos Ibirapuera-Stadtpark projektiertes Museum bietet ihm elftausend Quadratmeter Experimentierfläche.Araújo blickt von seinem Büro aus auf tropische Vegetation, auf Bäume hoch wie im Urwald des Amazonas – von der geballten Häßlichkeit der abgasverseuchten Megacity merkt er hier nichts. »Das Museum gibt es erst seit vier Jahren – bis es eine Art Bestseller wird, dürfte noch etwas Zeit vergehen. Ich war ja der einzige, der ständig auf so ein Museum gedrungen hatte. Von meiner Generation der schwarzen bildenden Künstler Brasiliens bin ich nur übrig. Von den anderen beiden in Rio de Janeiro verlor einer den Verstand, der andere verschwand von der Bildfläche. Heute sind die Bedingungen für schwarze Künstler schlechter als Jahrhunderte zuvor. Das mag verwundern, aber damals waren diese Künstler in eine – wenngleich dekadente – Struktur eingebunden. Heute gibt es indessen keinerlei Struktur mehr, nichts, was einen Künstler unterstützt. Es sei denn, er gehört zu einer gesellschaftlichen Elite, die ihm hilft.«Araújo weiß, wovon er redet. Seine Vorfahren waren zwar schwarze Sklaven Bahias, doch gleichzeitig Angehörige der hochgeachteten, für den Prunk der Kolonialepoche bedeutsamen Goldschmiedezunft. Die reichen Portugiesen zogen es damals gewöhnlich vor, statt eigener Söhne talentierte Sklaven auf die Schulen, auch die Kunstschulen, zu schicken.»Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts wurde Kunst in Brasilien vornehmlich durch Schwarze geschaffen. Ob Malerei oder Bildhauerei, Verzierungen und Schmuck – der brasilianische Barock hatte großartige schwarze Künstler. Selbst in der brasilianischen Barockmusik gaben dunkelhäutige Komponisten wie Mauricio Nunes Garcia den Ton an. Und als nach 1808 der Kaiser französische Maler und Bildhauer ins Land holte, die Akademie der schönen Künste gegründet wurde, bildete man dort der Tradition folgend auch talentierte Schwarze aus. Daß all diese Künstler heute in der Kulturgeschichte Brasiliens nicht oder kaum präsent sind, ist ein Reflex des perversen, scheinheiligen Rassismus.«Araújo hat im Museu AfroBrasil bereits über 4 000 Kunstwerke zusammengetragen – darunter Tonkunst. Hochgeschätzt unter Kunstliebhabern der ganzen Welt ist der dunkelhäutige Antonio Francisco Lisboa, genannt Aleijadinho, wichtigster Bildhauer des brasilianischen Barock, dazu Architekt und Maler. Seine Kirchen, die zwölf Prophetenstatuen in Congonhas do Campo, seine Skulptur von Jesus, der das Kreuz trägt, zählen zu den außergewöhnlichsten, auch international bekanntesten Werken. Aber wer kennt schon den Schwarzen Estevao Silva, der zu den besten Stillebenmalern des 19. Jahrhunderts gerechnet wird? Mehrere seiner Werke, darunter Künstlerporträts und die von der Kunstkritik seinerzeit so überschwenglich gefeierten Stilleben mit tropischen Früchten wie Mangos und Jaboticabas hängen heute im Museu Afro-Brasil von São Paulo. Allem ebenbürtig, was man aus dieser Kunstepoche in europäischen Museen kennt. Zeitgenosse von Estevao Silva war Emmanuel Zamor, sein Meisterstück, die zwei an einer Hauswand lehnenden schwarzen Kinder, ist im Museu AfroBrasil ebenso zu besichtigen wie Firmino Monteiros naturalistische tropische Landschaften am Atlantik.Im Museu AfroBrasil begegnet man ferner Schwarzenporträts des Fotografen Walter Firmo, einer Karikaturensammlung – und nicht zuletzt einem Dutzend Werken von Direktor Araújo selbst. »Weil mein Vater Goldschmied war, zur unteren Mittelschicht gehörte, konnte ich in Salvador da Bahia auf die Kunstakademie gehen, war dort der einzige Schwarze. Mit Ach und Krach hielt ich mich als Künstler, wurde in den siebziger Jahren Aktivist gegen den Rassismus, schrieb das erste Buch über sämtliche wichtigen Schwarzen in der brasilianischen Kunstgeschichte, von Musik bis Literatur, war zwei Jahre Gastprofessor an der Kunstakademie von New York.«Sein Künstlerkollege Mauricio Pestana, Leiter der einzigen nationalen Schwarzenzeitschrift, meint: »Brasilien ist das rassistischste Land der Erde – überall auf der Welt haben die Strategien des Rassismus nicht funktioniert, zum Beispiel in Südafrika, den USA oder Teilen Europas. Hier in Brasilien hat es geklappt, wirkt die rassistische Maschinerie seit jeher sehr intelligent.«Araújo stimmt Pestana zwar zu, hält jedoch nichts von Idealisierungen und politischer Korrektheit. So erinnert er daran, daß bedeutende Sklavenhändler Schwarze waren. Und daß schwarze Sklaven, die freikommen konnten, in Brasilien sofort Sklaven kauften, mit ihren eigenen Brüdern handelten. Bei einem großen Sklavenaufstand in Bahia wurden die Revoltierenden durchweg von Sklaven, die feindlichen Stämmen und Völkern angehörten, denunziert. Derartiges wirke sich bis heute aus. »Interessant ist, daß sich die Schwarzen hier in den Sambaschulen organisieren oder in Fußball-Fanclubs – aber eben nicht in der Kunst. Ich kann nicht sagen, warum. Und die Schwarzen organisieren sich auch nicht effizient, um soziale Forderungen zu stellen. Dabei haben wir in Brasilien immerhin etwa sechzig Prozent Dunkelhäutige.«Araújos teils monumentale, über drei Meter hohe Skulpturen, bevorzugt in rot und schwarz, gehören inzwischen zum Stadtbild São Paulos, seine Reliefs sind Blickfang an modernen Gebäuden. Araújo nennt sich selbst einen »Filho de Ogum«, einen Anhänger der afrikanischen Gottheit Ogum – und solche Personen gelten als kohärent, couragiert, impulsiv, streitbar, hartnäckig, neugierig und jeder Routine abhold.So einer wie Araújo bringt es daher fertig, als frischgebackener Kulturstaatssekretär São Paulos 2005 nach nur zwei Monaten dem Präfekten in einem offenen Brief, unzufrieden mit armseligem Etat und oktroyierter Elite-Kultur, seine Entlassung vor die Füße zu werfen. Und mit »Filho de Ogum« zu unterschreiben. So einer stürzt nicht ab, sondern hat noch viel vor. »Für die Schwarzen muß dieses Museum ein Spiegel werden, in dem sie sich betrachten, sich mit schwarzer Kultur und Geschichte, mit allen schwarzen Künstlern, allen schwarzen Persönlichkeiten identifizieren können, die für Brasilien sehr wichtig waren. Dieses Museum will die Suche nach Selbstwertgefühl, nach schwarzem Selbstbewußtsein fördern.«Die Bossa Nova wird fünfzig(2008)In Brasilien wird 1958 ein neuer Musikstil geboren und macht Weltkarriere: João Gilberto, der Bossa-Nova-Papst, bringt die ersten beiden Hits heraus. Kurioserweise erreicht die Bossa Nova nie im Tropenland selbst durchschlagenden Erfolg, andere Rhythmen wie Sertaneja und Rock sind stets populärer. Nur dank starker Nachfrage aus Europa und Japan gibt es eine neue brasilianische Generation von Bossa-Nova-Musikern. Ende 1957 treten in einer kleinen Copacabana-Bar hochtalentierte Musiker auf, nennen sich Bossa-Nova-Gruppe und spielen, wie es in den Ankündigungen heißt, moderne Sambas. Im Jahr darauf hören sich Musikmanager der großen Plattenfirma Odeon in São Paulo eine Probepressung zweier neuer Titel von João Gilberto an und reagieren wütend. »So ein Mist, den man uns da aus Rio schickt.« Die Vinyl-Single wird zerbrochen, weggeworfen – die beiden Titel, Chega de Saudade (Schluß mit der Sehnsucht), ein wunderschönes, als »Samba-Cançao« deklariertes Liebeslied von Komponist Tom Jobim und Texter Vinicius de Morais sowie das schlichte Bim-Bom von João Gilberto, markieren indes den Beginn der Bossa Nova. Sie werden zu Klassikern. Den internationalen Durchbruch schafft die Bossa Nova aber erst mit dem berühmten Musikfilm Orpheu Negro, der 1960 einen Oscar bekommt. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Bossa Nova ist natürlich Samba, wie Brasiliens Experte Ruy Castro in seinem Buch Chega de Saudade betont: »Bossa Nova ist nur eine von dreißig Varianten, Spielarten des Sambas – von den übrigen 29 haben Gringos höchstwahrscheinlich noch nie etwas gehört.« Bizarre Legenden und Anekdoten ranken sich vor allem um das erste Bossa-Nova-Jahrzehnt, zum Beispiel um das Konzert von Tom Jobim, João Gilberto, Carlos Lyra und anderen Bossa-Nova-Größen 1962 in der New Yorker Carnegie Hall. Organisiert von der brasilianischen Regierung und einer US-Plattenfirma, wird es bis heute meist glorifiziert – nicht wenige Rio-Musiker erlebten es indessen als grauenhaft und chaotisch, als Reinfall. Carlos Lyra erinnert sich: »Da herrschte ein unglaubliches Durcheinander, da stiegen einfach Leute zu uns auf die Bühne und spielten, was ihnen gerade einfiel, improvisierten Jazz-Akkorde. Ich war so irritiert, daß ich zu Tom Jobim sagte: Laß uns abhauen, das Konzert ist doch eine Schande! Aber Tom Jobim war ängstlich und sagte: Du hast doch auch den Konzertvertrag unterzeichnet – deshalb bleiben wir besser hier und ziehen das durch.« Carlos Lyra schreibt einen Titel namens Influencia do Jazz – just gegen die Vereinnahmung des Sambas, der Bossa-Nova durch nordamerikanischen Jazz. Und Tom Jobim weist lauthals zurück, daß Bossa Nova doch im Grunde Jazz sei. »Das stimmt überhaupt nicht, was uns diese puristischen Musikkritiker da vorwerfen. Bossa Nova hat überhaupt nichts mit dem Jazz zu tun, sondern ist originär typisch brasilianisch. Das muß man anerkennen. Vielmehr hat sich der Jazz bei der Bossa Nova bedient!« In gespannter, teils feindseliger Atmosphäre nehmen 1963 Stan Getz und João Gilberto mit Kollegen in New York eine der bis heute meistgerühmten Bossa-Nova-LPs auf – zudem die meistverkaufte Jazzplatte aller Zeiten. Denn wie Getz Bossa Nova interpretiert, ist für Gilberto viel zu laut, zu unsensibel. »Tom, sag diesem Gringo, daß er ein Dummkopf ist.« Doch Tom Jobim übersetzt sicherheitshalber falsch: »Er sagt, daß es eine Ehre ist, mit Ihnen hier zu arbeiten.« Getz: »Eigenartig, es klang so, als hätte er völlig anderes gesagt.« Der Jazzer, gewöhnlich explosiv und grauenhaft gegenüber Kollegen, bleibt selbstkontrolliert, sieht in der Bossa Nova eine riesige Karrierechance. Später, beim Mixen der Platte, ohne die Brasilianer im Studio, produziert er seine Soloparts entgegen den mit Gilberto getroffenen Absprachen übermäßig laut – was ihm dieser nie verzeiht. Stan Getz wird durch die Platte reich, kauft sich eine 23-Zimmer-Villa. João Gilberto bekommt gerade einmal 23000 Dollar ab, Astrud Gilberto für die berühmte Version des Girl from Ipanema gar nur 168 Dollar. Getz findet die Brasilianerin völlig überbezahlt, regt sich gar darüber auf. Worauf, wie es heißt, der große Tenorsaxophonist Zoot Sims in New York konstatiert: »Gut zu wissen, daß Stan der Erfolg nicht verändert hat. Er ist derselbe Hurensohn wie immer.« Garota de Ipanema zählt mit Yesterday von Lennon/McCartney zu den beiden meistgespielten Titeln des vergangenen Jahrhunderts. 1999 geschieht etwas Unfaßbares, doch für den Zeitgeist Brasiliens sehr Bezeichnendes – ausgerechnet João Gilberto wird bei einem Konzert in São Paulo vom Publikum ausgepfiffen, ausgebuht. Gilberto beschwert sich über die schlechte Aussteuerung, verlangt von den Tontechnikern Änderungen – Bossa Nova ist schließlich kein Hard-Rock. Ungläubig fragt er das Publikum, ob es sich hier um Zustimmung oder Ablehnung handele. Wieder Pfiffe und Buhrufe – worauf João Gilberto die Gitarre nimmt und nach Hause geht. Der Weltstar der Bossa Nova gilt nichts mehr im eigenen Land. João Gilberto lebt in Rios Nobel-Strandstadtteil Leblon. Die allermeisten Bewohner seines Penthouse haben den Einsiedler bisher nie zu Gesicht bekommen – niemals wird er in Restaurants, Bars, Konzerten gesehen. »Manche tibetanische Mönche«, so lästert Bossa-Nova-Experte Ruy Castro, führten dagegen ein geradezu spektakuläres Nachtleben. Schlagzeilen macht, daß sich Gilberto im 50. Jahr der Bossa Nova wenigstens zu vier Konzerten in Rio, São Paulo und Salvador da Bahia herabläßt. Schmerzhaft, daß heute in Rio de Janeiro, und an der Copacabana erst recht, die Bossa Nova beinahe ausgestorben ist. Carlos Lyra bitter-drastisch: »Landet heute jemand in Rio und fragt, wo man Bossa Nova hören kann, lautet die Antwort. Die ist hier nicht mehr zu hören.«

Blamierte Berlinale-Kritiker(2008)

Bisher hatten Brasiliens Filmschaffende, Intellektuelle und Feuilletonisten Respekt und Hochachtung gegenüber deutscher, europäischer Kulturkritik. Das scheint vorbei zu sein. Auf erste ablehnende Kommentare zum Wettbewerbsstreifen Tropa de Elite, der argumentativ schwach, unintelligent und ohne Tiefgang sei, hatte man noch verwundert bis verständnisvoll reagiert. Doch als der Film den Urso de Ouro erhielt, die meisten Berlinale-Kritiker aber auf ihren kuriosen Negativ-Wertungen beharrten, regnete es fast nur noch Ironie und Spott.

Da man von dieser Zunft falsch interpretiert worden sei, kontern Regisseur Josè Padilha und Hauptdarsteller Wagner Moura, handele es sich um eine besonders wertvolle Anerkennung durch die Jury um Constantin Costa-Gavras. Kritik, die Tropa de Elite gar als faschistisch klassifiziert, sei besonders stupide, meint Padilha. Wer seinen Film derart verreiße, solle doch mal beim großen Costa-Gavras anrufen und nachfragen, ob der ihn auch für »fascista« halte. Fernando Meirelles, Regisseur von City of God, stufte die vor politischer Korrektheit triefenden Berlinale-Stimmen als »tolo« – dumm, töricht, stumpfsinnig – ein. In Berlin wird die Brutalität der Eliteeinheit herausgestellt, während brasilianische Cineasten wie Arnaldo Jabor auf die »Barbarei« der Verbrecher weisen, von denen das Tropenland dominiert werde. »Schmutzige Politik« paralysiere Brasilien, das Volk habe »Hunger nach Gerechtigkeit« und sei deshalb von dem Film begeistert. In Berlin sieht man in Elitetruppe-Kommandant Capitao Nascimento, gespielt von Wagner Moura, ein ekelhaftes, kaltblütiges Monster – in Brasilien ist er Held und Identifikationsfigur mit Widersprüchen in einer extrem widersprüchlichen Realität.

Bezeichnend ist, daß eine Schlüsselszene aus Tropa de Elite – das Verbrennen eines lebenden Menschen auf einem modernen Scheiterhaufen aus Autoreifen – von den Filmkritikern fast ausnahmslos unterschlagen wurde. Unterdessen wurden sogar ein renommierter TV-Journalist und viele Bürgerrechtler Opfer dieser archaischen Hinrichtungs-»Methode«. Jener zynisch »Microondas«, Mikrowelle, genannte Scheiterhaufen ist Beleg und Symbol für den brutalen Terror der neofeudalen Slum-Diktatoren gegen Millionen von Verelendeten, für gravierende Menschenrechtsverletzungen an den Peripherien der brasilianischen Städte. Die Berlinale-Kritik verniedlicht, spricht immer nur von Drogenhändlern, Drogenbossen, Drogenbanden. Da mochte mancher Leser denken, es handele sich in Rio de Janeiro um jene eher harmlose Art von Dealern, die man inzwischen auch in Deutschland kennt. Hier geht es indessen um kriegsmäßig selbst mit NATO-Bazookas, schweren Luftabwehr-MGs und Granaten ausgerüstete Kommandos des organisierten Verbrechens, die durch Auftragsmorde, Attentate, massenhafte Geiselnahmen, illegalen Waffenhandel, Banküberfälle, Fracht- und Autoraub, bewaffnete Attacken auf ganze Wohnblocks und eben auch Drogenhandel gigantische Profite machen.

Wer immer noch nicht verstehen will, sollte sich einfach einmal derartige Szenen in Berlin, Hamburg oder München vorstellen. Scheiterhaufen beispielsweise im Prenzlauer Berg, an der Alster oder im Englischen Garten. Denn auch in Rio oder São Paulo lodern die »Microondas« gar nicht weit entfernt von City und Mittelschichtsvierteln. Und wer jetzt noch Zweifel hat, woher Elitetruppe-Kommandant Wagner Moura einen Teil seiner täglichen Motivation nimmt, sollte sich einmal vorstellen, daß in Deutschland täglich Polizisten bei heimtückischen Attentaten der Verbrechersyndikate liquidiert und selbst in der Freizeit unerbittlich verfolgt würden. Am Tage nach der Berlinale-Preisverleihung traf es alleine in Rio de Janeiro drei Beamte. Einer davon bewachte ein Krankenhaus.

Immer wieder werden auf simple, nur mit Revolvern ausgerüstete Streifenpolizisten Handgranaten geworfen, Polizeiwagen und deren Insassen mit MG-Garben durchsiebt. Zeitungen drucken Fotos von zu Fleischfetzen zerschossenen Beamten. Rio hat übrigens etwa die gleiche Einwohnerzahl wie ganz Kuba. »Es ist notwendig, endlich einmal das Denken und Fühlen der Polizisten im permanent lebensgefährlichen Einsatz zu verstehen«, meint Regisseur Josè Padilha. Interessant, daß er damit bei den Berlinale-Kritikern größtenteils auf taube Ohren stieß, nicht aber bei der Jury um Costa-Gavras.

In Brasilien weiß jeder, daß zweifelhafte NGO, die teilweise sogar Gelder aus der Ersten Welt abfassen, in Slums fragwürdigste »Sozialprojekte« betreiben und dabei mit Gangstersyndikaten und Politikern gemeinsame Sache machen und am Drogengeschäft kräftig mitverdienen. Seit langem ist zudem bekannt, daß sich Politiker und deren Anhang mittels solcher Slum-NGO und »Sozialprojekte«, in denen Unmengen öffentlicher Mittel versickern, bereichern. Padilha zeigt dies im Film exemplarisch und deckt die widerliche Scheinheiligkeit betuchter Mittelschichtsstudenten auf, die lediglich so tun, als rühre sie das Leid der Slumkinder. Doch siehe da – in Berlinale-Kritiken werden daraus von Idealen beseelte, junge Progressive, die neben der Uni noch wahre Sozialarbeit machen wollen und sich nur deshalb, weil’s nun mal nicht anders geht, halt mit den Banditen gutstellen müssen.

Blamabel zudem, daß im Gegensatz zu Costa-Gavras die politische Brisanz des Streifens auch für Länder der Ersten Welt nicht erkannt wurde: Wo das organisierte Verbrechen herrscht und Ausgangssperren verhängt, immer mehr No-Go-Areas entstehen, wird von den lokalen Despoten Protestpotential erstickt, wie Regisseur Padilhas intellektueller Berater Luiz Eduardo Soares betont, einer der renommiertesten brasilianischen Sozialwissenschaftler.

Josè Murilo de Carvalho, Mitglied der brasilianischen Dichterakademie und in Rio Tür an Tür mit Olga-Benario-Tochter Anita Prestes Uni-Geschichtsprofessor, sagt es noch deutlicher: »Die Existenz des organisierten Verbrechens in den Slums blockiert die Politisierung der Bewohner, hält sie ruhig, verhindert eine Rebellion, Protestaktionen jeder Art. Auch wenn es absurd klingt: Die Gangsterkommandos dienen damit der Aufrechterhaltung von politischer Stabilität im Lande – und das ist nicht wenigen Autoritäten sehr recht. Ohne Zweifel gehört zum strategischen Kalkül auch der jetzigen Regierung, daß es wegen der so hilfreichen Gangsterkommandos keine soziale Explosion geben wird – und das ist natürlich reiner Zynismus.«

Falls die Lage in den Slums doch einmal außer Kontrolle gerät, so Luiz Eduardo Soares, würde der Staat die Armee oder Sondereinheiten der Polizei in Marsch setzen. Eine davon ist jene Tropa de Elite von Rio de Janeiro. Deren Beamten ist ihre widersprüchliche Funktion durchaus bewußt.

Niemeyer und das Blutbad von Brasilia

In bestimmten europäischen Medien, in Feuilletonredaktionen, Verlagen und PR-Agenturen herrscht seit Jahrzehnten panische Angst vor diesem Thema, jeder kleinste Hinweis wird unterdrückt. Indessen existieren die Fakten: Der vielfach preisgekrönte brasilianische Dokumentarfilmer Vladimir Carvalho hörte von einem Blutbad, gar einem Massaker an protestierenden Bauarbeitern Brasilias im Jahre 1959, und holte zahlreiche Zeitzeugen vor die Kamera. Für den – das erste Mal auf dem Brasilia-Filmfestival von 1990 gezeigten – Streifen erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, sogar von der brasilianischen Bischofskonferenz CNBB und von der Kritikerassoziation São Paulos. In einem langen Exklusivinterview äußerte sich Carvalho zu den Vorgängen und Hintergründen bei der Errichtung Brasilias. Einer, der die Bauarbeiten beaufsichtigte, war Oscar Niemeyer. Es wird gern und häufig jene Heldensage, jener regelrechte Mythos um die Errichtung der brasilianischen Hauptstadt verbreitet, nach dem der große Architekt Niemeyer immer nahe bei seinen geliebten Arbeitern gewesen sei, im Staub der Savanne. Alle hätten an einem Strang gezogen und gemeinsam das gigantische Werk vollbracht, das schon bald darauf zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt wurde. Aber es existieren auch dem widersprechende Darstellungen, darunter Carvalhos Dokumentarfilm „Conterraneos Velhos de Guerra“ und ein Exklusivinterview mit einem der Bauarbeiter. »Der Bauplatz von Brasilia war damals ein Wilder Westen«, sagt Carvalho, »alles mußte schnell gehen, die Fristen waren kurz. Entsprechend wurden die Arbeiter behandelt. Wie berichtet wird, gab es sogar verdorbenes Essen. Und während eines Karnevals verstieg sich die Bauleitung dazu, das Wasser im Bauarbeiterlager abzustellen, um zu verhindern, daß sich die Arbeiter waschen konnten, um danach in Nachbarstädten des Teilstaates Goias Karneval zu feiern. Eines Tages war das Essen wieder verdorben – das brachte das Faß zum Überlaufen. Die Arbeiter verloren die Geduld, warfen die Teller mit dem Essen aus dem Fenster, aus Protest. Da rief man die Bauplatzpolizei, die Guarda Especial de Brasilia, die sollte eingreifen. Die Arbeiter wehrten sich nach Kräften, schafften es sogar, die Bauplatzpolizei zurückzutreiben. Der Tag verging – doch nachts, als alle im Bauarbeitercamp schliefen, kam die Polizei erneut und feuerte mit Maschinenpistolen in das Lager. In Brasilien sagt man, das Volk übertreibe, aber erfinde nichts – O povo aumenta, mas nao inventa. Das Volk könnte also die Vorfälle übertrieben geschildert haben – es hat aber nichts erfunden, sondern ging von einem konkreten Fall aus. So könnte man die Zahl der Ermordeten zu hoch angegeben haben. Im Film sagt einer dreißig Tote, ein anderer sechzig, wieder ein anderer 120, einer sogar etwa fünfhundert. Ich habe im Dokumentarfilm Positionen von Personen aneinandergereiht, die damals dabei waren, oder die Vorfälle mitbekommen hatten. Ich kann nichts beweisen. Der Film ist lediglich ein Wort gegen alle, die heute behaupten, es habe kein Blutbad gegeben – und die in der Regel mit der damaligen Administration liiert waren und den damaligen Staatspräsidenten Juscelino Kubitschek loben. Es handelte sich damals um eine Repressalie gegen revoltierende Arbeiter. In Brasilia kann man noch heute Ältere, darunter Taxifahrer von damals, treffen, die davon berichten und deutlich sagen: Ja, es gab diese Toten! Nur eine einzige Zeitung, O Binomio aus Belo Horizonte, die in Opposition zur Kubitschek-Regierung stand, wagte über eine Revolte von Bauarbeitern zu berichten, die gewaltsam unterdrückt worden sei und daß es offenbar Tote gegeben habe. Wegen dieser Toten, wegen des ganzen Falles wurde übrigens Brasiliens erste Bauarbeitergewerkschaft gegründet. Es gab damals viele Unfälle. Viele Bauarbeiter fielen von den Gerüsten, Tote wurden rasch beseitigt, damit die Lebenden nicht die Lust verloren, und der Bau in hohem Tempo fortgesetzt werden konnte. Zeugen sagten: Die Bauarbeiter konnten nur wenige Stunden schlafen, sich nur wenig ausruhen, sie sollten den Bau ja beenden. Die Arbeiter waren schlichtweg fix und fertig, deshalb kam es zu diesen Unfällen. Weil man eben die Sicherheitsbestimmungen stark gelockerte hatte.« Vladimir Carvalho befragte für den Dokumentarfilm auch Oscar Niemeyer: »Ich ging zu ihm, weil ich dachte, er kenne die ganze Geschichte, könne alles bezeugen, könne bestätigen, was die anderen mir sagten. So wie eine einfache Wäscherin: Am Tage des Massakers wollte sie den Arbeitern die gewaschenen Sachen ins Lager bringen, doch man ließ sie nicht hinein. Sie hob die Sachen ein ganzes Jahr lang auf – und als sie erfuhr, was da im Lager passiert war, verschenkte sie die Sachen der Bauarbeiter an andere Leute. Doch Oscar Niemeyer verneinte, daß das Blutbad geschehen sei, er sagte: Davon weiß ich nichts, davon habe ich noch nie etwas gehört. Er war ein großer Freund von Juscelino Kubitschek. Auch über die Arbeitsunfälle wollte Niemeyer nicht reden. Und heute will gleich gar keiner von den Leuten oben über die Vorfälle sprechen. Niemeyer wird jetzt hundert Jahre alt, niemand will ihn verärgern. Für dessen Biographie ist der Fall nicht gut.« Carvalho befragte für den Film auch den Architekten Lucio Costa, der mit Niemeyer in Brasilia zusammenarbeitete. »Als ich Costa auf den Fall ansprach, sagte er mir: Was willst du denn, das war der Bau einer Stadt, kein Duett tanzender Kavaliere.« Laut Carvalho wurde zwar eine Untersuchung zu den Vorgängen gestartet, doch seien, wie es heiße, die Unterlagen verbrannt. Laut der Aussagen eines Zeitzeugens im Film wurden die ermordeten Bauarbeiter dort verscharrt, wo heute in Brasilia der Fernsehturm steht. Einige hätten noch gelebt, als die Planierraupe die Erde über sie schob. 1997 wurde in Brasilien das Buch „Conterraneos Velhos de Guerra“ herausgegeben, das das gesamte Drehbuch sowie die Kritike rstimmen über den Dokumentarfilm enthält. Es steht allen zur Verfügung, die über Niemeyer und Brasilia schreiben sowie Ausstellungen und PR organisieren.

Brasilia-Bauarbeiter Wagner M. , 2007 bei Sao Paulo  auf das Blutbad angesprochen, erinnert sich im Website-Exklusivinterview sofort: „Ja, das ist damals tatsächlich passiert.”

Es heißt, bei Protesten, etwa gegen verdorbenes Essen, seien Hunderte von der Bauplatzpolizei erschossen worden? „Das gab es immer wieder, ich habe das gesehen, ich war Zeuge. Es war diese Bauplatzpolizei, die gemordet hat. Doch man konnte sie nicht anzeigen, alle hatten Angst vor ihr. Es gab Repression. Und wer gar etwas gesehen hatte und darüber offen redete –  solche Zeugen wurden liquidiert. So war das damals in Brasilia.”

Schützer oder Zerstörer?

In der südbrasilianischen Millionenstadt Porto Alegre, wo zweimal das Weltsozialforum stattfand, betonten jetzt auf ihrer »Kontinentalversammlung« die Guarani-Indianer Südamerikas, stets mitten in der Natur gelebt und sie immer respektiert zu haben. Andere Stämme Lateinamerikas unterstreichen ebenfalls die Harmonie zwischen Indio, Tier und Pflanze. Indianer, so liest man auch in Deutschland immer wieder, seien die reinsten Ökologen, geradezu geniale Naturschützer. Indianer agierten durchweg umweltfreundlich, entnähmen der Natur nur, was unbedingt nötig sei. Zerstörung der Natur durch Indianer – undenkbar, unmöglich. Doch renommierte brasilianische Biologen und Umweltaktivisten sagen, es handele sich bei diesen Aussagen um Unsinn, um Dummheiten, sogar um Lügen. Was Indianer in ihren eigenen Reservaten und in den großen Schutzgebieten allein in den vergangenen zehn Jahren angerichtet hätten, zeige ein ganz anderes Bild. Bereits ein Blick in die brasilianische Qualitätspresse fördert Verwirrendes bis Beunruhigendes zutage. Antonio Miquiles, Stammesführer der Saterè-Mauè in Amazonien erklärt, daß Indios seiner Region mit Dynamit fischten und deshalb die Fische auszusterben beginnen. Amazonasindianer, liest man weiter, benutzten zur Jagd nicht mehr Pfeil und Bogen noch gar Blasrohre, sondern moderne Gewehre und Maschinenpistolen. Früher traf man im Amazonasurwald häufig auf Primaten. Heute sind in weiten Teilen die größeren Arten bereits extrem selten geworden oder gar lokal ausgerottet. Brasiliens Zeitungen berichten, daß sich der Konflikt zwischen Indianern und Umweltschützern ständig verschärfe, weil Indianerstämme die eigenen, zum Teil riesigen Reservate abholzen und dabei zu Komplizen von Holzunternehmen werden. Sie dringen systematisch in die Schutzgebiete für vom Aussterben bedrohten Arten ein, beuten diese Regionen kommerziell aus und zerstören sie systematisch. Mit Motorsägen roden Indianer sogar Urwald in einem Unesco-Welterbe-Schutzgebiet, dem Nationalpark »Monte Pascoal« in Bahia. Wie steht Mario Mantovani, Präsident der angesehenen Umweltstiftung SOS Mata Atlantica in São Paulo, zu Auffassungen, nach denen den Indios als exzellenten Hütern des Regenwaldes jede zerstörerische, gar kommerzielle Nutzung der Natur völlig fremd sei? »Das ist natürlich eine idealisierte Sicht. Diese idyllische, vereinfachende Darstellung der Indios lassen wir lieber beiseite. Die Indianer handeln wie jeder andere Naturzerstörer auch. Und deren Fähigkeit zur Zerstörung, deren Druck auf die Natur wächst – je mehr sich der Staat zurückhält, untätig bleibt. Indioführer verursachen in der Natur ein Desaster.« Vor allem Häuptlinge wurden durch illegalen Handel mit Edelhölzern, Edelsteinen und Rauschgift zu Millionären. Jeder kann es beobachten: Indianer bieten vom Aussterben bedrohte Tiere feil und beliefern Souvenie rläden und Souvenierfirmen mit den Federn selbst seltenster Vögel. Nur zu oft heißt es hierzulande, die portugiesischen Kolonialisten hätten in Brasilien die grauenhaften Brandrodungen eingeführt, die bis heute landesweit – nicht nur in Amazonien – die Wälder und die Savannen dezimieren und den entsetzlichen Feuertod ungezählter Tiere bewirken. Marcos Sà Correia sieht es differenzierter, verweist auf seriöse Studien: »Die Indianer pflegten Urwald abzubrennen, um sich die Jagd zu erleichtern oder um Anbauflächen zu gewinnen. Schauen wir auf die Wüsten von New Mexico – bereits vor der Entdeckung waren sie von den Indianern durch Waldvernichtung geschaffen worden. Auch auf den Osterinseln wurde aller Wald durch Indios zerstört.« Große Regionen mit Savannenvegetation seien in Amazonien keineswegs natürlich entstanden, sondern durch Brandrodungen der Indianer, lange vor der Entdeckung des heutigen Brasilien durch die Portugiesen. Bis heute, betonen selbst Behörden, trieben sich die Jäger immer noch das Wild mit Flammenwänden zu. Problematisch werde es, wenn das Feuer außer Kontrolle gerate und enorme Reservatsflächen zerstöre. Der Biologe Fabio Olmos arbeitete bereits als Berater für das Umweltprogramm der UNO, aber auch für die Welternährungsorganisation FAO. »Analysieren wir die Fakten – ohne Vorurteile. Die Völker Polynesiens haben mindestens zweitausend Vogelarten ausgerottet – viel mehr als wir in der westlichen Industriekultur. Schauen wir in die Berichte der Entdecker Amerikas – da wird die Brandrodung ebenso beschrieben wie die unintelligente Jagd. In Nordamerika zum Beispiel haben die Indianer viel mehr Büffel getötet, viel mehr Tiere über Felsklippen in den Abgrund getrieben, als sie konsumieren konnten. Indianergruppen betreiben durchaus Artenvernichtung, agieren keineswegs umweltverträglich, führen wichtige Naturressourcen zum Kollaps und schaden sich damit selbst am meisten. Die These, daß Indios Selbstversorger seien, die Natur lediglich moderat ausbeuten, ist eine Lüge. Die sogenannten traditionellen Völker besitzen keine Philosophie der Naturbewahrung.« Brasilien gehört zu den korruptesten Ländern des Erdballs, selbst die sogenannten regierungsunabhängigen Organisationen, die NGOs, sind wegen Korruption und anderen betrügerischen Machenschaften regelmäßig in den Schlagzeilen. Der berühmte Staatspark Intervales bei São Paulo war einst die Perle in der Krone des brasilianischen Atlantikwaldes, dessen bestgeschützte Region. Doch dann holten NGOs aus anderen brasilianischen Teilstaaten und sogar aus Paraguay Guarani-Indianer, transportierten sie mit Bussen in diesen Staatspark, pflanzten sie dort hinein. Und nun zerstören diese Indios das Schutzgebiet. Jene NGOs leben davon, für Indios sogenannte nachhaltige Entwicklungsprojekte zu realisieren, sie bekommen dafür Gelder sogar aus dem Ausland, auch von Regierungen. Wie überall gibt es auch in dieser Szene Gauner, die schlicht und einfach Gelder abfassen wollen – per Umweltbetrug. Laut Olmos kommerzialisieren die Bewohner der Guarani-Dörfer in den Atlantikwäldern seltenste Orchideen und Bromelien, natürlich illegal, und schießen selbst im Staatspark Intervales mit ihren Jagdflinten seltene Tiere ab, verkaufen das Wildbret an Restaurants und Privatpersonen. Und schaffen damit in der Region auch soziale Spannungen: weil die Indios eben dürfen, was den Nicht-Indios laut Gesetz strengstens verboten ist. Zudem brachten die Guarani in die besetzten Naturschutzgebiete ihre Hunde mit, die dort ungehindert Wildtiere jagen. Viele Brasilianer haben Indios als Vorfahren, sind Mischlinge. Wie gehen sie mit der Natur um? Elena Silveira aus dem nordöstlichen Teilstaat Cearà diskutierte in der Kindheit mit dem eigenen Vater, einem Indionachfahren, weil er illegal mit dem Gewehr den nahen Wald bis zum allerletzten Tier leerwilderte – und auch den nahen See komplett leerfischte, zum Schaden der eigenen Familie. »In Brasilien fehlt der Gedanke, für kommende Generationen die Natur zu bewahren. Man denkt, Hauptsache für mich reicht es. Morgen bin ich ohnehin nicht mehr auf der Welt. Und wenn es heißt, ein Tier stehe vor der Ausrottung, sagt man: ›Na und? Das ist doch egal.‹ Man denkt nur an heute.«

Moderne Scheiterhaufen

Stellen wir uns vor, in Havanna oder Moskau würden Oppositionelle, Bürgerrechtler lebendig verbrannt. Wie dann westliche Medien, Regierungen, Institutionen, Parteien reagieren würden, weiß jeder. Aber halten wir uns an die Fakten. In Lateinamerikas größter bürgerlicher Demokratie ist das Verbrennen von Mißliebigen bei lebendigem Leibe seit Jahrzehnten Praxis und jenen Medien, Regierungen, Institutionen, Parteien bestens bekannt. Fotos und Augenzeugenberichte gehen regelmäßig durch brasilianische Zeitungen. Doch Reaktionen bleiben aus, brasilianische Menschenrechtsaktivisten sind tief enttäuscht. Seine neueste Arbeit hat der mehrfach preisgekrönte brasilianische Fotograf Rogerio Reis aus Rio de Janeiro den modernen Scheiterhaufen im Parallelstaat der Slums gewidmet. Reis wird die Fotoinstallation in Paris zeigen, will die Weltöffentlichkeit über diese »Akte der Barbarei« informieren und darüber eine Debatte in Gang bringen. Die Installation aus 24 Fotos heißt Microondas, Mikrowelle. So nennen die Slumdiktatoren des organisierten Verbrechens – und inzwischen auch der Volksmund – jene Scheiterhaufen aus Autoreifen, auf denen regelmäßig Menschen lebendig verbrannt werden. Auch, um damit Millionen von Bewohnern der Elendsviertel einzuschüchtern. Man kann sich in die Installation von Rogerio Reis stellen und sieht sich dann umzingelt von großen Farbfotos, die Autoreifen in Flammen zeigen. Auf journalistischen Schwarzweißfotos ist der Horror ganz konkret zu sehen. Die Reifen werden gewöhnlich über das gefesselte Opfer gestapelt und dann angezündet. »Aus Empörung über diese Akte der Barbarei, diesen unglaublichen Terror habe ich die Fotoinstallation geschaffen – eine Art von engagierter Kunst«, sagt Reis. »Daß da willkürlich Menschen gefoltert, außergerichtlich zum Tode verurteilt und schließlich verbrannt werden – das darf man doch nicht hinnehmen. Ein enger Freund von mir, der brasilianische Fernsehjournalist Tim Lopes, erlitt dieses Schicksal, ist eines der vielen Opfer. Ich will mithelfen, diese Zustände zu beseitigen – man muß endlich damit anfangen. Ich will die Mittel der Kunst nutzen, um anzuklagen.« Reis stellte seine Installation auch im Kulturzentrum der brasilianischen Bundesjustiz in Rio de Janeiro aus. Die Zeitung O Globo schilderte zeitgleich – und zum wiederholten Male – in einer Artikelserie die Zustände in der Slumdiktatur. Die Zahl der Verschwundenen sei heute 54 Mal höher als während des 21jährigen Militärregimes. O Globo berichtete auch über die Sondergerichte der Slumdiktatoren, über deren drakonische Strafen und über die Scheiterhaufen. Sie sind kein neues Phänomen in der brasilianischen Demokratie, und, wie Reis betont, wissen verantwortliche Politiker, internationale Menschenrechtsorganisationen und auch Intellektuelle Brasiliens seit langem darüber bescheid. Auffällig sei das Schweigen. »Diese Akte der Barbarei sind ein solcher Rückschritt im zivilisatorischen Prozeß, daß viele Leute den Tatsachen nicht ins Auge sehen und dies alles nicht wahrhaben wollen. Ich sehe da auch viel Scheinheiligkeit. Über diese grausamen Menschenrechtsverletzungen muß man diskutieren – doch just dies ist nicht erwünscht. Der Staat hat sämtliche Machtmittel, um diese Barbarei sofort zu beenden, doch dazu fehlt politischer Wille.« Der dunkelhäutige Schriftsteller Paulo Lins schrieb den sozialkritischen Bestseller Cidade de Deus (Gottesstadt), über einen Rio-Slum, war Co-Regisseur der Buchverfilmung. Die kam als City of God in die europäischen Kinos, zerstörte bei vielen sozialromantische Brasilienklischees. »In City of God arbeitete ich auch mit dem Musiker und Poeten Marcelo Yuka eng zusammen, der auf seiner neuesten CD einen Titel diesen modernen Scheiterhaufen gewidmet hat. Da beschreibt er die Gefühle der Slumbewohner, wenn ihnen der Geruch brennender Autoreifen in die Nase steigt – und alle genau wissen, was ganz in ihrer Nähe geschieht. Marcelo Yuka wurde von neun Banditenschüssen getroffen, er sitzt gelähmt im Rollstuhl.« Rocha zählt zu den wichtigsten investigativen Journalistinnen Brasiliens und hat Yuka in ihrer O-Globo-Artikelserie auch zur Kulturzensur zitiert: »HipHop und Funk sind heute die typische Musik der Slums von Rio, es gibt viele Gruppen, Bands. Doch die gesamte kulturelle Produktion wird von den Gangstersyndikaten kontrolliert, zensiert. Natürlich darf in den Musiktiteln die Polizei kritisiert werden, nie aber das organisierte Verbrechen. Andernfalls würden die Musiker mit dem Tode bestraft. Die NGO dort müssen sich ebenfalls dem Normendiktat unterwerfen. Um die Kontrolle über den Informationsfluß des Slums zu halten, hören Banditenkommandos die Telefongespräche der Bewohner ab, überwachen selbst den Austausch von E-Mails. Gangstermilizen befehlen, daß Kleidung bestimmter Marken, Geschäfte und Farben nicht getragen werden darf.« Eine an Fakten orientierte Berichterstattung über soziokulturelle Tatsachen in bestimmten Ländern wird heute in Deutschland zunehmend durch Zensur behindert, verhindert. Wo, wie, in welchen Medien und Institutionen kräftig zensiert wird, bekommt man heute dank google rasch heraus. Machen Sie einfach mal den Test, etwa mit einigen Stichworten aus diesem Beitrag.

Indio-Realitäten

Mehr als die Hälfte der rund fünfhunderttausend brasilianischen Indianer ist bereits in die Städte gezogen – doch auch die übrigen übernehmen vieles vom Lebensstil der weißen und schwarzen Brasilianer. Im größten Indianerreservat nahe der westbrasilianischen Stadt Dourados läßt sich das gut beobachten. Das Reservat macht immer wieder Schlagzeilen, weil dort Indiokinder an Unterernährung sterben. Doch sie Situation ist widersprüchlich. Grüne flache Landschaft mit einzelnen Baumgruppen, soweit das Auge reicht. Dazwischen immer wieder freistehende schlichte Backsteinhäuschen der Indiofamilien vom Stamme der Guarani, der Kaiowà und der Terena. Vor nicht wenigen Häuschen sind Autos und Motorräder geparkt. Die Terena sind auffällig wohlgenährt, viele sogar beleibt, und verfügen über einen höheren Lebensstandard sowie ein deutlich höheres Bildungsniveau als die schlanken, gar mageren Guarani und Kaiowà, mit denen früher die Terena verfeindet waren. Heute begegnet man sich nur noch mit Mißtrauen, will voneinander nichts wissen. Inmitten des Reservats ein traditioneller Bau – das große Gebetshaus der Kaiowà, errichtet aus Palmstroh und Baumstämmen. Aldemiro, der Gesundbeter, trägt auch drinnen eine Schirmmütze mit englischer Aufschrift, ein buntes T-Shirt, Shorts, Plastiksandalen. Aldemiro räumt ein, daß seine Gebete bei manchen Krankheiten wirkungslos seien. Mitten im Gebetshaus starben daher schon unterernährte Kinder. Nicht zufällig betet Aldemiro für Frieden im Reservat – denn die Gewaltrate unter den Indios ist hoch. Erst kürzlich erschossen zwei Indianer einen Häuptling, erstach ein Jugendlicher eine Frau, die er für eine Hexe hielt. Es gebe Lynchjustiz. Trotz vieler barbarischer Morde dominiere Straffreiheit. »Manche meinen, daß es unter den Indianern sehr sozial, sehr gemeinschaftlich zugehe, daß es sich um ›Gutmenschen‹, um edle Wilde handele«, sagt der Arzt Zelik Trajber vom staatlichen Indianer-Gesundheitsdienst FUNASA: »Doch das ist eine falsche, romantisierende Sicht, so war es noch nie.« Trajber stammt aus Polen, die meisten seiner Familienangehörigen wurden wegen ihrer jüdischen Herkunft von den Nazis umgebracht. Seit sechs Jahren ist er für die Gesundheitsbetreuung der rund sechzigtausend Indios des Teilstaates Mato Grosso zuständig, kennt die Situation im Reservat wie kaum ein zweiter. Immer wieder fallen einem große Sojafelder auf, während Pflanzungen für Maniok und anderes Gemüse eher selten sind. Laut Gesetz müßte im Reservat jede Indiofamilie die gleiche Fläche besitzen – doch einige haben sehr viel Land, andere so gut wie gar nichts. »Hier gilt das Recht des Stärkeren«, sagt Zelik Trajber. »Es sind Indioführer, die ihre vielen Ländereien ausgerechnet an Großgrundbesitzer für den Sojaanbau verpachten. Auf diesen Flächen müßte man zumindest Subsistenzlandwirtschaft betreiben, Lebensmittel produzieren. Schließlich gibt es hier noch Unterernährung, verteilen wir Nahrungspakete an bedürftige Familien. Weil ich gegen die Verpachtung und gegen den Sojaanbau bin, habe ich bereits viele Morddrohungen erhalten.« Ambrosio Marangatu ist Häuptling des Reservatsdorfes Bororò. Was er zur Verpachtung, zu den vielen Sojaplantagen sowie zur reduzierten Subsistenzlandwirtschaft sagt, wirkt mehr als widersprüchlich. »Früher haben zehn, zwölf Indianer verpachtet, doch heute nicht mehr. Um große Flächen bearbeiten zu können, brauchen wir Landmaschinen – doch die Indianerbehörde FUNAI will uns dabei nicht helfen. In drei Jahren wird es hier zudem keine Flächen für Anpflanzungen mehr geben, weil die Indiobevölkerung stark angewachsen sein wird. In meinem Dorf Bororò leiden viele Kinder Not – das ist meine Hauptsorge. Der Staat muß uns die Nahrungsmittel stellen.« Brasiliens Stammesorganisationen beklagen gewöhnlich, daß die Indios über immer weniger Lebensraum verfügten und es kaum noch Jagd- und Fischgründe gebe. Doch Häuptling Marangatu sieht dieses Problem nicht. »Es gibt hier viele Mütter, viele Väter ohne Arbeit – ich selbst bin arbeitslos. Wir alle suchen Beschäftigung, aber es gibt eben keine. Und deshalb leiden wir, sterben in unserem Reservat Kinder an Unterernährung. Erst fehlte der Trinkwasseranschluß für unsere Häuser, jetzt haben wir ihn. Dann fehlte uns Elektrizität – die haben wir jetzt auch. Doch Nahrung für die Kinder fehlt immer noch.« Der Häuptling sagt indessen nicht, daß immerhin siebzehntausend der rund sechzigtausend Indios im Teilstaate bereits in Zucker- und Ethanolfabriken arbeiten, viele Indianer des Reservats eine Rente oder staatliche Hilfen des Anti-Hunger-Programms der Regierung beziehen. Luciano Arevolo zählt ebenfalls zu den Führern des Reservatsdorfes Bororò. Er kritisiert, daß Indianer die Nahrungsmittelpakete gegen Schnaps eintauschten. Häuptling Marangatu bestreitet dies. Auch sei es nicht wahr, daß manche Mütter die eigenen Kinder stark vernachlässigen, sogar sterben lassen, wie dies andere Häuptlinge beklagen. Manfred Göbel von der Deutschen Lepra- und Tuberkulosehilfe koordiniert in Brasilien die Arbeit von fünfzehn internationalen Leprahilfswerken und arbeitet im Reservat von Dourados eng mit Zelik Trajber zusammen. Göbel verweist auf bestimmte kulturelle Faktoren, darunter den starken Machismus. »Das Problem liegt auch in der indianischen Kultur: Wenn Nahrung da ist, essen zuerst die Männer. Die Frauen dürfen das erst danach. Denn wenn die Frau vor Hunger stirbt, kann er sich eine andere nehmen. So – etwas einfach erklärt – ist die Mentalität. Erst zuletzt essen die Kinder. Denn wenn ein Kind stirbt, kann man ja ein anderes zeugen. Es ist deshalb nicht damit getan, daß man den Indios Nahrungsmittel liefert, und es dann so abläuft: Zuerst der Mann … Es müssen neue Strategien entwickelt werden, damit auch die Kinder genügend zu essen bekommen.« Im Reservat von Dourados hat Zelik Trajber mit solchen Strategien bereits Erfolg. Er läßt täglich in jedem Indiodorf für die Kinder nahrhafte Suppen kochen. Deutlich unterernährte Kleinkinder werden in einem FUNASA-Heim wieder aufgepäppelt. Doch manche Eltern verweigern die Einweisung. Weil viele Indianer glauben, daß Krankheiten von Hexerei und bösem Zauber herrühren, lehnen sie jede medizinische Hilfe ab. Derzeit werden im Heim vierzig Kinder betreut – mehrere haben Behinderungen oder kamen mit einer Hasenscharte zur Welt, sie werden demnächst operiert. Die Leiterin Amelia Navarro hat eines der Babies auf dem Arm und schildert den bei Indiostämmen üblichen Infantizid – Mütter töten ihre Kinder beispielsweise wegen Behinderungen, Geburtsfehlern, gar wegen des nicht erwünschten weiblichen Geschlechts. Zelik Trajber und sein Team haben in sechs Jahren erreicht, daß die Kindersterblichkeitsrate des Reservats heute unter dem Gesamtdurchschnitt Brasiliens liegt. Für die riskante Arbeit in einem Gebiet von der Größe Deutschlands erhält der Sechzigjährige umgerechnet 2200 Euro im Monat. Indios sterben heute nicht mehr hauptsächlich an den Folgen von Unterernährung, sondern vor allem an Herz- und Kreislaufkrankheiten, so wie der Rest der Brasilianer auch. Beim Stamm der besonders akkulturierten Terena hat Trajber sowohl bei Erwachsenen als auch schon bei Kleinkindern sogar das Problem der Fettleibigkeit und zunehmender Diabetes. »Die Gesundheitsbetreuung ist im Reservat heute besser als in den Slums von Rio oder São Paulo.«

Kindermord

Aus Amazonien wurde ein unerhörter Fall vermeldet, den auch die deutschen Medien teilweise aufgegriffen haben. Viertausend Kilometer von Rio de Janeiro und São Paulo entfernt hatte ein Indianermädchen im Alter von nur neun Jahren ein Kind geboren. Es war offensichtlich vergewaltigt worden. Die Polizei fahndete nach dem Täter, auch die staatliche Indianerschutzbehörde FUNAI und Amazoniens wichtigste Indianerorganisation Coiab schalteten sich ein. Erdölarbeiter hatten das Mädchen stark geschwächt und abgemagert, mit hohem Fieber, Malaria und einer Lungenentzündung angetroffen und sofort in ein Hospital gefahren. Die Medizinerin Ana Lucia Salazar von der Coiab sagte auf Anfrage, das Mädchen sei mit dem Baby aus der Klinik ins Dorf der Apurina-Indios zurückgekehrt, die Anzeige gegen den mutmaßlichen Täter habe man zurückgezogen. »Denn aus der Sicht der Indianer, gemäß ihren Alltagssitten und Gebräuchen wurde hier kein Verbrechen begangen, obwohl das brasilianische Strafrecht den Tatbestand eindeutig als Vergewaltigung definiert. Die Indios wollen darüber nicht reden – aber jeder im Dorf weiß, wer der Vater des Babys ist. Auch bei anderen Stämmen, wie den Yanomami läuft es so – ab der ersten Menstruation werden die Mädchen von den Männern als tauglich für Sex angesehen und dafür ausgewählt. Gewöhnlich werden die Indianerinnen mit zehn, zwölf Jahren schwanger und leben dann mit jemandem zusammen.« In der für die gesundheitliche Betreuung der Indianer zuständigen Behörde FUNASA wurde ebenfalls betont, im Falle der neunjährigen Indianerin liege ein Sexualverbrechen vor, der Täter müsse gefaßt werden. Brasiliens Kinderschutzstatut habe auch für die Indianer des Landes zu gelten. Edgar Rodrigues vom Stamme der Barè hingegen, Chefadministrator der staatlichen Indianerschutzbehörde FUNAI im Teilstaate Amazonas, plädiert dafür, Indiogebräuche zu achten. Geschlechtsverkehr mit Kindern untern zehn Jahren sei in der Kultur der Apurina-Indios eine normale Sache. »Das gehört zu deren Naturrecht, ist Teil ihrer sexuellen Freizügigkeit. Doch in der Welt der Weißen, in der brasilianischen Gesellschaft gibt es wegen des Mädchens eben einen öffentlichen Aufschrei, denken alle, das war Vergewaltigung. Sex mit acht, neun Jahren ist sicherlich sehr früh, für Weiße abnorm und strafbar, aber in der Apurina-Kultur eben erlaubt.« Rodrigues räumt zwar ein, daß es sich laut Kinderstatut im Falle des Mädchens um sexuellen Mißbrauch handele, doch das Statut sei von den Weißen geschaffen, ohne die Indianer anzuhören und deren Kultur sowie Ethnizität zu respektieren. »Ich finde, es sollte stets Ausnahmegesetze für Indianer, für Indiokinder geben. Man müßte all dies einmal gründlich diskutieren.« Bei den Indios wird auch die systematische Tötung von Kindern im Falle von Geburtsfehlern und Behinderungen praktiziert. Zwar steht in Deutschland der nordbrasilianische Yanomami-Stamm immer mal wieder im Mittelpunkt des Medieninteresses, doch Hinweise auf systematische Tötung behinderter Kinder fehlen meist. Ana Lucia Salazar bestätigt, daß der Infantizid bei den Yanomami praktiziert wird. »Für mich ist die Kindstötung nur schwierig zu verstehen, aber für die Yanomami ist es ein Akt der Liebe zum Kind. Die Indios sehen es so: Wenn ein Kind mit Geburtsfehlern, mit Behinderungen zur Welt kommt, wird es leiden, auch später als Erwachsener, wird es diskriminiert, wird es eben Gesundheitsprobleme haben.« FUNAI-Chefadministrator Edgar Rodrigues nennt den Kindermord aus Indiosicht etwas Natürliches: »Ein Kind mit Behinderungen, mit Mängeln würde aus deren Sicht, gemäß deren Kosmologie nicht für die Arbeit hier auf der Erde nützen. Deshalb gibt es den Infantizid. Denn ein solches Kind hätte nicht alle Potenzen für den Dienst an der Gemeinschaft. Und damit dieser Mensch eben nicht das ganze Leben leidet, praktizieren sie frühe Euthanasie. Sie ist nicht nur bei den Yanomami, sondern auch bei anderen Stämmen Amazoniens, selbst bei den Apurina, dem Stamme jenes neunjährigen Mädchens, üblich.« Die Mütter verscharren Kinder mit Behinderungen, aber auch solche, die Resultat von Ehebruch, Inzest oder sexueller Gewalt sind, sofort nach der Geburt. Zudem gibt es Stämme, die Zwillinge töten. Nach indianischem Glauben sei eines der Kinder gut, das andere böse. Da man nicht wisse, welches das gute sei, opfere man beide. Brasilianische Rechtsexperten wie der Richter Oswaldo Palotti aus São Paulo betrachten die Tötungen an Indianerkindern als Verbrechen. »Bei präziser Gesetzesauslegung kann eine Indianerin, die ihr Kind nach der Geburt tötet, wegen Mordes verurteilt werden – und nicht wegen Infantizid. Denn das brasilianische Strafrecht definiert als Infantizid eine Tat, die aus einer starken psychischen Erschütterung der Mutter resultiert. Wenn die Tötung indessen aus Fragen der Ehre, der Armut oder aus kulturellen Gründen erfolgte, die Mutter indessen psychisch gesund ist, handelt es sich klar um Mord. Die Strafe beträgt zwischen sechs und zwanzig Jahren Gefängnis. Beim Infantizid ist sie weit geringer, liegt zwischen zwei und sechs Jahren. In einigen Gemeinschaften Amazoniens kann der Indianer derart außerhalb unserer Gesellschaft stehen, daß das Gesetz ihm keine kriminelle Absicht unterstellt. Aber das gilt nicht für eine Indianerin, die etwa in Ubatuba lebt, Hering-T-Shirts und Speedo-Shorts trägt, an der Straße Bogenpfeile verkauft. Sie ist unseren gesellschaftlichen Regeln angepaßt – und dann handelt es sich ohne Zweifel um Mord.« Ana Lucia Salazar und Edgar Rodrigues konstatieren einen enormen Männerüberschuß bei den Apurina. In der Siedlung des Mädchens beispielsweise gebe es 23 Männer, doch nur drei weibliche Wesen, die Neunjährige inbegriffen. Eine Frau war verheiratet, die andere bereits sehr alt – nur das Kind war sozusagen noch ledig. Bekannt ist, daß bei vielen Stämmen die Männer den größten und wertvollsten Teil der Nahrung beanspruchen und den Frauen nur den armseligen Rest übriglassen. Sind die Indiofrauen deshalb anfälliger für Krankheiten, liegt deshalb deren Todesrate höher? Edgar Rodrigues: »Ja, das ist die Wahrheit, so ist es.«

Das erfundene Paradies(2006)

Vor 65 Jahren veröffentlichte Stefan Zweig sein Buch Brasilien – ein Land der Zukunft. Bis heute ist es ein Weltbestseller, ein Klassiker der Brasilienliteratur, der auch bei Deutschen aller Generationen nach wie vor Interesse und sogar Begeisterung für das Tropenland weckt. Wer Brasiliens gravierende Menschenrechtsprobleme, seinen Rassismus und die fortexistierende Sklavenhaltermentalität oder seine keineswegs neuen Sozialkontraste indessen genauer kennt, fragt sich bei der Lektüre des Meisterwerks, ob Zweig nicht gelegentlich irrte, idealisierte, romantisierte, übertrieb oder gar opportunistisch mit historischen Wahrheiten umsprang, sich also realitätsfremd ein Tropenparadies zurechtschrieb. Der brasilianische Zweig-Biograph Alberto Dines aus São Paulo sieht das so (Alberto Dines: Tod im Paradies, Edition Büchergilde Frankfurt/ Main 2006, 29,90 Euro) und spart just nicht mit Kritik. Der Journalist und Autor zählt zu den bekannten jüdischen Persönlichkeiten Brasiliens und hat als Junge Stefan Zweig in Rio de Janeiro noch persönlich kennengelernt. Wer heute dessen Werk Brasilien – ein Land der Zukunft lesen und verstehen wolle, so Dines, müsse stets die Persönlichkeit, das Charakterprofil des Dichters sowie den historischen Kontext im Blick haben. Dies betreffe Zweigs Lob für Brasiliens Rassenharmonie ebenso wie seine Beschönigung des Lebens in den Slums. Neue Studien aus Brasilien, aber auch der Vereinten Nationen beschreiben das enorme Ausmaß an Rassismus und Diskriminierung. »Just der brasilianische Staat«, so 2006 Lucia Xavier von der NGO Criola in Rio de Janeiro, »der den Mythos von der Rassendemokratie konstruierte, pflegt den institutionalisierten Rassismus.« War er während Stefan Zweigs Aufenthalt schwächer als heute? »Damals war all das noch viel grauenhafter«, konstatiert Alberto Dines. Von einer Lösung der Rassenfrage kann weder für damals noch für heute die Rede sein. »Stefan Zweig war kein Sozialwissenschaftler, kein Anthropologe, kein Wirtschaftsexperte. Und er sprach auch nicht Portugiesisch.« Deshalb kam er wohl zu der irrigen Annahme, in Brasilien fehlten ein abfälliges, rassistisches Vokabular, herabsetzende Worte über Negros. »Es ist unbestreitbar, daß man viele Jahre braucht, um in das Leben Brasiliens wirklich einzutauchen – und Stefan Zweig sagt selbst, er sei nur kurze Zeit hier gewesen, habe nur wenige Orte besucht. Er war auch kein politisierter Mensch, er täuschte, irrte sich, auch in politischen Fragen Brasiliens. Ich denke, er hat die Augen vor vielem verschlossen, ich bin da sehr kritisch.« So behauptet Zweig realitätswidrig, in Brasilien habe man noch nie von Brutalität gegenüber Tieren, gar von Hahnenkämpfen gehört, obwohl diese gerade damals in Brasilien außerordentlich beliebt waren. Schwer vorstellbar, daß Zweig nichts davon mitbekommen haben soll. Bei den von Anbeginn der Kolonisierung bis heute üblichen Brandrodungen starben und sterben zudem ungezählte Tiere auf grausamste Art – und jedem Brasilianer ist das natürlich bekannt. Angesichts des heute wie damals extrem sozialdarwinistischen Alltags von Brasilien erscheint Zweigs Beschreibung der hiesigen Landesmentalität teilweise wie ein schlechter Witz. Alberto Dines erinnert daran, daß damals, 1941, in Brasilien der Diktator Getulio Vargas an der Macht war, es eine faschistische Partei mit 600000 Mitgliedern gab und die Politik sowie die öffentliche Meinung von aggressivem Antisemitismus geprägt waren. Ein Vargas-Dekret aus der Zeit der Hitlerdiktatur verbot, europäischen Juden, die nach Brasilien flüchten wollten, ein Einreisevisum auszustellen. Ungezählte endeten deshalb in den KZ. 1936 hatte der als antisemitisch verschriene Vargas taktisch geschickt Stefan Zweig empfangen – genau zwei Tage später lieferte er die Jüdin Olga Benario an Hitlerdeutschland aus. In Bernburg wurde sie vergast. Damals war der deutschstämmige Filinto Müller der gefürchtete Chef der politischen Polizei, er hielt mit seinen Leuten enge Kontakte zur Gestapo, ließ von ihr in Berlin seine Nachwuchskader ausbilden. Alberto Dines konstatiert: »Ein Visum war damals eine kostbare Sache für jeden Juden, der aus Europa flüchten wollte. Und Stefan Zweig machte eben ein Negocio, ein Geschäft mit der Vargas-Regierung – im Tausch gegen ein Dauervisum schrieb er ein Buch zugunsten Brasiliens und erhielt das begehrte Dokument mit unglaublicher Leichtigkeit.« Jorge Amado nennt Brasilien – ein Land der Zukunft ein Auftragswerk. Zweig, so heißt es, habe enge Kontakte zu Vargas unterhalten; dieser wird stets positiv erwähnt. Manche Aussagen von Zweig wirken wie pure Vargas-PR: »Wer das Brasilien von heute erlebt, hat einen Blick in die Zukunft getan.« Oder: »Wer Brasilien wirklich zu erleben weiß, der hat Schönheit genug für sein halbes Leben gesehen.« Bis heute werden solche Zweig-Sprüche gerne von der Reisebürowerbung übernommen. Das Vargas-Regime machte im Gegenzug offen Propaganda für das Buch. Lourival Fontes, rechte Hand von Vargas und sein Propagandachef, charakterisierte das Werk als Dienst an der brasilianischen Nation. Als Brasilien – ein Land der Zukunft herauskam, wurde es von der Presse wegen verschiedenster Ungereimtheiten dennoch arg verrissen; aber Hinweise auf politische Aspekte, gar auf die unterlassene Kritik am Antisemitismus, fehlten durchweg. Denn wer dies gewagt hätte, so Alberto Dines, wäre Gefahr gelaufen, verhaftet zu werden. Zweig antwortete auf die Vorwürfe in einer wenig gelesenen Regierungzeitung. Im Brasilienbuch brilliert Stefan Zweig mit anschaulichen Beschreibungen der nationalen Industrie, der enormen Bodenschätze, der Landwirtschaft. Nichts davon stammt jedoch von ihm, alles hat er von dem Wirtschaftsexperten Roberto Simonsen übernommen, wie Alberto Dines betont. Stefan Zweig hätte auch den Horror der brasilianischen Sklaverei schildern können. Nichts davon. Statt dessen betonte er, in keinem anderen Land seien die Sklaven so relativ humanitär behandelt worden, und beschrieb die Schwarzen als fröhlich und glücklich. Alberto Dines: »Nur ein einziges Mal war er in einem Slum und idealisierte daraufhin das einfache Leben der Leute dort. Zweig täuschte sich – aber das entsprach ja seinem idealisierenden, romantisierenden Naturell. Er erfand das Paradies. Sicherlich hatte er dafür einige konkrete Elemente, denn es gab gute Dinge in Brasilien. Doch jenes Paradies, das er da erdichtete, hat seinen Selbstmord nicht verhindert.«

Stadtkriegsfront

Der Irak und der Libanon sind täglich wegen der vielen unschuldigen Opfer in den Schlagzeilen – Brasilien nicht. Obwohl in dem Tropenland jährlich weit mehr Menschen umkommen als im Irakkrieg, und in Brasilien Folter alltäglich ist. Ein bekannter brasilianischer Samba heißt O Iraque è aqui – Der Irak ist hier. Ferrèz, dreißig, mit bürgerlichem Namen Reginaldo Ferreira da Silva, wurde im brasilianischen Stadtkrieg unfreiwillig zum Frontberichterstatter, weil er über die von extremer Gewalt geprägte Slumperipherie der Megacity São Paulo schreibt. Ferrez, dessen Bücher bei einem angesehenen brasilianischen Verlag erscheinen und bereits ins Französische, Spanische und Italienische übersetzt wurden, erhält derzeit wegen seines literarischen und politischen Engagements Morddrohungen. Noch nie war er so in Lebensgefahr. In den Slums ist Bücherlesen Luxus, die meisten Bewohner sind funktionelle Analphabeten. Deshalb wurde Ferrèz auch zum Rapper, ist in den Ghettos dadurch unterdessen weit bekannter als durch seine Bücher. Vom Goethe-Institut São Paulos bis zum Slumviertel Capao Redondo sind es mit den entsetzlich lauten, überfüllten Vorstadtbussen etwa drei Stunden. In Capao Redondo hausen eine Million Menschen, darunter Ferrèz. Seit Mai verübt das größte brasilianische Verbrechersyndikat PCC, Erstes Kommando der Hauptstadt,eine nicht endende Serie von Terroranschlägen gegen den Staat, erschießt an der Peripherie täglich Polizisten, Gefängniswärter und deren Angehörige. Bisher wurden weit über sechshundert Tote gezählt, die meisten in Capao Redondo. Ferrèz liefert als einziger fundierte Berichte von der Front: In seinen Büchern, seiner Zeitschrift, seinem Blog analysiert er Gewalt und Gegengewalt, die Rachefeldzüge der Polizei. Wir reden am Kaffeestand, im Krach einer vollen Bäckerei miteinander, hier fühlt sich Ferrèz sicher. »Für mich ist das hier schon immer wie im Krieg. Doch die Eliten haben es erst jetzt, in diesen Tagen, wegen der Attentatswelle gespürt. Da haben sie in ihren Nobelvierteln die Panik gekriegt, sich verbarrikadiert und versteckt. Nur – so leben wir doch schon jahrelang. Durch Morde habe ich über zwanzig meiner Freunde verloren, das ist normal hier. Man tötet wahllos, wegen Banalitäten. Dazu kann man doch nicht schweigen. Capao Redondo – das ist wie ein Extra-Land, es ist dieses Brasilien, das in Deutschland und anderswo gewöhnlich nicht wahrgenommen wird. Dort denkt man bei Brasilien meist nur an Exotismus, Mulattinnen, Tropenwälder. Das hier ist völlig anders.« Als Ferrèz mit seinen Blog-Frontberichten begann, stellten Brasiliens Medien die Sache noch so dar, als ob die Polizei lediglich auf die PCC-Attacken reagiere und so die gefährlichsten Verbrecher bekämpfe. Doch Ferrèz beobachtete, daß es meistens Unschuldige trifft und damit Haß und Gewalt in der Gesellschaft weiter geschürt werden. »Ich mache den Versuch, der herrschenden Elite-Meinung etwas entgegenzustellen. Denn die Eliten stimulieren ja das Morden, die Vorurteile gegen Slumbewohner. Vierzig Prozent der Getöteten hier waren junge Pizza-Austräger, die nachts mit ihren Motorrädern zu den Kunden fahren. Die Polizei feuerte einfach auf Leute, die gerade auf der Straße waren. Niemand prangert das an, niemand spricht darüber, das hat mich aufgeregt. Und ich sagte mir: Dann muß ich es eben tun. Also habe ich den Mund aufgemacht, und das hatte Wirkung. Die Polizei wurde angewiesen, vorsichtiger, weniger brutal vorzugehen. Man sagte den Beamten, Vorsicht, da gibt es jetzt welche, die darüber berichten. Nun bedrohen sie mich mit Mord.« »Klar, sagt Ferrèz, »ich hoffe, daß mir nichts passiert, aber ich mache mir um den Tod auch keine Sorgen. Denn ehrlich gesagt, ich habe doch alles erreicht, was ich wollte. Ich habe ein Buch geschrieben, das sich verkauft, ich habe meiner Mutter, meiner Frau ein besseres Leben schaffen können. Jetzt habe ich keine Träume mehr, ich bin hoffnungslos, weil sich diese Realität hier nicht bessert, alles nur schlechter wird im Viertel. Ich sehe beim besten Willen keine Ehrlichkeit, weder bei den brasilianischen Politikern noch bei den Eliten, nicht mal in unserm Volk. Schau den Leuten ins Gesicht, da siehst du Traurigkeit. Sie engagieren sich nicht, ergeben sich dem Zuckerrohrschnaps, sind mutlos. Hier laufen nur Körper rum, haufenweise, ohne Richtung, Orientierung.« »In Deutschland denken viele, Staatschef Lula mache progressive Politik, auch für einen wie dich, für die Leute im Slum. Lula spricht doch jeden Tag von Riesenerfolgen … Es stimmt: Die Lula-Regierung ist weniger schlecht als die vorangegangene, sie ist das kleinere Übel. Aber was hat sich denn seit Lulas Amtsantritt getan? Es gibt nicht mehr Arbeit. An der Slumperipherie hat sich nichts gebessert. Für die Unternehmer sieht die Sache natürlich ganz anders aus.« Drei Viertel der 185 Millionen Brasilianer, so sagen neue Studien, sind nicht in der Lage, einen einfachen Zeitungs- oder einen Buchtext zu lesen und zu verstehen. Das vereinfacht die Manipulierung der Pflichtwähler kolossal, dient Neopopulisten wie dem Staatschef ungemein. Wer sind die Leser von Ferrèz? Sein Buch Capao Pecado produzierte er selber, zog fünfzig Kopien, verteilte es unter Freunden und Bekannten des Viertels. Manche von ihnen arbeiten für die Mittel- und Oberschicht als Hausdiener, Wächter, zeigten es den Arbeitgebern. Einige von ihnen bestellten daraufhin bei Ferrèz Capao Pecado, der die Bücher persönlich zu deren Villen brachte, sie dort den bewaffneten Wächtern übergab und die Besteller natürlich nicht zu Gesicht bekam. »Ja, so lief es – die Peripherie hat das Buch den Betuchten gezeigt, jetzt ist es bei einem Verlag in der fünften Auflage. Das System hatte für mich nichts vorgesehen, also habe ich mich auf meine Weise organisiert, mache meine Literatur. Als ich in einer Bäckerei arbeitete, habe ich nebenher etwas auf Zettel gekritzelt, daraus dann zu Hause eine Geschichte montiert. Das lesen jetzt sogar Leute aus der Upperclass. Manche von denen sagen mir, Puta, du hast recht, die Oberschicht ist idiotisch, die will sich nicht ändern. Dreihundert Familien besitzen achtzig Prozent allen Einkommens, allen Geldes – wir kriegen nur den allerletzten Rest. Ja, unsere Eliten handeln selbstmörderisch, suchen sich in ihren Privilegierten-Ghettos abzuschotten. Langfristig planen die ihren eigenen Tod. Das kann hier alles einmal explodieren. Die jungen Menschen hier haben doch keinerlei Perspektiven. Frag hier mal ein Kind. Was willst du denn werden? Da lacht es dich aus, sagt, ich will nichts werden, wie sollte ich denn?«

Terror-Hymnen

Brasiliens mächtigste Verbrecherorganisation Primeiro Comando da Capital (PCC – Erstes Kommando der Hauptstadt), die im Mai 2006  eine Welle von Attentaten und Häftlingsrevolten auslöste, hat ihre Hauskomponisten und Musiker. Sie verherrlichen zumeist in harten Raps die Anschläge auf den Staat und seine Polizei, auf öffentliche Gebäude, Busse und Metro. Sie bejubeln die Gangsterbosse und berufen sich auf Osama Bin Laden und die Taliban. Detailliert schildert das Stakkato ihrer Sprechgesänge die bewaffneten Überfälle auf Autofahrer, die auf Straßen und Autobahnen der Städte gestoppt und beim Versuch der Gegenwehr oder der Flucht gewöhnlich erschossen werden. Diese Raps reflektieren das soziokulturelle Klima in den Stadtvierteln der Unterschicht. Überall in Brasiliens Großstädten werden CD mit Gewalthymnen an den Ständen der Straßenhändler für umgerechnet nicht einmal einen Euro verkauft. Renatinho und Alemao (der Deutsche) aus São Paulo gelten als die Hitmacher und wichtigsten Musikproduzenten des PCC. »Ich bin Terrorist, ich bin ein Taliban«, rappen sie auf einer ihrer populärsten Scheiben, auf der beinahe in jedem Titel Bomben und Granaten explodieren, MG-Salven zu hören sind. »Unsere Terrororganisation ist der Staatsfeind Nummer Eins.« In der Liveversion singt ihr Publikum lauthals mit. In Raps wie Alta Voltagem, oder Bonde dos Guerreiros wird das Vorgehen der PCC-Kommandos ausführlich beschrieben: »Im Morgengrauen rücken wir aus, dann singt das MG/Messer an die Kehle, Schuß ins Genick, Terror und Aktion, mancher Gegner wird geköpft/Der Unterdrückte gegen die Unterdrückung/Wir glauben an Gott und Christus/ Krieger und Kriegerinnen sind furchtlos/Wir hacken Köpfe ab, stecken Gegner in die Mikrowelle …« Damit ist eine der grauenhaftesten Hinrichtungsmethoden des organisierten Verbrechens gemeint: über das gefesselte Opfer werden Autoreifen gestapelt, diese werden mit Benzin übergossen und angezündet. Auf einer PCC-Rap-CD wird dieses Verbrennen von Gegnern als Grillfest am Flußufer angekündigt: »Doch dieses Fleisch will niemand essen, weil es drittklassig ist, von üblen Figuren stammt – von diesem Fleisch würde einem schlecht …« Im Straßenhandel São Paulos sind Tonträger mit Gangsta-Rap zwischen den Samba- und Sertaneja-CDs nicht zu übersehen. Auf den Hüllen prangen schwerbewaffnete Gangster, Totenköpfe, Leichen, das World Trade Center von New York in Flammen, MG, Granaten, Osama Bin Laden und die Initialen der nationalen Verbrechersyndikate. Auf einer neuen CD steht schwarz auf weißem Grund: PCC – nur Terroristisches – live in Santos. Gemeint ist Brasiliens wichtigste Hafenstadt bei São Paulo, wo der in Brasilien produzierte VW Fox,dazu Kaffee, Zuckerrohrschnaps und Obst nach Europa verschifft werden. In den Slums von Santos veranstaltet der PCC jene berüchtigten Rap-Massenfeten, auf denen nicht selten Tausende von tanzenden jungen Leuten die viehisch rohen Raps mitgrölen und sich offen mit dem PCC identifizieren. Auf diesen Bailes Funk werden die jüngsten Attentate gefeiert, die Rapper stellen unverblümt das Waffenarsenal des Terrors, dasMaterial belico vor: »Wir sind Soldaten, wir haben das deutsche G3-Maschinengewehr, aber auch Kalaschnikows, Granatwerfer, die israelische Uzi-Mpi, das schweizerische Sig-Sauer-Sturmgewehr, nordamerikanische M-16-MG und österreichische Glock-Pistolen, Handgranaten aus Argentinien/ Ja, wir sind finstere Typen, richtige Banditen/Wir machen Terror wie in Bagdad, ganz im Stile Bin Ladens, halten auf die Würmer feste drauf/ Wir sind Falken, immer wach/Her mit einem deutschen G-3 und einem vollen Magazin …« Eine schwarze Menschenrechtsanwältin Rio de Janeiros kennt einen Zeugen, dem zufolge inmitten von Bailes Funk Jugendliche der Zuckerhutstadt den Feuertod starben. Fotos verkohlter Opfer werden von Zeitungen Rios beinahe täglich veröffentlicht. Wiederholt haben Gruppen junger Männer nach Bailes Funks Bettler verbrannt. Brasiliens Gangstersyndikate beherrschen die Slums neofeudal wie einen Parallelstaat und terrorisieren die Bewohner. In zahlreichen Gewalthymnen werden die Armenviertel von Rio und São Paulo aufgezählt, die jeweiligen Banditenbosse ausdrücklich gewürdigt. Slumradios spielen auf Wunsch von inhaftierten PCC-Mitgliedern besonders oft einen Rap über die grauenhafte Lage in den Gefängnissen … Warum identifizieren sich so viele junge Brasilianer per Gangsta-Rap mit dem organisierten Verbrechen? »Da das Gesellschaftssystem kalt und berechnend ist, grausam mit den Verlierern, dazu hierarchisch, machistisch und autoritär«, so der Anthropologe Luiz Eduardo Soares, »reproduzieren jene Jungen, die beim Verbrechen mitmachen, dieses System exakt so wie in der Gründerzeit des wilden, kolonialen Kapitalismus.« Ihre Gewalthymnen dokumentierten das »Inferno unseres alltäglichen Krieges«, die Spaltung der Gesellschaft, ihre perversen Sozialkontraste.

WM und Brasilienklischees(2006)

Bestsellerautor Joao Ubaldo Ribeiro aus Rio de Janeiro konstatiert bei Deutschlandreisen immer wieder, daß deutsche Medien, aber auch die Normalbürger nicht von den absurdesten Brasilienklischees lassen wollen. Da Ribeiro nebenbei auch Zeitungskolumnist ist, informiert er seine Landsleute regelmäßig mit Spott über das verquere Brasilienbild, nicht nur in Europa: »In der Ersten Welt weiß man nichts über Brasilien. Wenn man die Mehrheit der Deutschen bittet, etwas über Brasilien zu sagen, dann kommt: Pelè, Fußball, Karneval, Nackte. Die Hauptstadt? Äh, Rio de Janeiro. Die wissen nichts!« Ribeiro liegt so schief nicht. Vor der Fußballweltmeisterschaft werden Brasilien und sein Fußball wieder einmal gnadenlos mit Samba zusammengerührt. Samba-Fußball, Samba-Kicker, Samba-Giganten. Und Lothar Matthäus, der gerade im südbrasilianischen, nicht gerade Samba-geprägten Curitiba als Trainer anfing, wird gar zum Samba-Lothar. Man weiß es doch, wird einem eingebleut – in Brasilien ist feuriger Samba am beliebtesten – und im Karneval tanzt zu mitreißenden Sambarhythmen nicht nur ganz Rio Tag und Nacht. Alles falsch, alles frei erfunden, clevere Mediensteuerung macht’s möglich. Ein Blick in die brasilianischen Hitparaden, auf die Listen der meistgespielten Titel, der meistverkauften CDs genügt. Sowohl die Musikexperten als auch die Leute auf der Straße bestätigen: Samba war in Brasilien noch nie tonangebend, ist bis heute in vielen Landesteilen überhaupt nicht populär. Benedita Souza aus dem Samba-armen Nordosten lebt heute in der brasilianischen Kultur-und Wirtschaftsmetropole São Paulo, auch nicht gerade ein Samba-Pflaster: »Nein, daß alle Brasilianer Samba mögen, gar Samba im Blut haben, stimmt überhaupt nicht. Nur eine Minderheit kann Samba tanzen. Denn Samba muß man erst einmal lernen. Nur ein bißchen mit den Hüften wackeln, das kann jeder. Brasiliens populärste Musik ist nicht Samba, sondern Sertaneja, tiefromantisch.« Wer sind die Megastars Brasiliens? Folgt man den Klischee-Vorgaben deutscher Medien, müßte es sich um Gilberto Gil, Marisa Monte, Lenine, Chico Cesar, Maria Bethania oder Caetano Veloso handeln – letzterer wird allen Ernstes gelegentlich als »größter Musikstar Brasiliens« gepriesen. Ein schlechter Witz. Die beiden Megastars Brasiliens heißen Zezè di Camargo und Luciano, leben und komponieren in São Paulo, sie spielen Sertaneja. Die 2005 in Brasiliens Radios am meisten gespielte Musik, Fui Eu, kam von diesem Duo, ermittelt vonCrowley Broadcast Analysis. Samba folgt stets deutlich abgeschlagen. Nicht zufällig holte sich der rechtssozialdemokratische Staatschef Lula für seine Wahlkampfkundgebungen als Anheizer keine Sambaband, sondern die Grammy-Preisträger Zezè di Camargo und Luciano. Auch andere Sertaneja-Stars, etwa Bruno und Marrone, sind weit populärer als die in Deutschland immer herausgestellten Musiker. Und schauen wir uns die landesweiten CD-Verkäufe der letzten Jahre an, wird’s noch kurioser: Pop und Rock, ganz überwiegend brasilianisch, liegen an erster Stelle, gefolgt von Sertaneja und – religiöser Musik von Kirchen und Sekten. Erst danach folgen Samba/Pagode. Die zuständigen Statistiker der Musikbranche verweisen indessen darauf, daß auf eine legal im Laden verkaufte CD bis zu zehn schwarz gepreßte und vertriebene Scheiben kommen. Schwerlich zu übersehen, welche Sparte die Raubpresser bevorzugen – Sertaneja. Überall in den Einkaufsstraßen Brasiliens werden nicht nur die CDs von Zezè di Camargo und Luciano teils zum Stückpreis von umgerechnet siebzig, achtzig Cents geradezu massenhaft angeboten. Brasiliens erste nicht von Indios gespielte Musik war Sertaneja, nicht Samba. Ein weiteres Klischee: die Fußballbegeisterung. Wird wirklich überall an den Stränden, in jeder Straße, in jeder Gasse gekickt? Gemäß Umfragen tritt die große Mehrheit der Brasilianer nie oder nur höchst selten gegen einen Ball. Achtzig Prozent leben in Städten wie dem Betonmeer São Paulo. Benedita Souza aus São Paulo beobachtet: »Fußball geht eigentlich nur in den Clubs. Es ist doch alles zugebaut. Den Jugendlichen fehlt Platz zum Spielen. Deshalb sitzen die meistens vor dem Fernseher.« Stimmt. Auch weil’s vielen auf der Straße zu gefährlich ist. Brasiliens Heranwachsende hocken mehr als doppelt solange wie ihre deutschen Altersgenossen vor der Glotze – durchschnittlich dreieinhalb Stunden pro Tag, sie liegen damit weltweit an der Spitze.

Oscar Niemeyer(2006)

Nicht nur in Deutschland wird Oscar Niemeyer mit Lob überhäuft. Als Kronzeuge für die Großartigkeit seiner Werke dient er gewöhnlich selber. Er gilt als Schöpfer der brasilianischen Hauptstadt Brasilia. Sämtliche öffentlichen Gebäude, darunter der Nationalkongreß und der Präsidentenpalast, wurden von ihm entworfen. Brasilia zählt seit 1987 zum UNESCO-Weltkulturerbe der Menschheit. Brasilianische Experten hingegen sparen nicht mit Kritik. Es wird gern der Schweizer Architekt Max Bill zitiert, der bereits 1954 ein Niemeyer-Projekt mit den Worten charakterisierte: »Das ist das Ende der modernen Architektur. Das ist antisoziale Vergeudung, ohne Verantwortung«. Oscar Niemeyers eigentliches Hauptwerk sind über fünfhundert öffentliche Schulen in Rio de Janeiro, in denen jeweils bis zu eintausend Kinder, meist aus den Slums, unterrichtet werden. Diese zweistöckigen Schulen heißen offiziell CIEP, Integriertes Zentrum für öffentliche Bildung. Sie wurden aus Fertigteilen gebaut und sehen wie eckige, graue Betonkästen aus. In einer der lautesten Städte der Erde wurden sie nach dem Willen der Regierenden stets an auffälliger, gut sichtbarer Stelle errichtet, also dort, wo der Verkehrslärm am größten ist. Auch der CIEP Tancredo Neves in der Rua do Catete hat keine Schallschutzfenster. Man betritt die Schule und stutzt sofort: In sämtliche Klassenzimmer links und rechts des düsteren Korridors kann man bequem hineinschauen, Schüler und Lehrer beobachten – denn die Seitenwände der Räume sind zum Mittelgang hin nur etwa anderthalb Meter hoch, wurden also nicht bis zur Decke hochgezogen. Das bedeutet: Alle hören alles von allen. Die einen haben Physik, andere Mathe, Portugiesisch – andere singen Sambas, wieder andere schreiben eine Prüfungsarbeit. Die Lehrerinnen des CIEP Tancredo Neves nennen die Wände ein Absurdum. »Der Krach hier ist enorm – wollen wir uns durchsetzen, müssen wir notgedrungen die Stimme heben, ständig dagegen anschreien. Viele haben deshalb Probleme mit den Stimmbändern, müssen sich operieren lassen. Jeder Pädagoge hört ja auch die Kollegen unterrichten, das lenkt ab, macht nervös – es ist wirklich schwierig hier.« In den Klassenzimmern werden tatsächlich bis zu 85 Decibel gemessen. Kritik an den von ihm entworfenen Schulen oder Verbesserungsvorschläge, die ihm Delegationen von CIEP-Direktoren und -Lehrern vortrugen, sowie heftige brasilianische Medienkritik hat der Architekt bislang regelmäßig abgeschmettert. Fußballidol und Multimillionär Pelè lobt die CIEPs in mehrseitigen Farbanzeigen der Rio-Regierung als durchweg hervorragende Schulen – es seien solche wie in der Ersten Welt, die auch exakt wie dort funktionierten. Joaquim Guedes zählt ebenfalls zu den Größen der brasilianischen Baukunst, ist zudem Lehrstuhlinhaber für Architektur an der Bundesuniversität von São Paulo. Guedes ist seit jeher Niemeyer-Kritiker, die CIEPs von Rio sind für ihn exemplarische Fehlleistungen Niemeyers: »Er ist unfähig, echte Architektur zu machen, diese Schulen beweisen es. Er entwirft Formen – aber das ist doch noch keine Architektur. Er konstruiert Formen entgegen den menschlichen Bedürfnissen, respektiert nicht einmal technologische Aspekte. Von einem großen Architekten erwartet man, daß er sich in die Probleme der menschlichen Existenz vertieft, die besten Lösungen sucht. Aber Schulen, in denen die Wände nicht mit der Decke abschließen – das ist doch verrückt, das ist doch Wahnsinn, absurd! Und dann auch noch dasselbe falsche Projekt ewig wiederholt, nie spezifischen örtlichen Gegebenheiten angepaßt. Wie kann er gerade die am meisten Benachteiligten mit diesen CIEPs so mißhandeln, deren Ausbildung so schädigen!« Das von Niemeyer am Reißbrett entworfene Brasilia, oft als Niemeyers Hauptwerk betrachtet, ist für Joaquim Guedes »de facto ein rein autoritärer Akt – große ökonomische Interessen, dazu eine große politische Chance für den damaligen Staatschef Juscelino Kubitschek – der natürlich seinen Freund Niemeyer engagierte. Dieser tat alles, damit seine Projekte den Staatschef noch mehr herausstellten, ihn als Volkshelden, Volkstribun erstrahlen ließen.« »In der Menscheitsgeschichte«, so Guedes weiter, »gab es keinen anderen Architekten, für den der Staat soviel nationale und internationale Reklame organisierte wie für Niemeyer – denn Niemeyer machte ja auch kräftig Reklame für den Staat. Über Niemeyer wurde nur verbreitet, was dieser selber hören wollte. Er arbeitete für das Militärregime, obwohl er es gleichzeitig kritisierte. Gerade während der Militärdiktatur von 1964 bis 1985 realisierte Niemeyer viele Projekte. Weil ich Niemeyer kritisiere, werde ich gelegentlich als Vaterlandsverräter angesehen. Schon vor dreißig Jahren, als ich Professor an der Universität von Strasbourg war, verlangte ein Mitglied der kommunistischen Partei von mir, daß ich in Frankreich jegliche Kritik an Niemeyer unterlasse.« Guedes, der sich zur brasilianischen Linken rechnet, aber Lula und seine Mannschaft seit langem als unethisch, lügnerisch ablehnt, blickt vom Bürofenster auf die Skyline der Betonwüste São Paulo: »Alles einfach entsetzlich – diese Gebäude sind grauenhaft, uma Barbaridade!« Niemeyer hat in der City unter anderem den COPAN-Block beigesteuert, in dem fünftausend (!) Menschen wohnen. Rio de Janeiros Stadion für die weltberühmte Karnevalsparade, das Sambodrome, halten just die Hauptnutzer, nämlich die Sambaschulen, für völlig fehlkonstruiert, für kontraproduktiv, für nackten, häßlichen Beton. »Niemeyer hatte sich zuvor nie eine Parade angesehen, konsultierte wie üblich niemanden vom Fach, machte wie bei den CIEPS und Brasilia wieder die typischen Fehler«, urteilte Architekturprofessor William Bittar von der Bundesuniversität der Zuckerhutstadt. »Niemeyers Sambodrome nahm dem Karneval viel von seiner Spontaneität.« Guedes sagt weiter zu dem Ärger, den er sich mit der Niemeyer-Kritik eingehandelt hat: »Meine Argumente werden beiseite geschoben, blockiert. Manche reden erst gar nicht mit mir, führen aber einen verdeckten Krieg gegen mich.« Derzeit entwirft Niemeyer ein Freizeitbad für Potsdam – die deutsche PR-Journalistik ist schon dabei, erneut kübelweise unkritische Würdigungen des Maestro in die Medien zu gießen.

Quebra-Barraco(2005)

Merkwürdig widersprüchliches passiert derzeit in Deutschlands Weltmusik-, Drittwelt-und Feministinnen-Szene, die sich immer so politisch korrekt gibt. Ausgerechnet dem dekadentesten, frauenfeindlichsten, sexistischsten Rap-Genre Brasiliens, dem sogenannten Rio-Funk, öffnet man derzeit ganz weit die Tore, preist ihn gar als progressiv, authentisch – in völliger Unkenntnis der haarsträubenden Texte. So tourte Rio de Janeiros dunkelhäutige Rapperin Tati Quebra-Barraco erstmals durch Deutschland, trat imPalast der Republik und sogar auf dem Ladyfest von Stuttgart auf, danach in Zürich und Amsterdam, bekam überall gute Kritiken, wurde gar als Repräsentantin eines neuen Feminismus, als authentische schwarze Stimme der brasilianischen Slums, der Slumkultur gepriesen. In Brasilien selbst traf die vom Kulturministerium unterstützte Tournee auf heftige Kritik – weil eben die Texte vor allem den gröbsten, gewalttätigsten, sexistischsten Machos gefallen und verbreitete Vorurteile gegen schwarze Frauen der Unterschicht verstärken sowie überhaupt ein ziemlich entsetzliches Bild der brasilianischen Frau vermitteln, ganz im Sinne der Sextouristen. Brasilianerinnen – also unterwürfige Weibchen, leicht rumzukriegen, bei denen man auch mal zuschlagen kann? Indessen kann man regelmäßig in Brasiliens Qualitätszeitungen Studien über sexistische, machistische Männergewalt lesen, die Brasilianerinnen am meisten fürchten – vor allem jene in den rasch wachsenden Armendistrikten. Tati Quebra-Barraco, die aus dem Unterschichtsviertel Cidade de Deus stammt, das durch den Spielfilm City of God bekannt wurde, hat sich jedenfalls auf der Tournee köstlich amüsiert. »Die Deutschen«, sagte sie nach ihrer Rückkehr in Rio, »haben doch tatsächlich meine Titel mitgesungen, ohne zu wissen, um was es in den Texten überhaupt ging.« Anderenfalls hätte sich die Dreiundzwanzigjährige womöglich Pfiffe, Proteste oder Schlimmeres eingehandelt – schließlich waren nicht nur auf dem Ladyfest von Stuttgart sehr viele engagierte Frauen im Publikum. Würden sie die Männer auffordern, sie zu schlagen, als Sexualobjekt in jeder beliebigen Form zu mißbrauchen, gar Hündin, Hure zu nennen? Schwer vorstellbar. In unangenehmster Gossensprache rappt Tati Quebra-Barraco auf Konzerten, in Massendiscos auch vor Kindern, all die Dinge, die ein grober Macho gerne hört, so, wie er am liebsten mit Frauen umspringt – denn just die sexistischen Machos von Brasilien sind Tati Quebra-Barracos Zielgruppe. »Mach Gigira die Beine breit, dann weißt du schon, was du mit ihr weiter machen mußt«, lautet eine häufig wiederholte Textzeile. Böse-zynisch belustigt sie sich immer wieder über Geschlechtsgenossinnen, sinngemäß heißt es: »Ich hab’s mit deinem Mann getan, das gab mir allergrößte Befriedigung, sei deshalb nicht traurig – aber behandle ihn gut, sonst tue ich es wieder, treibe ich mit ihm wieder alle Sauereien …« Doch siehe da, in Berlin und auf dem Stuttgarter Ladyfest haben gerade Frauen – sogar im Chor – die übelsten Refrains aus voller Kehle mitgesungen. Zum Beispiel jenen, in dem die Rapperin explizit Analsex propagiert: Dar o cu è bom. Im Rio-Slang heißt das unverblümt: Den Männern das A … zum F … hinzuhalten, ist gut, ist toll. Wo doch jeder in Brasilien aus Untersuchungen weiß, daß die allermeisten Frauen des Landes Analsex als schmerzhaft und unangenehm empfinden – und deshalb ablehnen –, doch die Machos darauf geradezu versessen sind. Die Rapperin ist verheiratet, hat zwei kleine Töchter – der siebenjährige Yuri singt auf der neuesten CD mit. Die wurde für nicht mal drei Euro umgerechnet auf den Markt geworfen. »Alles pure Pornographie, Obszönitäten, niedrigstes Niveau, schlecht gemacht«, urteilt der bekannte Musikkritiker Danilo Corci aus São Paulo. »Doch am gravierendsten ist, daß manche Medien diese Musik auch noch legitimieren, Tati Quebra-Barraco beinahe als Revolutionärin, als politisch engagierte Frauenrechtlerin aus der Unterschicht hochjubeln – völlig widersinnig und absurd! Arme brasilianische Frauen. Tati Quebra-Barraco ist vielmehr eine Antifeministin. Ausgerechnet in einem Macho-Land verstärkt eine Frau machistische Werte und Vorurteile, die sie als Slumbewohnerin eigentlich bekämpfen sollte. Und wendet sich direkt an das machistische Männerpublikum der Massendiscos – sorgt auf ihre Weise mit dafür, daß sich an der Rolle der Frau als Sexualobjekt, ohne persönliche Freiheit, nichts ändert. Daß sie in Deutschland sogar vor Frauenrechtlerinnen auftrat, ist daher für mich direkt surreal – offenbar hat wirklich niemand auf die Texte geachtet.« Für den Musikkritiker Corci zudem ein Unding, daß laut Presseberichten ausgerechnet das Kulturministerium, geleitet von Gilberto Gil, die Tournee sponserte, Tati Quebra-Barraco also für eine fördernswerte Künstlerin hält – und der sogenannte Rio-Funk offensichtlich zu einem lukrativem Exportprodukt gemacht werden soll. »Rio-Funk ist in den vergangenen Jahren eine richtige Industrie geworden – viele Journalisten wollen sich jetzt als Entdecker eines angeblich neuen Talents hervortun. Sie pushen bewußt Tati Quebra-Barraco, wollen mit ihr glänzen – das gibt’s ja oft im Kulturbetrieb. Brasilien hat hervorragende Rapper – doch die schickt man nicht nach Deutschland. So viel erstklassige, hochwertige brasilianische Musik, die draußen gehört werden sollte. Brasilien darf doch nicht immer nur als Sexparadies gesehen werden – auf Kosten der Frauen!« Musikkritiker Corci unterstreicht aber gleichzeitig, alles andere als ein Puritaner zu sein und nichts gegen witzige, köstliche Frivolitäten zu haben, die in den Texten von Stars der Musica Popular Brasileira wie Chico Buarque keineswegs fehlen. Ähnlich sehen das brasilianische Leserbriefschreiberinnen, die die Europa-Tournee der Rapperin kritisieren: »Es lebe unsere Mittelmäßigkeit, Scheinheiligkeit – nach so einer wie Tati Quebra-Barraco will man, daß Brasilien draußen noch ernstgenommen wird?« Tati sei nun wirklich eine Anti-Feministin, predige als Frau den Machismus der Männer, verrate die Sache der brasilianischen Frauen, sei ohne Ethik, ohne Gefühle. Es gebe so viele Brasilianerinnen, die für mehr Frauenrechte und gegen machistische Unterdrückung kämpfen – doch Tati Quebra-Barraco unterstütze den Rückschritt. Ein deutscher Produzent, heißt es, will jetzt mit Tati Quebra-Barraco einen Titel aufnehmen. Das StuttgarterKünstlerhaus nennt Rio-Funk »eine der spannendsten kulturellen Bewegungen«, und Tati Quebra-Barraco deren »First Lady«. Ihr Künstlername wird in ganz Deutschland fast durchweg mit »Tati House-Wrecker« übersetzt. Oder mit »Tati, die alles kaputthaut«. Befragte Brasilianerinnen, die den Rio-Slang kennen, deuten ihn anders.

Chico Buarque(2005)

Chico Buarque gilt  in Brasilien als der größte, genialste Songpoet. Er wird wie ein Nationalheld verehrt, obwohl er schon längst keine Hitparaden mehr erstürmt. Im Kulturleben der größten lateinamerikanischen Nation ist er nach wie vor enorm präsent. Sein dritter Roman, Budapest, ist ein Bestseller, sein zweiter, Benjamin, als gleichnamige Verfilmung landesweit in den Kinos. Und seine Opera do Malandro, Gauneroper, ein spritziges, doch auch sozialkritisches Musical von 1978, läuft seit einem Jahr in Rio vor ausverkauftem Hause. Zu seinen Sambas schwoft die Nation in den Tanzdielen. Und selbst Lateinamerikas bestes Sinfonieorchester, dirigiert von John Neschling in São Paulo, hat Stücke im Repertoire. »Chico Buarques Bedeutung für die brasilianische Kultur ist unschätzbar hoch«, betonte zum 60. Geburtstag des Künstlers Kulturminister Gilberto Gil, »er war für mich fundamental – für meine musikalische Entwicklung, meine Geschmacksbildung, er hat den Wettbewerb unter uns Künstlern immer in einer sehr gesunden Weise stimuliert.« Chico Buarque wurde 1944 in Rio geboren, wuchs aber in São Paulo und Italien auf, brach wegen der Musik ein Architekturstudium ab, stand 1964 – dem Jahr des Militärputsches – erstmals als Musiker auf der Bühne, hatte 1966 mit dem poetischen Lied A Banda (Die Kapelle) seinen nationalen und internationalen Durchbruch. In Deutschland wurde daraus ein Schlager mit Latino-Klischee, ein Karnevalsmarsch über eine Mexikanerin namens Rosita, »mit Apfelsinen im Haar und an der Hüfte Bananen«. Er konnte sich auch nicht dagegen wehren, daß das Diktaturregime A Banda im Fernsehen zur Rekrutenwerbung benutzte. Sein Vater war ein landesweit bekannter linker Intellektueller, Gründer der Arbeiterpartei PT, deren Führung erst in den vergangenen Jahren nach rechts abdriftete und sozialdemokratisch wurde. 1969 ging Chico Buarque für zwei Jahre ins Exil nach Italien, sein Apesar de voce wurde nach seiner Rückkehr zur Anti-Diktatur-Hymne. Mit Gilberto Gil schrieb er das Protestlied Càlice, das prompt verboten wurde. Gil und Buarque versuchten 1973 dennoch, es bei einem Konzert zu singen, doch die deutsche Polygram, so ist überliefert, ließ hektisch die Mikrophone ausschalten, befürchtete Repressalien des Regimes. Chico Buarque war der meistverbotene, meistzensierte Künstler Brasiliens, bis heute eine Symbolfigur des Widerstands gegen die einundzwanzig Jahre währende Militärdiktatur. Er trickste die Zensoren eine Weile lang aus, indem er sich hinter der Figur des von ihm erfundenen Julinho da Adelaide versteckte, der sogar Zeitungsinterviews gab, mit Fotos erschien, Chico Buarque schlechtmachte. Was Julinho da Adelaide an Doppelsinnigem einreichte, ließen die Aufpasser durchgehen. Wurde Chico Buarque trotzdem verhaftet, baten ihn die Beamten der politischen Polizei um Autogramme. Er organisierte den Kulturaustausch mit Kuba, nannte den Inselstaat ein Beispiel, das Brasilien nicht kopieren, dem es aber folgen sollte, hatte hohe Wertschätzung für Fidel Castro. Nach dem Ende der Diktatur beteiligte er sich an der Anti-Hunger-Kampagne und an Aktionen der Landlosenbewegung. Als er sechzig wurde, würdigen die Kritiker Chico Buarque auch als Symbol kulturellen Widerstands bis in unsere Tage – gegen die Korruption im Musikbusiness, die Überschwemmung des Marktes mit Wegwerf-Pop, gegen allgemeine kulturelle Verflachung, kurzlebige, künstliche Trends und Moden. Denen hat sich Chico Buarque schon immer verwehrt. Ein interessantes Detail: In den sechziger Jahren buhten ihn die Fans von Gilberto Gil und Caetano Veloso bei Musikfestivals aus, schrien ihm in Sprechchören entgegen, daß er völlig überholt, out sei, weil er immer noch Sambas spiele. Während Gil und Veloso bereits die Rockgitarre schwangen, sich anglo-amerikanischen Trends anpaßten. Einen Sprechchor gegen Chico Buarque dirigierte Gilberto Gil damals sogar persönlich. Der Sänger beobachtete es oben von der Bühne mit Verdruß, prangerte Gils Verhalten in einem Zeitungsartikel an. Jetzt, als Kulturminister, will Gilberto Gil den Samba als Musik und Tanz von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklären lassen. Die besten, intelligentesten Sambakompositionen Brasiliens, mit dem poetischsten Texten, auch die mit der ätzendsten Sozialkritik, dürften von Chico Buarque sein. Ein brasilianisches Nachrichtenmagazin ließ durch eine Expertenjury und durch Umfragen den wichtigsten nationalen Musiker des gesamten 20. Jahrhunderts ermitteln – Chico Buarque liegt mit 76,5 Prozent sogar vor dem bereits verstorbenen Bossa-Nova-Miterfinder Tom Jobim (Girl from Ipanema) und deutlich vor dem 62jährigen Caetano Veloso, der auf 56,6 Prozent kommt. Der Perfektionist Chico Buarque hat ästhetische, stilistische Maßstäbe gesetzt – wer heute mit dessen CDs in die Musica Popular Brasileira einsteigt, erkennt mühelos, was dort wirklich etwas taugt und was man getrost vergessen kann. »Durch Chico Buarque bemerken wir unsere eigene Unvollkommenheit«, sagt Chico Cesar (Schöpfer des Hits Mama Africa), »immer wenn wir uns als die Größten fühlen, reicht es, an Chico Buarques Musik zu denken – und schon ist es mit unseren Eitelkeiten, intellektuell-moralischen Anwandlungen vorbei«. Lieder mit drastischen, sinnlichen Bett-, überhaupt Liebesszenen – niemand hat davon so schöne im Repertoire wie Chico Buarque. Keiner habe die schwierigen, widersprüchlichen, komplexen Beziehungen zwischen Frau und Mann sensibler beschrieben, besungen als er, könne sich so in die weibliche Psyche hineindenken, hineinfühlen. Frauen würdigen ihn daher zum Sechzigsten am überschwenglichsten: »Welche Brasilianerin hat denn nicht geliebt und gelitten, sich von schwersten Enttäuschungen erholt – und dabei Lieder von Chico Buarque gehört und gesungen?« schreibt die Kulturkolumnistin Danuza Leao aus Rio. Eine Unzahl brasilianischer Sängerinnen nahm deshalb auch Chico-Buarque-Lieder auf, sogar ganze CDs, drängelt sich danach, Duette mit ihm herauszubringen. Bis kurz vor dem Geburtstag stand er noch im Studio. Entfleuchte danach gen Paris – denn Rummel um seine Person ertrug der eher schüchtern, scheu wirkende Frauenschwarm noch nie. Alle Feiern fanden ohne ihn statt, doch niemand nahm es ihm übel.

Willy Brandt und sein Diktatur-Amtskollege José Magalhaes Pinto:  http://www.hart-brasilientexte.de/2013/11/19/brasiliens-folter-diktatur1964-1985-mit-wem-bundesausenminister-willy-brandt-damals-bilaterale-vertrage-unterzeichnet-das-massaker-an-stahlarbeitern-unter-gouverneur-jose-magalhaes-pinto/

Banditen

Wenn die Massen aus den Hügelslums eines Tages zuhauf in unsere besseren Viertel hinabsteigen, um sich zu nehmen, was ihnen am nötigsten fehlt, sind wir geliefert«, lautet eine Standardreflexion von Mittel-und Oberschichtlern der Zehn-Millionen-Stadt am Zuckerhut. Und auch mancher ausländischer Tourist, der sich an den Stränden der schicken Viertel Ipanema und Leblon tummelt, in feinen Hotels wohnt, nimmt extreme Sozialkontraste wahr, beobachtet vom Zimmerbalkon aus, daß die Verelendeten da oben in ihren Steilhang-Katen dichtgedrängt wie die Ameisen hausen. Und fragt sich, wieso die nicht rebellieren und nur einige hundert Meter weiter unten, vor Shoppings, Boutiquen und Restaurants keine Randale machen. Die Passivität der Slumbewohner erscheint um so unverständlicher, als die Landlosenbewegung MST, auch von deutschen Kirchen und regierungsunabhängigen Organisationen stark unterstützt, der Regierung von Staatschef Lula regelmäßig Ärger macht. Beinahe täglich berichten Medien über Protestdemos, Landbesetzungen, Straßenblockaden – doch in den Städten, wo die große Masse der verelendeten Brasilianer in Slums haust, bleibt alles ruhig. Befreiungstheologisch orientierte Kardinäle, Bischöfe und Padres der katholischen Kirche begründen dies seit Jahren mit der Diktatur des organisierten Verbrechens über die Slums: Der absichtlich zugelassene Banditenterror verhindere perfiderweise politische Aktivitäten, er mache apathisch. Jetzt hat erstmals ein renommierter Historiker diese These aufgenommen. Der 65jährige Josè Murilo de Carvalho zählt zu den Koryphäen des brasilianischen Geisteslebens, er ist Lehrstuhlinhaber an der Bundesuniversität von Rio de Janeiro (Kollege von Anita Prestes, der Tochter von Olga Benario) und zudem Mitglied der ehrwürdigen Dichterakademie des Tropenlandes. »Die Landlosenbewegung«, so Carvalho, »ist gut organisiert, sehr effizient und hat enormen Erfolg, da sie die Regierung zwingt, endlich die Agrarfrage zu lösen. Doch unsere Landbevölkerung wird immer kleiner, sie ist nur eine Minderheit. Die Masse der sozial Ausgeschlossenen konzentriert sich in den großen Städten – alleine Rio de Janeiro hat über sechshundert Slums mit anderthalb Millionen Bewohnern – dort steckt schon von der Zahl her ein explosives Potential, anders als in den Agrarregionen. »A noite do poder paralelo«, die Nacht der Parallelmacht, titelte 2004 Rios größte Zeitung O Globo und zeigte das hellerleuchtete Sheraton-Hotel Rios und als Kontrast den angrenzenden Hang mit dem SlumVidigal, der wegen der Gefahr von Banditengefechten in völlige Dunkelheit gehüllt ist. Und das Fernsehen zeigt mit MPs feuernde Vidigal-Gangster – Bilder wie aus dem Irak, aus Afghanistan oder aus Palästina. Die Banditenkommandos verhängen nicht nur in Rio, sondern auch in São Paulo, drittgrößte Stadt der Welt, regelmäßig Ausgangssperren, schüchtern die Slumbewohner mit drakonischen Strafen ein, darunter Foltern, Handabhacken, Köpfen, Zerstückeln, lebendig Verbrennen. Der pure, alltägliche Terror. Deshalb lautet Carvalhos Schlußfolgerung: »Die Existenz des organisierten Verbrechens in den Slums blockiert die Politisierung der Bewohner, hält sie ruhig, verhindert eine Rebellion sowie Protestaktionen jeder Art. Die Gangsterkommandos dienen damit der Aufrechterhaltung von politischer Stabilität im Lande – und das ist den Autoritäten sehr recht; es ist gut für sie. Natürlich würden sie das nie eingestehen. Ohne Zweifel gehört zum strategischen Kalkül auch der jetzigen Regierung, daß es wegen der so hilfreichen Gangsterkommandos keine soziale Explosion geben werde. Das ist natürlich reiner Zynismus. Wir haben so viele Gewalttote wie in Bürgerkriegen. Und die Assoziationen der Slumbewohner werden total vom organisierten Verbrechen dominiert. Das Drama der ›Slum-NGO‹ besteht darin, ohne Zustimmung der Banditenmilizen nicht agieren zu können, sie müssen mit ihnen verhandeln. Und indem man mit Gangsterkommandos verhandelt, legitimiert man sie.« Für Verbindungen der Machteliten aus Politik und Wirtschaft mit dem organisierten Verbrechen sprechen zahlreiche Indizien. So wohnen nach Angaben der Künstlerin und Menschenrechtsaktivistin Yvonne Bezerra de Mello die Bosse der Verbrechersyndikate natürlich nicht in den Slums. »Die wohnen in den Nobelvierteln.« Bereits 1992 hatte der progressive Abgeordnete Carlos Minc konstatiert: »In Rio de Janeiro sind Straftäter und Autoritäten Komplizen – das organisierte Verbrechen, das Drogenkartell herrscht in den Favelas, pflegt enge Beziehungen zur Geschäftswelt, zur Stadtregierung, zu Polizei und Justiz, die daher Straffreiheit walten lassen, die Gesetze nicht anwenden, die Menschenrechte der Bewohner Rios mißachten.« Und die progressive brasilianische Monatszeitschrift Caros Amigos konstatiert in einer Analyse über die »Schmutzigen Hände« der Landeselite: »Das Verbrechen hat sich im Herz des Staatsapparates installiert«. Im Dezember 2004 begaben sich Kulturminister Gilberto Gil und Arbeitsminister Ricardo Berzoini zu einer offiziellen Visite in Rios Slumregion Complexo da Marè, um Qualifikationsprogramme für Jugendliche vorzustellen. Beide hatte für die Visite die Erlaubnis der lokalen Gangsterkommandos, sie verzichteten auf jeglichen Polizeischutz und sogar auf die üblichen Bodyguards. Damit sei, wie der Soziologe Jailson Silva folgerte, erschreckenderweise vom Staat anerkannt worden, daß er die Parallelmacht darstelle und nicht etwa das organisierte Verbrechen. Paulo Sergio Pinheiro, Experte für Gewaltfragen an der Universität von São Paulo, kam zu dem Schluß: Mit der Ministervisite sei »bestätigt – der brasilianische Staat kontrolliert große Teile seines Territoriums nicht mehr«. Tage zuvor weilte Minister Gil in der berühmten, vom Staatskonzern Petrobras gesponserten Sambaschule Mangueira, die gerade einen herben Verlust erlitten hatte: Nach den bisherigen Ermittlungen hatten Mitglieder des im Mangueira-Slum herrschenden Verbrecherkommandos den Vizepräsidenten der Sambaschule, gleichzeitig Chef der Perkussionsgruppe (Bateria), ermordet, weil nicht die von ihnen ausgewählte Tänzerin zur Königin der Bateria bestimmt worden war. Aus Angst vor Racheakten lehnten Mitglieder der Sambaschule, darunter sogar der landesweit berühmte Sänger Jamelao, jegliche Stellungnahme zu dem Fall ab. Um so mehr war erwartet worden, daß Minister Gil als Repräsentant der Regierung klar Position bezieht, den zunehmenden Druck der Banditenmilizen des organisierten Verbrechens auf die Sambaschulen scharf zurückweist. Doch Gil zog es vor, gegenüber den zahlreichen Journalisten von Presse, Funk und Fernsehen dazu kein einziges Wort zu verlieren. Statt dessen: geheuchelte Fröhlichkeit, Sambagetrommel und defilierende Kinder – und ein Minister, der Optimismus und Karnevalsvorfreude ausstrahlte.

Bauhaus am Zuckerhut(2004)

Eine bizarre Situation: Drinnen im vierstöckigen »Nucleus« spricht Bauhaus-Direktor Omar Akbar zu hunderten Slumkids, die euphorisch kreischen und jubeln – direkt davor auf dem Platz vor der großen Glasfront stehen jugendliche Banditen, die MPi lässig umgehängt, und verkaufen harte Drogen. Daß auch Jacarezinho von Banditenmilizen beherrscht wird – toleriert, hingenommen von den Autoritäten, unter anderem offizielle Menschenrechtsbeauftragte der Lula-Regierung –, erschreckt nur intellektuelle Schöngeister aus Europa mit sozialromantischen Ideen über Brasilien. Für Kinder wie Erwachsene in Jacarezinho ist das alles völlig normal. »Wir verstehen uns gut mit den Banditen«, sagt ein Bewohnervertreter, »die wollen ja auch, daß es mit der Favela vorangeht – die haben ja auch Kinder und wollen daher soziale Projekte.« Omar Akbar wundern solche Äußerungen nicht. »An solchen Orten finden wir grenzenlose Widersprüchlichkeit, eine gefährliche Dramatik, mit der sich niemand beschäftigt«, so der in Afghanistan geborene, in Deutschland aufgewachsene Bauhaus-Direktor zum Blättchen, »ein allgemeines Phänomen.« Die Banditen sind Herren über Leben und Tod, halten ein neofeudales Schreckensregime aufrecht, verhängen Ausgangssperren, Staat und Eliten schauen zu. Die Favela-Bewohner sind Geiseln der Banditen des global vernetzten organisierten Verbrechens – die brasilianischen Bauhaus-Mitarbeiter müssen ebenso wie die Stadtverwaltung mit den Gangsterbossen verhandeln, brauchen deren Okay für sämtliche Projekte. Ein ethisch-moralisch sehr heikles Problem, auch für ausländische Nichtregierungsorganisationen (NGO), die sich auf sozialem Feld engagieren wie Akbars Stiftung – immerhin getragen vom Bund, dem Land Sachsen-Anhalt und der Stadt Dessau. »Das Bauhaus hatte mit der Drogenmafia direkt nichts zu tun – sämtliche lokalen Kontakte wurden von den Kollegen in Rio, der Stadtverwaltung aufgenommen.« Für Jacarezinho in der Zehn-Millionen-Stadt Rio hat Bauhaus auf Einladung der Präfektur das ModellprojektCelula Urbana, »städtische Zelle«, entworfen. Die Grundidee auch der folgenden Bauhaus-Projekte: Slumbewohner aus ihrer Isolation befreien, sie in das städtische Leben integrieren, Armuts- und Elendszonen Rios aufwerten. Denn Jacarezinho mit rund hunderttausend Bewohnern liegt fern der berühmten Strandstadtteile Copacabanaund Ipanema in der sogenannten Faixa de Gaza, Rios Gazastreifen, einer großen Favela-Region: Gestank, Enge, Ratten, Matsch und Müll – buntes, exotisches Menschengewimmel in Gassenlabyrinthen aus Bretterbuden, Backsteinkaten, sogar zweistöckigen Häusern, ähnlich Kalkutta oder Nairobi. Alles provisorisch und illegal, gegen jegliche Bauvorschriften errichtet. Täglich Schießereien, Feuergefechte zwischen rivalisierenden Banditenmilizen, zudem Schußwechsel mit der Polizei. In Brasilien werden jährlich über 45000 Menschen getötet – laut UNO mehr als im Irak-Krieg. Der kastenförmige Nucleus – mitten in einem nach Bauhaus-Entwürfen bereits teilweise entkernten, sanierten Modellbereich von Jacarezinho – soll dessen kultureller Treffpunkt werden. Gedacht ist an Kurse für Medientechniker und Fotografen, an Konzerte und sogar an Ballett. Gleich neben ihm sollen nach Bauhaus-Ideen ein neuer Favelaeingang mit Fußgängerbrücke und ein Internationales Zentrum für Projekte in Armutsgebieten entstehen, außerdem Werkstätten für Mode und Design. Laut Bauhausdirektor Akbar fehlen dafür aber noch das Okay der Stadtverwaltung und die nötigen Gelder. Akbar sieht sehr wohl das Risiko, mit dem Bauhaus-Projekt ungewollt an Sozialkosmetik, »Schönheitsreparaturen« teilzunehmen. Überall auf der Welt sei die Ignoranz der Politik in bezug auf städtische Problemgebiete massiv, gebe es für derartige Slumprojekte lediglich sehr schwache, kleine Lobbygruppen – belächelt von den Eliten, den Wohlhabenden. Brasilienweit wachsen die Slums rascher denn je, in Städten wie Rio und São Paulo um mehr als zehn Prozent jährlich. Die arme, verelendete Bevölkerung wächst pro Jahr um über vier Prozent. Mit dem Jacarezinho-Projekt begann Bauhaus im Frühjahr 2000: »Wenn Millionen von Menschen in diesen Quartieren wohnen, ist es höchste Zeit, daß sich die Architekten etwas von ihrem Starallüren-Ambiente verabschieden, sich sozialen Fragen widmen«, sagt Akbar. »Bei den Architekturstudenten in Kairo, Teheran oder Rio findet man beste Entwürfe – alles Kopien der Stararchitekten dieser Welt. Doch mit der eigenen Stadt hat man sich kaum auseinandergesetzt!« Kurz zuvor war der UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Wohnung, der indische Architekt Miloon Kothari, in Brasilien, hatte der stramm neoliberalen Lula-Regierung die Leviten gelesen. Das Menschenrecht auf eine angemessene Wohnung werde deutlich verletzt, das Wohnungsproblem müsse nationale Notstandsaufgabe werden – internationale Finanzhilfe brauche Brasilien dafür nicht. Die Lage in den Slums sei erschütternd. Bauhaus-Direktor Akbar sieht es ähnlich: »Man kann Favelas mit relativ geringen Investitionen instandsetzen, Selbsthilfe mobilisieren – muß das aber politisch wollen. Und man muß die Partnerländer auffordern: Ihr selber müßt Ideen entwickeln, euch um eure eigenen Leute kümmern – und nicht die ganze Zeit sagen: Geberländer, Geld her! Es wird ja ständig nur nach Geld gefragt, das ist das Interessante. Doch mit Geld löst man diese Probleme nicht, es geht um mehr.« Der Bauhaus-Chef, selbst aus der Dritten Welt, wagt sich damit an ein auch von den sogenannten Progressiven in Deutschland streng gehütetes Tabu: die fast durchweg hausgemachten Probleme in Ländern wie Brasilien. Und er schmeißt nicht, wie allgemein üblich, arme Länder und ihre stinkreichen, geldgierigen Machteliten in einen Topf, die sich gewöhnlich »Entwicklungshilfe« skrupellos aneignen. »Ein Teil der Infrastruktur jener Elitenherrschaft«, so beobachtet Akbar, »wird durch die Armen getragen – die machen denen oben den Dreck weg, als Dienstmädchen, Müllsammler, werden entsprechend übel behandelt.« Und Dienstmädchen, Hausdienerinnen sind die größte Berufsgruppe des Tropenlandes – nicht zufällig kommt sie gerade jetzt in Deutschland bei Betuchten wieder in Mode. In den Favelas haust die spottbillige Arbeitskraftreserve der Eliten, sagt Rios Wirtschaftsexperte Marcelo Neri. Wer in Jacarezinho einen Job ergattern konnte, verdient nach neuesten Studien pro Stunde umgerechnet fünfzig Cents. Und nur, weil Brasiliens Unternehmer ihren Beschäftigten sehr oft bestenfalls Hungerlöhne zahlen, in Europa völlig unakzeptable, ungesunde, hochgefährliche Produktionsbedingungen beibehalten, brutalstes Sozialdumping betreiben, sind Kosten möglich, die erfolgreiches Konkurrieren auf Märkten wie auf dem in Deutschland ermöglichen. Doch Sozialdumping – siehe die Verlagerung deutscher Fertigung in Billigstlohnländer – wird inzwischen auch in Deutschland als völlig normal angesehen. Die sozialen Kosten sieht man in Slums wie Jacarezinho.

Preta

Preta Gil, Tochter des brasilianischen Kulturministers und berühmten Musikers Gilberto Gil, macht in dem Tropenland derzeit Furore. Sie provoziert mit erfrischend politisch unkorrekten Sprüchen und mit kritischen Positionen zu Politik, Kultur, Rassismus und Sex. Erst seit kurzem ist sie Sängerin und Schauspielerin, vor einem Jahr veröffentlichte sie ihre erste CD. Viele Brasilianer dachten anfangs: Schon wieder eine, die den Ruf eines famosen Papas ausnutzt, um sich zu profilieren, um Karriere zu machen. Doch Preta Gil hat wirklich Talent – und der Vater rauft sich über sie des öfteren die Haare. Denn die Tochter sagt Sachen, die sich Minister Gil im Amte nimmer wagen dürfte. In der Megametropole São Paulo probt sie für ihre erste Samstagabendshow im Fernsehen, gibt Konzerte, serienweise Interviews. Die Texte der CD entspringen ihrem Alltag, dem einer Brasilianerin – all der Streß, die Hektik von São Paulo, Rio de Janeiro, der tägliche Überlebenskampf, Karneval und Euphorien; daneben Armut, Misere. Das komplexe Auf und Ab auch im Beziehungsalltag – da kennt sich Preta Gil bestens aus. Sie heiratete bereits mit siebzehn den deutschstämmigen Schauspieler Otavio Müller, reiste mit ihm viel durch Deutschland. »Ich habe eine große Leidenschaft für dieses Land, war in Berlin, Hamburg, München.« Die Liebe währte nicht allzu lange – andere interessante Partner folgten, der Papa hielt es ja ähnlich. Als der die CD erstmals in die Hand bekam, sagte er nur: furchtbar, furchtbar, furchtbar – denn seine nur einssechzig große, mollige Tochter ist im Beiheft mehrfach splitternackt zu sehen. Sie protestiert damit gegen das auch in Brasilien propagierte westliche Schönheitsideal, gegen die gängige Idee, daß nur schlanke, magere Frauen attraktiv, sinnlich, anziehend seien. »Wegen der Fotos gab es in der Öffentlichkeit ein Riesentheater – unmöglich, du als Tochter des Ministers, du bist doch viel zu dick. Das hat mich erst richtig wildgemacht – ich habe die Frauen aufgefordert, diese Diktatur der Magerkeit nicht zu akzeptieren, sich mit ihrem Körper zu identifizieren, diesen ganzen Diätkram, diese Fettabsaugerei nicht mehr mitzumachen. Und sich mehr zu spiritualisieren, mehr auf die inneren Werte zu achten. Ich finde mich schön – und basta. Das kommt sehr gut an, ich werde deshalb jeden Tag auf der Straße angesprochen. Frauen mit meiner Figur wagen sich erstmals an die Strände, selbstbewußt, im Bikini! Ein Mann sagte: Danke, Preta, bisher wollte meine Freundin mit mir nur im Dunkeln vögeln, ich konnte nicht mal ihren Körper sehen. Jetzt tut sie es mit mir bei Sonnenlicht, wunderbar! Also habe ich mit diesen Fotos, mit meiner Haltung, anderen geholfen. Mein Vater sagt, ich mache Politik für die Dicken. Na und? Ich sehe überall soviel Oberflächliches, Scheinheiliges, Mittelmäßiges, Banales, dümmlichen Starkult – da muß doch jemand auch mal Gegenpositionen vertreten.« Preta Gil nennt sich sehr romantisch, ist aber auch ganz schön verrückt. In ihren Presseinterviews nimmt sie auch beim Thema Sex kein Blatt vor den Mund. »Sexuell gesehen, mag ich es gleichzeitig mit einem Mann und einer Frau, habe das schon gemacht. Das war eine transzendentale Erfahrung in meinem Leben. Und über die sexuellen Erfahrungen habe ich mich selber, als Frau richtig kennengelernt, meine Sinnlichkeit entdeckt, meinen Körper. Natürlich hieß es in den Klatsch-TV-Sendern gleich: Preta Gil bekenne sich zu ihrer Homosexualität, die Tochter des Kulturminister sagte, schon Gruppensex gemacht zu haben.« Preta Gil lacht sich krank auf dem Sofa: »Das Land ist eben noch nicht vorbereitet für meine Positionen, was ist das für eine Scheinheiligkeit? Wer hat dennnoch nie sowas gemacht wie ich? Und wers nie tat, sollte es endlich tun, weil es einfach gut ist! Und wer nicht will, läßt’s eben bleiben. Ich gebe keine Ratschläge, rede nur von mir, meinem Leben, laßt mich in Frieden!« Preta heißt die Schwarze – sie ist stolz auf den Namen. »Rassismus habe ich schon als Kind gespürt – und die Schwarzenbewegung in mir drin. Die grausamsten Ghettos sind die Favelas. Wir Dunkelhäutigen müssen weiter für Chancengleichheit kämpfen. Leider fehlen in Brasilien große Schwarzenorganisationen, große Schwarzenführer und Intellektuelle, die für den Kampf positive Botschaften formulieren könnten. Die brasilianischen Negros fühlen sich ausgeschlossen. Ich selbst habe nie auf meine Hautfarbe geschaut. Heute tragen doch alle Masken, leben in einer Welt des politisch Korrekten, reagieren unecht, da man ja nicht rassistisch sein, nicht diskriminieren darf. Alle diese Kampagnen im Fernsehen zugunsten der Schwarzen halte ich für absolut scheinheilig. Daß jetzt eine Dunkelhäutige erstmals Hauptdarstellerin einer Telenovela ist, nennen sie eine Errungenschaft – dabei ist es doch nur Maske! Man zeigt den Slum-Alltag, schwarze Jugendliche, ihre Leidensgeschichten – doch das hat keinerlei Konsequenzen, niemand tut etwas.« Politische Korrektheit schränke doch nur ein, sei einfach öde, werde von ihr abgelehnt. In den Slums frequentiert Preta Gil eine kleine Kirche, die Homosexuelle, Transvestiten, Drogensüchtige akzeptiert. »Jesus Christus« hat sie sich ganz groß auf ihrem Unterarm eintätowiert. Das ist selbst in einem so extrem religiösen Land wie Brasilien sehr selten. »Jede Woche gehe ich einmal in diese Kirche, das muß sein. Dort bin ich den einfachen Leuten ganz nahe – ihr Glaube ist so beeindruckend groß, dadurch überleben sie. Wir studieren die Bibel, ich danke dort Gott für alles, was in meinem Leben passierte, was ich erreichte.« Unweit von ihrer Wohnung in Rio toben in den riesigen Armenvierteln täglich Gefechte zwischen rivalisierenden, hochbewaffneten Banditenmilizen des organisierten Verbrechens, sie terrorisieren die Bewohner. Oft greift die Polizei ein, besetzt zeitweise Favelas. Laut den Vereinten Nationen werden in Brasilien jährlich mehr Menschen durch Feuerwaffen getötet als im Irakkrieg – über 45000. »Es ist aussichtslos. Nicht nur die Slums werden von der gutorganisierten Drogenmafia beherrscht. Tudo dominado! Das macht mich traurig, denn Rio ist ja wunderschön, hat aber diesen Krebs in sich. Sozial und kulturell sind die Favelas ein Abgrund. Die Leute dort akzeptieren die Drogenbanditen, weil sie sonst niemanden haben, denen sie vertrauen könnten. Wer Hunger hat, klopft an die Tür des Gangsters, der gibt ihnen etwas zu essen – eine völlig andere, schwierige Realität! Die Polizei ist korrumpiert, die Regierung ist korrumpiert, alle sind doch verwickelt, das ändert sich nie mehr, es ist zu tief verwurzelt! Aber ich will angesichts dieser ganzen Grausamkeiten nicht mehr anonym bleiben, will das alles nicht mehr hinnehmen. Ich will Leuten helfen, etwas bewirken.« Ende Mai wurde sie im dichten Verkehr São Paulos um ein Haar von Motorrad-Banditen, die nahe dem Gouverneurspalast mit dem Revolver an die Scheiben ihres Taxis klopfen, überfallen. Zufällig folgte ein Polizist in Zivil, alles ging glimpflich ab.

Der Trote

Zehntausende neuimmatrikulierte Studenten des Tropenlandes sehen in diesen Tagen übel zugerichtet aus: Wie ein Häufchen Unglück, schauen sie triste, schicksalsergeben. Die älteren Semester haben sie aus Hörsälen gezerrt oder gleich auf dem Campus abgepaßt, mißhandelt, beschmiert und dann auf die Straße gejagt. Dieses Aufnahmeritual, der Trote, sagen die »Veteranos«, diene dazu, sich bei den Neuen Respekt zu verschaffen, sie zu unterwerfen. Ausführende sind häufig die »Würmer«, also Studenten des zweiten Semesters, kontrolliert, angeleitet von den höheren Studiengängen. Einem »Verme«, der dabei nicht pariert, wird ein Trote wie für die Neuen angedroht. Rafael Nascimento und Marco Miranda, angehende Ingenieurstudenten der Bundesuniversität von Rio de Janeiro, stehen barfuß an einer lauten Avenida im Strandstadtteil Copacabana: »Die Älteren haben uns mitten in der Vorlesung geschnappt – jetzt müssen wir tagelang, von morgens an hier um Geld betteln, abends immer alles abliefern. Sonst kriegen wir nämlich unsere Schuhe nicht wieder, die nehmen sie uns vorher immer weg. Vom heißen Asphalt haben wir schon überall Blasen. Sie wollen das Geld für ein Besäufnis, täglich fünfzig Real, das ist viel Geld. Wenn wir es nicht zusammenkriegen, müssen wir es uns eben von zu Hause holen oder borgen. Alles sehr erniedrigend – sie bewerfen uns mit Eiern, beschmieren uns in Tropenhitze mit Speiseöl, Farbe, Mehl, Ketchup, Senf, Kaffee – man kann dem nicht entfliehen, sie wenden Gewalt an.« Läßt man beim sogenannten Trote die Studentinnen aus? »Von wegen, denen geht’s genauso. Die werden sogar gezwungen, unglaubliche Dinge zu sagen, die keine Frau erzählen mag. Ob sie noch Jungfrau sind und warum – oder wie es beim allerersten Mal im Bett war. Sie müssen das erzählen – man zwingt sie dazu! Die älteren Studenten übergießen manchmal ihre Opfer sogar mit Alkohol, zünden sie an, immer wieder werden Studenten getötet. Erst nach dieser harten Prüfung wird man an der Universität als echter Student akzeptiert. Jeder erleidet das.« Mehr als absurd sei das, meint auch Soziologieprofessor Cezar Honorato von Rios Staatsuniversität UERJ, der für die Vereinten Nationen Forschungsprojekte realisiert und internationale Kongresse abhält – und als Studentenberater den Trote in allen seinen Variationen kennt: »Dieses gewalttätige Ritual verurteile ich scharf, ich bin gegen diese physische, aber auch psychische Gewalt. Der Trote gehört zu jenen Momenten, in denen die Gesellschaft sich entlarvt. Unser renommiertester Anthropologe, Roberto da Matta, sagt immer, wer Brasilien verstehen will, muß den Karneval und die Militärparaden kennen. Ich zähle den Trote dazu – hier manifestieren sich Autoritarismus und Machismus. DerTrote zählt zu jenen brasilianischen Dramen, die zeigen, wie die Gesellschaft wirklich ist. Sogar die Menschenwürde der Studentinnen wird tief verletzt – für mich ist auch Psycho-Folter, wenn man extrem zurückhaltende, sehr schüchterne Studenten zwingt, wild zu tanzen, zu singen, wie ein bekanntes Sexsymbol – das alles ist gravierend. Gewalt gegen neue Kommilitonen eskaliert so stark, daß es sogar Tote gibt – inzwischen sind beim Trote auch harte Drogen im Spiel. Heute sehe ich ältere Studenten still und ruhig in der Bank sitzen – morgen attackieren sie auf einmal wie verrückt die Neuen – für mich ist das schockierend! Bezeichnend auch, daß gutbetuchte, reiche Studenten ausgespart werden.« Da erkenne man die unsichtbaren Machtstrukturen an der Universität. Übrigens: »Wer sich jetzt am meisten über die Trotes erregt, unter dieser Behandlung leidet, traktiert die Neuen nächstes Jahr genauso.« Bezeichnend ist auch für den Soziologieprofessor, wie die Bevölkerung auf das abstoßende Ritual reagiert: Wenn die armseligen, verdreckten Gestalten in den Cities auftauchen, unterwürfig betteln, nimmt man das nur als eine groteske, witzige Spielerei junger Leute, einen Karneval nach dem Karneval, will lieber nicht sehen, was dahintersteckt. »Wir an den Unis schon.« Tumbe ausländische Touristen, die eh nur auf Brasiliens Erscheinungsebene herumtorkeln, richten unentwegt ihre schicken Digitalkameras auf die Bedauernswerten, grinsen amüsiert, spenden großzügig in den hingehaltenen Plastikbecher und begreifen nichts. Zwar ist der Trote an allen öffentlichen Universitäten inzwischen offiziell verboten, gibt es glücklicherweise hier und da auch wirklich Abschwächungen. Doch besonders in Fächern wie Ingenieurwesen, Medizin, Recht und Sport ereignen sich zweimal im Jahr stets die gleichen grauenhaften Szenen. Viele Dozenten hassen dieTrotes, bleiben deshalb der ersten Studienwoche fern, weil sie sich gegen die militanten älteren Semester einfach nicht durchsetzen können. Professor Honoratos Soziologiestudenten lassen indessen seit langem die neuen Kommilitonen in Ruhe. Aber die Ingenieurstudenten Rafael Nascimento und Marco Miranda an der Copacabana – werden die genauso verfahren? »Wenn wir das hier überlebt haben, rächen wir uns dafür nächstes Jahr an den Neuen. Ob auch so gewaltsam, wie sie es mit uns taten, weiß ich allerdings noch nicht. Jedenfalls geht das ewig so weiter mit diesem Ritual.«

«Fabrica de Analfabetos»

Die Hintergründe für Brasiliens Bildungsdesaster

Staatschef Lula hatte zum Amtsantritt

2003 versprochen, das marode öffentliche

Schulsystem seines Landes zu verbessern.

Gegen Ende der zweiten Amtszeit konstatiert

aber selbst die Unesco eine deutliche

Verschlechterung. Die Genese des Desasters

soll nachfolgend aufgezeigt werden.

Brasilien belegte im internationalen Bildungsindex

von 2006 einen keineswegs ehrenvollen

72. Platz, fiel indessen 2009 sogar auf den

80. Platz zurück. Die Sitzenbleiberquote ist danach

lediglich in afrikanischen Staaten höher. In

Portugiesisch und Mathematik sind die Schülerleistungen

sogar schlechter als 1995. Zu den absurden

Folgen zählt, dass in der zehntgrössten

Wirtschaftsnation trotz enormer Massenarbeitslosigkeit

die Unternehmen immer schwerer kompetente

Mitarbeiter selbst für einfachste Tätigkeiten

finden.

Kinder der dünnen Mittel- und Oberschicht

besuchen indes die meist teuren, aber keineswegs

exzellenten Privatschulen. Bei internationalen

Vergleichsstudien wie dem Pisa-Test schneiden

die wohlhabenderen Schüler des Tropenlandes

durchschnittlich denn auch schlechter ab als die

ärmsten Kinder der entwickelten Staaten.

Korruption als Hauptursache?

Die neueste Hiobsbotschaft aber kommt aus den

öffentlichen Schulen Rio de Janeiros, der nach

S˜ao Paulo zweitwichtigsten Stadt. Gemäss amtlichen

Studien, die gewöhnlich geschönt sind, befinden

sich unter den 210 000 Schülern der 4. und

5. sowie 6. Klasse etwa 25 000 funktionelle Analphabeten,

die also nicht schreiben können und

Gelesenes nicht oder kaum verstehen. Selbst Rios

Bildungsbehörde nannte die Schulsituation «catastrofica

». Wie das staatliche brasilianische Statistikinstitut

IBGE konstatiert, sind insgesamt 2,1

Millionen Schüler im Alter zwischen 7 und 14

noch Analphabeten, schafft nur rund die Hälfte

der brasilianischen Kinder den Grundschulabschluss.

Das schlechte Durchschnittsniveau

kann indes keineswegs einem etwaigen krassen

Rückstand der ländlichen Schulen angelastet werden,

da inzwischen über 80 Prozent der rund 190

Millionen Brasilianer in grösseren Städten leben.

Die Gründe des Versagens sind sehr komplexer

Natur. Studien folgern, dass in Brasilien die

sehr hohe Korruption auch zu schlechteren Noten

führt. Wo sich Politiker die Schulgelder in die

eigene Tasche stecken, sind Unterrichtsräume

grauenhaft schlecht ausgestattet, fehlen Lehrmittel

und Bücher, erhalten Schüler weder das vorgeschriebene

Frühstück noch ein Mittagessen. Fällt

auch der Schulbus weg, werden Kinder erst gar

nicht aus weit entfernten Dörfern und Stadtperipherien

abgeholt. Wo Korruption herrscht, wird

die Schulausbildung weder von Lehrern, Direktoren,

Eltern noch Kindern ernst genommen.

Regelmässig beschweren sich Jugendliche darüber,

Phantasieabschlussnoten in wichtigen Fächern

erhalten zu haben, die wegen des chronischen

Lehrermangels nie gelehrt worden waren.

Lustlos und schlecht ernährt

Fortdauernde Hungerprobleme sowie die Krise

des Gesundheitswesens bewirken gemäss Bildungsexperten

zudem selbst in S˜ao Paulo, Brasiliens

reichster Stadt, eine Tragödie: Viele Schüler

unterzogen sich nie einem ärztlichen Test, können

wegen schwacher Augen nicht entziffern, was der

Lehrer an die Tafel schreibt, und auch nicht deutlich

hören, was er sagt. In den entscheidenden ersten

Lebensjahren sehr schlecht ernährt, mit leerem

Bauch im Klassenraum sitzend, können sie

sich zudem kaum konzentrieren, dösen nur vor

sich hin. Brasilianische Schüler haben im Durchschnitt

täglich weniger als drei Stunden Unterricht,

obwohl das Gesetz vier Stunden vorschreibt.

Desinteresse und Lustlosigkeit sind

Hauptgrund für den vorzeitigen Schulabgang.

Augenschein in einer öffentlichen Gemeindeschule

des brasilianischen Nordostens, die wegen

ihres Niveaus immer wieder gelobt wird: Krach,

lautes Stimmengewirr von über 30 Sechstklässlern,

gegen das ihr Lehrer nicht ankommt. Er

redet über die Entstehung des Nationalstaates,

doch kaum jemand hört ihm zu, fast alle schwatzen

miteinander. Schüler stehen auf, laufen im

Klassenzimmer herum und gehen sogar hinaus.

Die Tür zum Unterrichtsraum steht weit offen –

von draussen schauen Kinder herein oder gehen

sogar zu den Schülern und unterhalten sich mit

ihnen. Der Lehrer lässt den Unterrichtsstoff

immer wieder abschnittsweise aus dem Geschichtslehrbuch

vorlesen. «Es ist schwierig, sich

zu konzentrieren», sagt der 12-jährige Luis, als

Einziger sichtlich interessiert. «Es gibt immer

Schüler, die ein Chaos anrichten. Wer hier nichts

lernen will, den lässt der Lehrer in Ruhe. Es ist

dann eben die Schuld von denen, wenn sie im

Leben nicht vorankommen wollen. Manchmal

werden Lehrer mit Kraftausdrücken beschimpft –

doch die reagieren gar nicht darauf.»

Pro Tag werden lediglich zwei Fächer gelehrt,

jeweils rund eineinhalb Stunden – mit weit weniger

Stoff als etwa in der Schweiz oder in Deutschland.

Im Portugiesischunterricht geht es sehr ähnlich

zu wie in der Geschichtsstunde. Nur mit kräftiger

Hilfe der Lehrerin bringen die Dreizehnjährigen

bis zum Ende wenigstens drei oder vier sehr

schlichte, banale Sätze über einen Strandbesuch

zu Papier. Und immer wieder fallen Fächer aus,

weil stattdessen ein Polizist Präventivunterricht

gegenGewalt und Drogen abhält.Das spottbillige

Crack, aber auch Kokain werden inzwischen

selbst in den Hinterlandgemeinden Brasiliens gedealt.

Unweit der Schule feuerten erst unlängst

rivalisierende Banditenkommandos aufeinander.

Jener Polizist, der eine Schiesserei schwer verwundet

überlebte, macht es sich ähnlich einfach

wie die Lehrer – von effizienter Aufklärung keine

Spur, stattdessen Gemeinplätze, häufiges Absingen

des Anti-Drogen-Songs. All dies macht nachvollziehbar,

warum brasilianische Bildungsexperten,

aber auch die Unesco das nationale Schulsystem

so scharf kritisieren. Lehrer, die nicht einmal

Grundkenntnisse der Alphabetisierung beherrschten,

dürften gar nicht vor eine Klasse.

Schule als Freizeitpark

Überraschend, dass die Direktorin jener Gemeindeschule

alle genannten Probleme sehr genau

kennt, jedoch nicht eingreift, die Dinge einfach

laufen lässt. IhrMonatsgehalt liegt bei umgerechnet

165 Euro, das der Lehrer ist entsprechend

niedriger. «Disziplinprobleme sind enorm, hinzu

kommen Gewalt und Drogen. Viele Schüler

schwänzen – ich dürfte das alles eigentlich gar

nicht sagen. In den meisten Familien kontrollieren

die Eltern ihre Kinder überhaupt nicht mehr.

Diese Kinder sehen in der Schule regelrecht einen

Freizeitpark zum Amüsieren.»

Die angesehene Psychologin Rosely Sayao aus

Sao Paulo spricht von einer «Kultur der Gewalt»

in Brasilien, was tiefgreifend die Bildung der

Heranwachsenden schädige. Entsetzlichstes und

am besten dokumentiertes Beispiel sind die Schulen

in den von hoch bewaffneten Räuberkommandos

beherrschten Slums in Rio de Janeiro.

Zahlreiche Schulabgänger des Nordostens migrieren

in die mehrere tausend Kilometer entfernte

Mega-City S˜ao Paulo, führendes Wirtschaftszentrum

Lateinamerikas. Etwa die Hälfte

der über zwanzig Millionen Einwohner stammt

aus dem Nordosten. Schwer zu übersehen, dass in

den mehr als 2000 Slums sehr viele junge Menschen

arbeitslos sind, obwohl die Firmen kein

qualifiziertes Personal finden. Personalchefs wie

Elizabeth Leonetti vom französischen Kulturkaufhaus-

Multi FNAC klagen über eine zunehmend

schlechtere Qualität der Bewerbungen.

Deshalb greife man auf eine Kannibalismus genannte

Methode zurück: «Wir entreissen den

Konkurrenzfirmen regelrecht die Mitarbeiter, suchen

sie dort, werben sie ab.» Inzwischen müsse

Brasilien bereits Facharbeiter importieren, nähmen

selbst Inder und Chinesen in S˜ao Paulo den

Einheimischen die Stellen weg. Viele Firmen

richten in ihren Fabriken notgedrungen Grundschulen

ein, lehren Grundkenntnisse, die die

Schulen nicht vermitteln. Die Mitarbeitersuche

wird ein enormer Kostenfaktor, weil nicht selten

Zehntausende von Bewerbern getestet werden

müssen. Erschwerend kommt hinzu, dass Zeugnisse

und Diplome nur zu oft gekauft wurden

oder gefälscht sind und Lebensläufe der Bewerber

viele Unwahrheiten enthalten.

Schlingensiefin Sao Paulo

Im Wunderheiler-Sektentempel – Anregungen für Braunfels-Oper in Berlin

„Milagres sem Limites“ – Wunder ohne Grenzen verspricht Deus-è-Amor-Sektengründer David Miranda in der neuesten „Grande Campanha“. Anfang Dezember 2007 steht im laut Eigenwerbung „größten Tempel der Welt“ in Sao Paulo Christoph Schlingensief scharf, intensiv beobachtend mitten unter Schreienden, Zuckenden, sich zu Boden Werfenden, die Bibel unablässig gen Himmel Streckenden. Live zugeschaltet ist eine Wunderheilung aus Mexico-City, und noch eine, aus einem Stadion der nordostbrasilianischen Küstenstadt Fortaleza. Mirandas Filialen-Wunderheiler berichten immer wieder über den Fortgang der Wunder-Kampagne, das blitzartige Verschwinden kompliziertester Gebrechen. Doch niemand kann es besser als Miranda – Blinde können wieder sehen, Taube hören, Lahme wieder gehen, verspricht er unablässig,  weltweit sogar über zig Radiosender. Blinde und Taube waren in der Menge um Schlingensief nicht auszumachen, aber Gelähmte wurden zahlreich in Rollstühlen hereingefahren, nahe Mirandas schußsicherer Glaskabine aufgereiht. Als das Stöhnen, Schreien, Seufzen der Gläubigen seinen Höhepunkt erreicht, helfen Pastoren den Behinderten in den Rollstühlen nach, heben einen nach dem anderen heraus – und siehe, sie gehen, bewegen sich zu Missionario David Miranda – klammern sich an die Brüstung vor seiner Glaskabine und danken. Nun ist kein Halten mehr, die Menge begeistert, Gloria Deus – so viele Wunder! Zwölf Paraliticos geheilt, zwölf Rollstühle, nun leer, werden von kräftigen Pastoren stolz über dem Kopf getragen, an Mirandas Kabine aufgereiht. Gloria Deus, Gloria Deus! Und wer mit den selben Gebrechen ungeheilt nach Hause geht? Du hast nicht intensiv genug geglaubt, deshalb ist das Wunder nicht eingetreten – selber schuld, argumentieren dann Brasiliens Wunderheiler. Also hin zur nächsten „Cura milagrosa“ – und vor allem durch kräftige Spenden an die Sekte die Heilungschancen deutlich erhöhen!

Wieder in der Operngeisterbahn einige Kilometer weiter:“Gott ist die Liebe – das ist die größte Sekte, der größte Tempel, die ich je gesehen habe“, kommentiert Schlingensief. „Diese Architektur, dieses Ereignis beziehe ich jetzt natürlich klar auf mein nächstes Projekt, die Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna` von Walter Braunfels, an der Deutschen Oper in Berlin. Denn hier sind Imperatoren unterwegs, hier findet man eine sich selbst finanzierende Religion, dazu eine Armee von Versehrten, Leidenden, Zuckenden, von Veitstänzern. Und die Manipulatoren, die Organisatoren sind Imperatoren. Sie haben große Landkarten an der Tempelwand, die dann heftig aufleuchten, wenn der Sektenheilige aus dem Keller per Lift hochfährt, sich dann hinter Panzerglas versteckt. Man sieht auf den Weltkarten der Tempelwand, daß Afrika schon dazugehört, daß die Live-Schaltungen selbst nach Deutschland stehen, und nach Australien, Kanada. Es gibt eigentlich kein Land mehr, das nicht zugeschaltet wird!“ Für Schlingensief ist die Botschaft der Sekte eindeutig: „Wir haben riesige Tempel, haben uns vernetzt – und ihr glaubt, wir haben keine Macht! Unsere Macht ist das Wunder – und wenn es nicht eintritt, sind die Leute selber schuld. Das ist die Politik der Zukunft! Sie tut so, als würde sie etwas versprechen – aber wenn nichts stattfindet, liegt es eben an jedem selber. Die Heilige Johanna schafft es, daß ein ganzes Heer in den Krieg zieht, um den Dauphin zu krönen – und da erkenne ich den Grundgedanken dieser Sekte.“

Deren weltweit ständig ausgestrahlte Radiosendungen will Schlingensief nach der Rückkehr in Deutschland genauer studieren. „Voz da Libertaçao“, Stimme der Befreiung, ist auch für Portugiesisch-Unkundige zweifellos ein besonderes Hörerlebnis.

Denkwürdiger Villa-Lobos-Klavierwettbewerb in Sao Paulo

Sieger aus China, Frankreich und Estland

Lateinamerikas größter Komponist ist der Brasilianer Heitor Villa-Lobos aus Rio de Janeiro, der von 1887 bis 1959 lebte. Vor allem seine Freundschaft mit dem polnischen Pianisten Arthur Rubinstein war ihm Anregung, eine Vielzahl von Klavierstücken, Klavierkonzerten zu schaffen. Denen ergeht es indessen wie den meisten anderen fabelhaften Kompositionen – über eintausend. Der große Villa-Lobos ist zwar auch in Europa recht bekannt – mancher hörte womöglich die „Bachianas brasileiras“  – doch seine Werke werden kaum gespielt. Und selbst in Brasilien existieren von nicht wenigen Stücken bis heute keinerlei Tonaufnahmen. Um all dem abzuhelfen, veranstaltete der Komponist und Dirigent John Neschling im August in der brasilianischen Megametropole Sao Paulo mit seinem Sinfonieorchester den ersten „Concurso Internacional de Piano Villa Lobos“. Der in Rio geborene Weltbürger Neschling, ein Großneffe Arnold Schönbergs, hatte das drittklassige Orchester 1997 übernommen – heute ist es das beste Lateinamerikas, zählt zu den besten der Welt, bereitet sich auf die zweite Deutschlandtournee vor.  Überschattet wurde der Klavierwettbewerb von Sao Paulo indessen bereits im Vorfeld von einem erstaunlich hochgespielten öffentlichen Streit um eine angeblich unsaubere Kandidatenauswahl – von Brasiliens Kommerzmedien wurde das einwöchige hochklassige Musikereignis daraufhin bedenklicherweise boykottiert, blieb der Saal nur zu oft beinahe leer. Nicht nur Sao Paulos Konzertpublikum, sondern auch die komplett fehlenden Musikstudenten der Universitäten und Konservatorien stellten sich ein peinliches, blamables Armutszeugnis aus. Sogar die New York Times hatte von einem Skandal gesprochen – John Neschling und die gesamte Jury wiesen indessen Korruptionsvorwürfe in einer Erklärung als haltlos zurück. Jurypräsident des Villa-Lobos-Wettbewerbs war kein geringerer als Brasiliens international bekanntester Pianist Nelson Freire – schwerlich denkbar, daß dieser seine Reputation aufs Spiel gesetzt und Betrügereien gedeckt hätte.

–Preisträger Chun Wang aus Peking—

Bei dem einwöchigen hochklassigen Concurso versetzte der 16-jährige Chun Wang aus Peking Jury und Publikum immer wieder in Erstaunen und Verzückung.

Letztes Jahr kam er in Weimar beim Franz-Liszt-Wettbewerb für junge Pianisten auf den dritten, beim Ausscheid von Sankt Petersburg sogar auf den ersten Platz – und auch in Sao Paulo spielte er sich jetzt souverän an die Spitze.

Nelson Freire nannte ihn geradezu überschwenglich ein phantastisches, außergewöhnliches Talent, von der ersten bis zur letzten Note auf höchstmöglichem Niveau, trotz seines Alters bereits ein kompletter Musiker.

Der zweite Preis ging an die zwanzigjährige Jie Chen, ebenfalls aus China, die das Publikum wohl wegen des Charismas am liebsten auf dem ersten Platz gesehen hätte. Dritter wurde der 28-jährige Franzose Romain David, vierte die aus dem russischen Kaliningrad stammende und heute in Estland lebende Irina Zahharenkova, 30. Als bester brasilianischer Kandidat wurde der 24-jährige Aleyson Scopel geehrt, der einen Teil seines Klavierstudiums an der Hanns-Eisler-Hochschule für Musik in Ostberlin absolviert hatte.

Bei der letzten Prüfung des Wettbewerbs dirigierte John Neschling das 1952 von Villa-Lobos komponierte Klavierkonzert Nummer vier, von dem bisher jegliche Tonaufnahme fehlt, und lachte zwischendurch vom Pult aus dem schwarzhaarigen Chun Wang immer wieder aufmunternd zu. „Dieser Junge hat eine unglaubliche Musikalität, Technik, Reife und Natürlichkeit –  ich hoffe, daß er auch phantastisch bleibt. Denn da er nur 16 Jahre alt ist, kann das kann rasch kaputtgehen – aber ich glaube nicht.“

–Chinas starker Pianistennachwuchs—

Daß gleich zwei Bewerber aus China in Sao Paulo an der Spitze liegen, kommt für Neschling nicht überraschend:“Es gibt dort in China eine Schule mit zwanzigtausend Pianisten – es muß unter diesen zwanzigtausend einfach zehn geben, die phantastisch und außerordentlich sind.“

Maestro Neschling sieht das Ziel des Wettbewerbs erreicht: Über hundert hochtalentierte junge Pianisten aus aller Welt studierten teilweise zum ersten Mal  intensiv Villa-Lobos – und werden ihn hoffentlich bei ihren künftigen Konzerten immer wieder spielen. „Die Kandidaten sagten mir, dessen  Werk habe sie bei der Vorbereitung begeistert, fasziniert.“

Chun Wang, Jie Chen oder Irina Zahharenkova machen bereits Tourneen auch in Europa, erzielen gute Gagen, spielen vor vollen Häusern. Sao Paulos Orchestersaal mit über 1500 Plätzen, eine umgebaute Bahnhofshalle mit ausgezeichneter Akustik, war indessen selbst zum Preisträgerkonzert nur sehr mäßig gefüllt. Wo blieben die Heere von Musikstudenten, die anderswo in der Welt auf der Suche nach Orientierung und Erfahrung wegen solcher Pianisten Schlange stehen  – ist der schwache Publikumszuspruch nicht ein Armutszeugnis für die Zwanzig-Millionen-Stadt Sao Paulo? „Ja, ich glaube schon“, sagt Neschling vorsichtig. Die künstlerische Leiterin des Sinfonieorchesters, Rosana Martins:“Wir haben den Piano-Studenten Sao Paulos sogar Gratis-Einladungen angeboten  – doch die kamen einfach nicht, es ist nicht zu fassen!“

Wer sich für klassische Musik interessiert, die entsprechende Szene in Mitteleuropa kennt, mußte sich hier als Concurso-Beobachter zwangsläufig an den Kopf greifen, sah Auswirkungen niedrigen Bildungsniveaus. Dabei hatte Brasilien, wie Neschling sagt, schon einmal eine große Tradition von Klavierwettbewerben, mit dem Höhepunkt in den fünfziger und sechziger Jahren.

Die besten jungen Pianisten der Welt spielen in Sao Paulo – und kaum einer geht hin… „Meine Generation, die Jungen heute sind konservativ, träge, bequem, eng, suchen nicht nach Neuem“, bemerkt der junge Schriftsteller Joao Paulo Cuenca.

–Rachefeldzug gegen John Neschling?—

Beim Abschlußempfang des Villa-Lobos-Klavierwettbewerbs wollten weder Jurypräsident Nelson Freire noch Neschling den öffentlichen Streit um eine angeblich betrügerische Kandidatenauswahl erneut kommentieren. Brasilien hat heute das beste Sinfonieorchester seiner Geschichte, weil der temperamentgeladene, streitbare Neschling nicht bereit war, übliches Mittelmaß und Laissez-Faire, Respektlosigkeit, stumpfe, lähmende Bürokratie und Schlamperei zu akzeptieren, und weil er mit hierzulande selten anzutreffendem Idealismus eine regelrechte lateinamerikanische Klassik-Kulturrevolution in Gang setzte.  Er hat dabei Erfolg – und deshalb entsprechend viele Feinde, Neider. Neschlings schon klassischer Ausspruch angesichts der weltweit dominierenden Berieselung mit einfältig-banaler Primitivmusik, mit musikalischem Schrott:“Fünfundneunzig Prozent von dem, was wir täglich hören müssen, ist Scheiße!“

Jetzt sollte Neschling dafür gesorgt haben, daß schlechtere, ihm genehmere  Kandidaten den eindeutig besseren vorgezogen wurden. Entsprechende Vorwürfe kamen vor allem von dem israelischen Pianisten Ilan Rechtman, der zunächst als Direktor des Wettbewerbs fungiert hatte. Weil Rechtman indessen in einer E-Mail an Neschling u.a. eingeräumt hatte, bei der Kandidaten-Vorauswahl eigenmächtig die Bewertungsnoten des brasilianischen Juroren Gilberto Tinetti, eines Pianisten und Musikprofessors, verändert zu haben, war er bereits im April von Neschling entlassen worden. Der über gute Kontakte verfügende Rechtman, so bewerten es brasilianische Musikexperten, startete  daraufhin einen Rachefeldzug gegen Neschling, mobilisierte die Anti-Neschling-Lobby in Medien und Kulturszene. Selbst die großen Qualitätsblätter Brasiliens waren nicht bereit, die Position von Neschling und Nelson Freire im journalistischen Teil zu erwähnen, so  daß, wie  der bekannte brasilianische Stefan-Zweig-Biograph Alberto Dines hervorhob, der Leitung des Villa-Lobos-Klavierwettbewerbs nichts weiter übrigblieb, als auf die haarsträubenden Vorwürfe aus der Ilan-Rechtman-Ecke mit teuren Gegendarstellungen zu reagieren. Bezeichnend, daß Sao Paulos Kommerzmedien daraufhin den Pianistenwettbewerb mit einem Boykott überzogen, über die Konzerte der Kandidaten die ganze Woche lang keine einzige Zeile veröffentlichten. Ein Eigentor sondergleichen.

Bei der Preisverleihung erinnerte der Maestro hintersinnig an einen Auspruch des großen Bossa-Nova-Miterfinders Tom Jobim aus Rio de Janeiro, von dem das berühmte „Girl from Ipanema“ stammt: “In Brasilien Erfolg zu haben, ist sehr gefährlich. Denn wer erfolgreich ist, sagte Tom Jobim, muß ständig auf der Hut sein, muß wachsam sein, sich vorsehen. Wegen des Wettbewerbs hatten wir Kämpfe, ja, regelrechte Schlachten zu bestehen. Doch ich meine: Die Hunde bellen, aber die Karawane zieht weiter.“

Tom Zé

Musiker, Avantgardist, Provokateur

Wessen Konzerte arten jedesmal in tropisch-karnevaleske , zirzensische Happenings aus und haben dennoch philosophisch-politischen Tiefgang? Konzerte, bei denen sich das Publikum wie wild amüsiert, mitmacht, tanzt und trotzdem nachdenklich nach Hause geht, mit ein paar subversiven Ideen im Hinterkopf? Das bringt nur einer fertig – der stets selbstironisch-selbstkritische, fröhliche Tom Zè aus der Megametropole Sao Paulo, experimentierfreudigster Komponist des Landes. Er stammt aus dem winzigen Dorf Irarà in Bahia, studierte bei dem vor den Nazis nach Brasilien geflüchteten Paul-Hindemith-Schüler Hans-Joachim Koellreutter Musik, führte mit Gilberto Gil, Caetano Veloso, Gal Costa und anderen die künstlerisch-musikalische Erneuerungsbewegung „Tropicalismo“, mitten in der Diktaturzeit. Und dann das – der rebellischste, kreativste Tropikalist von allen, der als einziger den Idealen der Bewegung wirklich treu bleibt, fällt für zwei Jahrzehnte in Vergessenheit, wird vom Musikmarkt geschnitten. Bis David Byrne von den Talking Heads rein zufällig zum Wiederentdecker wird, in den USA mehrere Tom-Zé-Alben herausbringt. Und die Musikzeitschrift „Rolling Stone“ eines davon in die Liste der 150 besten CDs der neunziger Jahre aufnimmt. Keinem anderen Brasilianer widerfuhr diese Ehre.  „Estudando o Pagode“, die neueste CD von Tom Zè, wird von brasilianischen Musikkritikern zur interessantesten nationalen Produktion des Jahres 2005 erklärt.

„Ich bin in Bahia aufgewachsen und habe seit meiner Kindheit Thomas Mann gelesen, der ist mein Lieblingsautor bis heute. „Joseph und seine Brüder“ zum Beispiel habe ich bestimmt schon fünf, sechs mal gelesen. Mein Opa hat Tabak nach Deutschland exportiert, der dort richtig berühmt war. Thomas Mann spricht ja an bestimmten Stellen über Zigarren, erwähnt dabei sogar die aus Cachoeira in Bahia. 1953 habe ich mit meiner ersten Freundin im Auto des deutschen Aufkäufers, eines Herrn Becker, herumgeschmust, der immer mal zu uns kam. Während des zweiten Weltkriegs hat man dessen Frau hier eingesperrt, weil sie Deutsche war – damals wurden die Deutschen hier ja verfolgt. Mein erstes Konzert in Deutschland gab ich in Ostberlin. Ich fuhr dorthin von Paris aus mit dem Auto, kam nachmittags im Nebel an und hatte eine regelrecht kosmische Angst – denn die ganze Kindheit galt Berlin für mich immer als Zentrum des Horrors, der Unmenschlichkeit. Und auf einmal fahre ich dorthin mit dem Auto! Ich hatte Horrorgefühle, es war nicht zu glauben! In Ostberlin habe ich diese großen Alleen bewundert, fand die Stadt angenehm. Was für eine Überraschung – denn ich dachte, in Deutschland ist alles finster, unheimlich, furchtbar, die Deutschen inbegriffen. Und dann auf einmal so sympathische Leute dort! Für mich gibt es zwei sympathische Völker in Europa – nach den Italienern sind das zu meiner eigenen Überraschung die Deutschen. Die sind liebevoll – sogar diese Riesen, diese so Ernsten, auch die, die so brummig-verschlossen erscheinen. Alle sind dermaßen höflich – wir haben dort nur wunderbare Erfahrungen gemacht.  Also wirklich, Italiener und Deutsche sind die sympathischsten in Europa. Die Franzosen, das weiß man ja, sind unerträglich – der Herr verzeihe mir!

Meine Texte sind häufig eine Art Dadaismus. (Singt) Dalaque, tac-tac…

Als ich in Brasilien in Vergessenheit geriet, habe ich sehr gelitten, mich aber nie aufgegeben und auch nie beklagt. Denn ich wußte einfach nicht, ob meine Musik denn wirklich gut war. So ab 1973 dachte ich, meine Musik sei zu schwierig, zu schlecht gemacht, da sie ja keiner wollte. Das tat mir weh. Und dann kauft David Byrne zufällig in Rio de Janeiro diese Platte „Estudando Samba“, von der, als sie herauskam, kein Mensch Notiz genommen hatte. Durch David Byrne kam ich mit dieser Platte wieder mit der Welt in Kontakt. Nur deshalb arbeite ich jetzt nicht in einer Tankstelle in meinem Heimatort Irarà. Was hatte ich mich geschämt, daß ich keinen Erfolg hatte, mich deshalb die Leute so anschauten. Warum packt der es denn nicht? Und dann bin ich plötzlich in der US-Billboard-Hitparade. Ich las das wie die Bibel – ich sozusagen in der Bibel! Meine Musik ist eben anders – trotz des Erfolgs in den USA und Europa wurde ich erst ab 1998 hier wieder als brasilianischer Musiker wahrgenommen. Dabei sind meine experimentellsten Musiken Sambas! Toc-toc-toc…Ich bin weiterhin ein experimenteller Tropikalist. Nicht weil ich besser bin als die andern, sondern weil ich andere Sachen einfach nicht kann. Ich kriege einfach keine wunderschönen Melodien hin, die die Leute in ihrem beschaulichen Leben singen. Meine Inspiration ist diese Stadt, sind die gesellschaftlichen Widersprüche hier. Ich bin schließlich Schüler von Hans-Joachim Koellreutter, von Ernst Widmer – ich bin Schüler des praktisch-klassisch-mathematischen Deutschland! Ich bin kein Genie, arbeite manchmal 16 Stunden am Tag. Aber wenn die Sachen fertig sind, hasse ich richtig Musik, habe ich einen Horror davor! Ich bin eigentlich eine emotional unreife Persönlichkeit und suche mich durch meine Arbeit im Gleichgewicht zu halten. Ich will die Wahrheit über Dinge sagen, die ich für ungerecht halte. (Singt)

Ja, mein Lied über Sao Paulo – soviel Schmerz, soviel Liebe! In diesem Lied sage ich: Es sind zwanzig Millionen Einwohner, aus allen Ecken, aus allen Nationen, die sich gegenseitig mit aller Höflichkeit verletzen, die wie unter Hochdruck durch die Stadt rennen, sich mit allem Haß lieben, und mit ganzer Liebe hassen. Ein Haufen Einsamkeit. Tausend Schornsteine und luftverpestende Autos. Kurios, daß damals, als ich das Lied schrieb, die Luftverpestung erst als Gefahr drohte. Heute ist es tatsächlich eine, ist verantwortlich dafür, daß viele Leute teils schwere Krankheiten haben. Brasilien ist ein reiches Land, doch wir haben Misere. Wieso sind nur die Reichen dermaßen blöd, daß sie immer noch mehr haben, noch reicher werden wollen, obwohl sie doch nicht einmal mehr frei auf der Straße laufen können. In Deutschland, in der Schweiz ist alles ausgeglichener – hier dagegen haben wir sehr Reiche und sehr Verelendete. Wenn du hier etwas Geld in der Schublade hast, muß du das vor allen verheimlichen. Wenn das dein Nachbar wüßte, würdest du am nächsten Tag überfallen. Die in Deutschland machen sich doch einfach keinen Begriff, wie das hier in Sao Paulo oder in Rio ist. Ich mache Psychoanalyse, habe deshalb ein klinisches Auge für die Politik – ich lebe dank der Psychoanalyse – Freud hält mich aufrecht!

Wir sind eine junge Nation, mit einer Physiognomie ohne klare Konturen – wir sind eine Art Vorentwurf eines Menschen, also gesellschaftlich gesehen. Und einer der kuriosesten Aspekte ist, daß wir Sympathien für Dinge hegen, die wir eigentlich nicht wollen. Das ist natürlich, das gibts viel in der Geschichte der Nationen. Jeder deutsche Politiker hätte dafür tausend Beispiele parat. Unser großer Bildungsexperte Paulo Freire, von der Diktatur verfolgt und eingesperrt, schuf den Begriff „den Unterdrücker freundlich wie einen Gast aufnehmen“ – das definiert Brasilien.  Das bedeutet – man sieht den Unterdrücker agieren, lernt dessen Methoden und Techniken kennen. Doch wenn dann auf einmal jemand Akteur der Geschichte sein kann, handelt er genau wie zuvor der Unterdrücker! Das ist Brasilien! Er handelt wie der Unterdrücker, weil er ja nur dessen Methoden kennt. Er hat den Unterdrücker in sich. Das ist unsere Tragödie, unsere Tragikomödie!

Ich war schon mal Konzertkritiker von Karl-Heinz Stockhausen. Brasilien hat überall im Lande die verschiedensten Folklore-Stile, die verschiedensten Tänze, Improvisationen. Diese Folklore ist wie eine eigene Weltanschauung, wie es die Deutschen nennen würden – habe ich das deutsche Wort „Weltanschauung“ jetzt richtig ausgesprochen? Diese Folklore hat eine eigene Philosophie, eine eigene Metaphysik, ist  wie eine andere Konzeption des Universums – es erschauert mich richtig, wenn ich sowas sage. Überall kleine kulturelle Zellen sozusagen in Brasilien, ein unglaublicher Reichtum. Man sagt, Brasilien habe keine Erdbeben. Lüge! Das Land wird ständig erschüttert durch die Kraft seiner Folklore. Wir armseligen Komponisten machen eigentlich nichts weiter, als aus dieser reichen Folklore zu zitieren. Obwohl es natürlich auch die Wegwerfmusik gibt – das ist das andere Brasilien. Wenn du etwa nach Pernambuco im Nordosten reist, wenn du es überhaupt verstehst, hier die richtigen Orte auszuwählen, die richtigen Platten zu kaufen, wirst du in allen Regionen außerordentliche Dinge finden. Aber wenn du TV glotzt und siehst, was da angepriesen wird als d i e Musik von  Rio, Bahia, Sao Paulo – da findest du nur Mist und Schrott.“

Marina Maggessi, Kriminalinspektorin

Für Rio de Janeiros couragierte Chefinspektorin der Zivilpolizei, Marina Maggessi, neben deren Schreibtisch ein großes Chè-Guevara-Bild steht, leider nichts Neues: Top-Athleten, die als weltbekannte Fußballprofis Millionen scheffeln, halten ebenso  wie prominente Schauspieler, Popmusiker, Politiker und Models enge freundschaftliche Kontakte zu übelsten Verbrecherbossen, die neofeudal mit ihren hochbewaffneten Banditenmilizen über Rios riesige Slums herrschen und die Bewohner terrorisieren. Daß Multimillionär Pelè seinen wegen Drogenhandels einsitzenden Sohn Edinho gegenüber der Presse als unschuldig bezeichnet, nötigt der bewundernswerten, unter hohem Lebensrisiko tätigen Chefinspektorin nur ein Hohnlachen ab. Man kennt ja Pelè. Mitten in der härtesten, grausamsten Phase der Militärdiktatur, als man politische Gefangene lebendig den Haien zum Fraß vorwarf, erklärte er im Ausland:“Es gibt keine Diktatur in Brasilien – wir sind ein freies Volk!“ Marina Maggessi kämpft mit ihrem viel zu kleinen Team der Zivilpolizei, um den Bewohnern Rios zu mehr Sicherheit, mehr Bürgerrechten zu verhelfen. Aber gegen die Banditendiktatur in den Slums, gegen jenen  Parallelstaat der Verbrechersyndikate kommt sie nicht an. Der Kulturminister und Musiker Gilberto Gil fuhr mit dem Arbeitsminister in der Regierungslimousine völlig ohne Polizeischutz, ohne Body-Guards in einen großen Slum Rios ein, hatte sich die Visite, wie die Presse berichtete, zuvor von gefürchteten, berüchtigten Gangsterbossen genehmigen lassen. Schriftsteller beklagten, damit sei von den Ministern die Parallelregierung der Verbrecher legitimiert worden. „Geschähe derartiges in Berlin, Paris oder London“, so der Sozialwissenschaftler Paulo Sergio Pinheiro in Sao Paulo, „würde das im Parlament debattiert, würde die Regierung stürzen.“ Vom hohen Felsen eines Hangslums an der Copacabana werden regelmäßig Mßliebige zur Abschreckung in die Tiefe gestoßen – die Banditenbosse kennen kein Erbarmen.

„Es sind Tyrannen, ja, richtige Tyrannen, die barbarische Untaten begehen. Sie verbrennen Menschen lebendig, zerstückeln Personen, verüben Greueltaten jeder Art. In den Slums herrschen  sie mit aller Bösartigkeit, brutaler Macht. Die Slumbewohner haben zu diesen Banditenbossen ein Verhältnis von Liebe und Haß. Denn es gibt welche, die auf Einschüchterung setzen, während andere die Rolle des Staates übernehmen. Was dieser an Sozialem nicht tut, tun sie. Da gibt es welche, die bezahlen sogar das Kochgas bis hin zu Beerdigungen, zur Miete – und geben dem Slum Schutz. Diese Banditenmacht ist schon so institutionalisiert, alle Segmente der Gesellschaft sind verwickelt. Ich mache mir nicht viel Kopfzerbrechen über die Lebensgefahr, in der ich mich befinde. Wenn man darüber nachdächte, würde ja niemand mehr diese Arbeit machen wollen. In Rio will der Bandit nur Vorteile – und mich zu töten, brächte ihm keine. Mich zu liquidieren, ist eigentlich gar nicht so schwer – aber danach wäre für ihn Sense, wäre er dran. Doch ich glaube in dieser Lage sehr stark an Gott.

Es ist schon sehr eigentartig, daß Prominente diese Kontakte zu den Banditenbossen pflegen. Vor allem Fußballspieler sind verwickelt. Wir sind da auf unseren Nationaltorwart Julio Cesar gestoßen, der jetzt bei Inter Milano ist – und auch auf Jorginho, der zum Beach-Soccer-Weltmeisterteam gehört und bereits zweimal zum besten Spieler der Welt gekürt wurde. Diese Banditen repräsentieren Macht – und die fasziniert, diese Parallelmacht. Vielleicht geht es auch um eine Art Geleitbrief. Freund eines Banditen zu sein, schützt davor, Verbrechensopfer zu werden. Wenn einer überfallen wird, kann er sagen, olha, ich bin der Freund dieses oder jenes Gangsters, der dich umbringen wird. Das ist es – dieser Glamour, sozusagen Freund des Königs zu sein! Dieses Mannes, der im Slum befiehlt! Aber ethisch-moralisch ist die Haltung dieser Leute erbärmlich. Doch so ist die Realität in Rio – da sehen wir die Scheinheiligkeit. Diese Prominenten gehen zu den Banditenfesten, spielen dort unter anderem Fußball. Alles läuft so ab: Der Gangsterboß organisiert ein Wohltätigkeitsfest, ein Fußballspiel, eine Musikshow zugunsten einer regierungsunabhängigen Organisation, die zum Beispiel Kinder unterstützt. Und bei dem Fest erscheint dann mittendrin der Gangsterboß, stellt sich allen vor, läßt gratis Bier, Whisky, Energiedrinks ausschenken,  es gibt viel zu essen, Grillfleisch und Samba. Und alle sind eben dabei. Einige gehen dorthin und kommen aber nie wieder – andere werden Freunde des Gangsterbosses, halten Kontakt per Telefon, kehren immer wieder dorthin zurück. Der Boß läßt sie auch mit seinen MGs schießen, stellt ihnen sein Waffenarsenal vor – alles supermodern, die neueste Generation. Waffen, die kaum eine Guerillha der Erde besitzt. Rios Banditenmilizen haben zum Beispiel die Sturmgewehre AK, das (deutsche) G 3, das Fuzil 762, das sind sehr teure Waffen. Heute haben wir mehr AR 15 aus nordamerikanischer Produktion, russische Kalaschnikows, auch viele chinesische MGs. Die Prominentenkontakte sind keineswegs für uns was Neues, ganz im Gegenteil. Diese Beziehung zum Fußball ist auch nicht neu. Die Mehrheit der Spieler ist ja aus armen Familien solcher Slums, ist zu Geld und Ruhm durch eigenes Talent, durch die Kunst des Fußballs gelangt. Aber die Wurzeln haben diese Leute im allgemeinen an solchen Orten. Der Sohn von Pelè ist ein Krimineller, ein Drogenhändler, gehört zu einer Bande, die an Rauschgift verdient. Diese Prominentenkontakte sind laut Strafgesetzbuch kein Verbrechen. Die Spieler haben von einer solchen Freundschaftsbeziehung weiter keine Vorteile – doch der Banditenboß, der hat welche. Denn wenn er Prominente zu seinen Drogenhandelsplätzen lockt, wenn er solche Veranstaltungen organisiert, kriegt er viele Kunden. Das ist gut für sein Image, für seine Legitimation als König des Slums. Doch Athleten dürften sowas einfach nicht tun, die müßten jeden Kontakt vermeiden, der nach Doping stinkt. Wie kann so einer Freund von einem Drogenboß sein, der bereits Kinder anlockt, rekrutiert, der sozusagen vom Doping lebt. Das ist doch absurd, das geht doch nicht! Wenn es sich um Rock-oder Sambasänger handelte, hätte ich es ja vielleicht noch verstanden. Die trinken Alkohol, schnupfen Kokain. Aber wenn sich Athleten der Nationalmannschaft mit Drogenbossen, Drogenhändlern mischen – das ist das Ende.“

Katia und Nem

Rapperinnen von der gewaltgeprägten Slumperipherie Rio de Janeiros

Katia(31) und Nem(20) thematisieren bei ihren Shows offensiv und illusionslos-derb die komplexen, widersprüchlichen Geschlechterbeziehungen der brasilianischen Macho-Gesellschaft. Daß es nämlich für einen Großteil der jungen Unterschichtsfrauen völlig natürlich geworden ist, Geliebte, Amante eines in fester Beziehung lebenden Mannes zu sein. Was dessen Feste, die sogenannte „Fiel“(die Treue), hinzunehmen hat. Denn in den Armenvierteln, die Hochburgen rivalisierender Banditenmilizen des organisierten Verbrechens sind, herrscht enormer Frauenüberschuß, weil ein beträchtlicher Teil der jungen Männer bereits vor dem 25. Lebensjahr umgebracht wird. Immer mehr Frauen teilen sich sozusagen einen Mann, die Machos haben noch mehr Oberwasser. Katia und Nem machen mit ihrem Rap-Duell landesweit Furore – Katia verteidigt dabei die Fraktion der „Treuen“ im Publikum, Nem die der Amantes. Nem schreit in die Menge:“Wer ist hier eine Geliebte?“ Hunderte Frauen strecken ohne Zögern den Arm in die Höhe. Wozu verstecken, was doch ohnehin jeder weiß.

Katia: Wenn wir auf den Massendiscos mit unserem Duell auftreten, gibts im Publikum mal mehr Geliebte als Treue – mal ist es umgekehrt oder fifty-fifty. Die Treuen singen mit mir, die Geliebten mit Nem. Und wenn da ein Ehemann mit seiner Frau kommt und dessen Geliebte ist auch da, funkeln sich die beiden an, da entsteht Streitklima, da ist dicke Luft. Die Treue zeigt mit dem Finger auf die Geliebte und ruft, gemäß unserem Rap-Text, daß dieser Mann nur ihr gehöre. Und die Geliebte kontert, aber ich küsse ihn, wann ich will. Die machen sich richtig an, was den Mann amüsiert.  Heute ist es völlig normal und natürlich, daß der Mann eine feste Frau hat und eine oder gleich mehrere Geliebte auf der Straße. Obwohl die Feste es nicht akzeptiert, daß er die hat. Die Männer heute wollen nicht nur eine Frau, die wollen zwei, drei, wie in Marokko. Ja – es gibt einfach zu viele Frauen für jeden Mann, es fehlen Männer. Zuviele Frauen wollen denselben Mann. Die Jungen lassen sich mit dem Verbrechen, der Gewalt ein, geraten in das Gemetzel – und das verringert eben die Zahl der Männer. Die Frauen sagen, was ist denn los, die Männer gehen ja alle drauf. Wir sehen es in den Massendiscos – immer sind viel, viel mehr Frauen als Männer dort. Also was den Machismus betrifft: Ich habe mal einen Rap geschrieben, wo es heißt, ich habe meinen Ehemann verprügelt. Die Männer im Publikum haben das geschluckt. Die Treuen haben alle laut mitgesungen und dazu getanzt! Natürlich würden die Männer nie zugeben, von der eigenen Frau Dresche bezogen zu haben. Ich bin verheiratet, habe eine Tochter, einen Mann und bin tatsächlich treu. Aber ich war schon Geliebte – wer war das denn nicht schon mal? Ich wollte aber den Mann mit niemandem teilen, wollte nicht nur die andere Frau, sondern die Nummer Eins sein. Um in den Rang einer Treuen aufzusteigen, gehst du durch einen Prozeß, bist du zuerst Geliebte, wirst dann erst Treue. Das ist deine Lebenserfahrung. Eine Geliebte hat mir meine erste Ehe zerstört. Hinterher war ich eine Zeit alleine, bis ich Geliebte von einem Typen wurde. Es gibt leider Männer, die sagen der Treuen und der Geliebten, sie sei die einzige. Wenn dann die Geliebte manchmal nach zehn, fünfzehn Jahren entdeckt, daß das gar nicht stimmt, ist es zu spät, dann kommt sie nicht mehr raus, weil sie schon eine Familie mit ihm hat. Ich bin jetzt wieder eine Treue, mit Ehemann. Wenn hier in Rio ein Mann den Ehering dranläßt, ist das völlig wirkungslos – so ein Ring schreckt keine Frau ab.  Ich bin nur bis zur sechsten Klasse in die Schule gegangen, habe keine Ausbildung, war schon Hausangestellte, Kassiererin im Laden, aber heute lebe ich von den Auftritten – 15 sind es jedes Wochenende. Meine Tochter habe ich mit fünfzehn gekriegt. Ich bin zwar aus Rio, aber mag den Strand nicht so sehr, gehe nicht so oft hin.

Nem: Ich und Katia singen über ganz reale Dinge, die wir selber schon erlebt haben – und das Publikum versteht uns. In Brasilien ist es regelrecht Gesetz, daß die Männer Geliebte haben – und ich denke, das hört nie auf. Beim Rap-Duell verteidige ich die Geliebten, denn die haben ihren Wert, das weiß doch jeder. Deshalb stehe ich auch auf deren Seite. Der Typ greift sich so eine und schätzt sie hoch, als wäre es die zweite Ehefrau. Die Geliebte zerstreut den Typen mit Charme, wenn er frustriert von zuhause kommt. Sie weiß, was dann zu tun ist. Manche Treuen tun in den Massendiscos so, als wüßten sie nicht, wer da die Geliebte ihres Mannes ist – aber natürlich wissen sie es!

Ich bin natürlich nicht für jene Geliebten, die Beziehungen zerstören, so, wie es Katia gegangen ist. Ich rede von denen, die wissen, eine richtige Geliebte zu sein, diese Rolle auszufüllen. Sie weiß, daß er verheiratet ist und muß wissen, wo ihr Platz ist. Als zweite Frau von ihm kann ich nicht wollen, die erste zu sein, darf ich das nicht laut fordern. Ich darf dessen Beziehung nicht knacken. So erkläre ich das  von der Bühne herunter. Ich war auch schon Geliebte, und habe das sehr genossen. Das hat mir gefallen, das war ein tolles Leben, eine Phase, eine Erfahrung. Ich wußte einfach, eine gute Geliebte zu sein. Aber ich war auch schon die Treue. Jetzt habe ich einen festen Freund. Mir hat auch schon mal ein Mann gesagt, ich sei die einzige.  Eines Tages traf ich ihn zufällig mit der anderen, habe  mich sofort getrennt. Aber er zog es dann doch vor, mit mir zu bleiben – und wir haben neu angefangen.  An den Wochenenden sind Katia und ich wegen der fünfzehn Shows voll Adrenalin. Das Drumherum, die Fahrerei sind ein totaler Streß – aber der Körper scheint eine Maschine zu sein, gewöhnt sich dran, es wird Routine.

Duell-Rap-Textauszug:

Katia: „Paß auf, Schamlose(Schlampe), du bist doch nur zweite, dritte Wahl,  – doch ich bin die zum Heiraten, das wirst du schlucken müssen. Dich nutzt er doch nur, um sich für mich aufzuheizen. Bild dir nicht ein, daß du unsere Beziehung knacken kannst, wegen dir mache ich mich nicht verrückt – denn dieser Mann gehört mir…

Nem: „Ob du seine Feste bist, ist mir völlig egal – ich bin eine heiße, wilde Hündin ohne Hemmungen – hinter mir ist er her wie verrückt! Das beste ist doch, Geliebte zu sein – das ist einfach toll, ich bin stolz darauf. Während ich deinen Ehemann küsse, schuftest du am Waschtrog, bügelst, stehst in der Küche…!“

Ruf der Rapperinnen in die Menge:“Wir beide sind Freundinnen – aber wenn du da unten weder die Treue noch die Geliebte von jemandem bist, bleibt dir bis auf weiteres nur, als Sandwich im Morgengrauen herzuhalten.“

(Anmerkung: Liebe machen heißt im brasilianischen Volksmund „comer“,  jemanden essen)

 

 

Schwarze Götter in der Megacity

Immer mehr weiße Mittelschichtler der lateinamerikanischen Kulturmetropole Sao Paulo praktizieren afrobrasilianische Religionen

Lärm von der nahen Autobahn, dazu der Krach von Passagierjets im Landeanflug, schnatternde Enten unterm Fenster des Kabinetts – Brasiliens angesehenste Candomblé-Priesterin, die Mae-de-Santo Sylvia de Oxalá wirkt davon unbeeindruckt. In einer der häßlichsten Gegenden Sao Paulos, neben einem der über 2000 städtischen Slums, betet sie zu afrikanischen Gottheiten, den Orixás, zelebriert Rituale mit Tieropfern und Blut, Heilungen und Feste. In der denkmalsgeschützten Kultstätte, zu der ein theologisches Seminar, eine Bibliothek und ein Kindergarten gehören, gibt sie ihren zahlreichen Klienten, größtenteils Weißen, tagsüber in Privatkonsultationen Orientierung und Lebenshilfe, nutzt dafür Jogo de Buzios, die Kunst der Muscheln, und Numerologie, Zahlenmystik. Wahrsagerei und Pseudowissenschaft, wie viele meinen, sei dies keineswegs: „Hier wird nicht herumgedeutet, gerätselt – diese Methoden sind exakt, mathematisch, präzise.“ Nahezu automatisch gäben die afrikanischen Meeresmuscheln, welche die siebzigjährige Priesterin auf dem weißen Tischtuch des Kabinettstischs auswirft, auf alle Probleme und Fragen eine Antwort.  „Zu mir kommen sogar katholische Priester und Ordensschwestern, dazu Politiker und Unternehmer, deren Geheimnisse ich hier bewahre.“ Sylvia de Oxalá ist weitgereist, welterfahren wie keine andere Mae-de-Santo, Mutter des Heiligen. Aus einer hochgebildeten Schwarzenfamilie Sao Paulos stammend, wird sie zunächst Kinderärztin und Pharmazie-Forscherin, erwirbt daraufhin 1974 als erste Frau Brasiliens den Doktortitel in Außenhandelswirtschaft, wird wohlhabende Unternehmerin mit Ex-und Importbüros in Afrika. Ohne es zu wissen, so ihre Version, wird sie indessen vom Onkel, der als Pai-de-Santo, Vater des Heiligen, die Kultstätte führt, für die Nachfolge vorbereitet. 1985, nach dessen Tod, wechselt sie von einem Nobeldistrikt der Megacity an die Unterschichtsperipherie, mietet indessen bald eine Wohnung in der 51. Avenue von New York an. Um zweimal im Jahr auch für die  wachsende nordamerikanische Candomblé-Gemeinde Kulte zu zelebrieren und per Jogo de Buzios Lebenshilfe zu geben. An internationaler Reputation fehlt es Sylvia de Oxalá nicht. „Schau mal, dort an der Wand, die Urkunde – das ist der Humanismus-Preis, den hat mir Michail Gorbatschow in Moskau verliehen.“ In Spanien, Italien und natürlich afrikanischen Ländern wie Nigeria wurde sie ähnlich geehrt. Ihren Onkel hatte man noch als Hexer verfolgt und eingesperrt. Seit er indessen an der Stirnwand des schlichten, teils unfertig wirkenden Kultraumes auf Anraten einer „hochgestellten Persönlichkeit“, wie Sylvia de Oxalá sagt, ein großes katholisches Kruzifix anbrachte, hörten die lebensgefährlichen Anfeindungen auf. Aber wo ist der Heilige dieser Candomblé-Stätte? Die Priesterin nimmt den Deckel von einem irdenen Topf, weist auf den runden, schlichten Stein darin. „Das ist unser Orixá, unsere Kraft, unser Geheimnis – darin ist die Weisheit unserer schwarzen Vorfahren. Zur Sklavenzeit zwang man uns, vor katholischen Heiligenfiguren zu beten. Zu deren Füßen legten wir indessen solche runden Steine, die unsere Orixás symbolisierten – zu denen haben wir in Wahrheit gebetet. Und die Sklavenhalter haben es nicht kapiert!“ In Bahia, dem afrikanisch geprägtesten brasilianischen Teilstaat, mußten die Candomblé-Priester noch bis 1977 eine Erlaubnis der Zivilpolizei einholen, um Kulte abhalten zu dürfen. Ende der sechziger Jahre wechselt zwar endlich die katholische Kirche von Feindschaft zum Dialog mit den afrobrasilianischen Religionen, machen indessen die erstarkenden evangelikalen Sekten auch gegen Candomblé höchst aggressiv mobil. „Sie werfen uns vor, dem Teufel zu huldigen, kopieren aber ganze Kulte und Feste von uns, um daraus Profit zu schlagen. Die Sekten betrachten uns als Konkurrenten fürs Geschäft, wir sollen verschwinden“, beklagt Sylvia de Oxalá. An den Slumperipherien, wo die afrobrasilianischen Religionen am stärksten verankert waren, kooperieren die Sekten neuerdings sogar mit den dort herrschenden Banditenkommandos, damit Kultstätten geschlossen werden. Afonso Soares, Präsident der brasilianischen Gesellschaft für Religionswissenschaften/SOTER, spricht deshalb von einer komplexen, widersprüchlichen Situation. Daß sich bei jüngsten Volkszählungen entgegen bisherigem Trend deutlich weniger Brasilianer, nämlich nur 0,34 Prozent,  zu Candomblé oder Umbanda bekennen, führt er auch auf den Sektendruck zurück. „Andererseits ist evident, daß mehr Menschen als früher afrobrasilianische Kulte praktizieren.“ Die Zahl der Adepten wird auf mehrere Millionen geschätzt.

Laut Soares, der auch an der Katholischen Universität von Sao Paulo lehrt,  machen diese Religionen weitreichende Transformationsprozesse durch und definieren sich neu. Zudem hat eine deutliche Intellektualisierung stattgefunden – wie im Falle von Sylvia de Oxalá gibt es erstmals Priester, die Doktortitel tragen, sogar Soziologen, Anthropologen oder Theologen sind. „Von diesen hört man auf einmal: Wir sind keine Religion, sondern eine Tradition und setzen stark auf die Magie. Religionen werden als ein westliches, ein europäisches Konzept gesehen –  als Institutionen mit Dogmen und Gesetzen sowie mit einer gewissen Strenge. All dies lehnt man ab. Und bei Volkszählungen wird ja nach der Religionszugehörigkeit gefragt, nicht nach Traditionen.“ Besonders kurios, facettenreich wird es für Soares in der Megacity Sao Paulo, dem wichtigsten Wirtschaftsstandort Lateinamerikas, mit Brasiliens kritischer Masse an Intellektuellen und Künstlern. In den Slums springen viele dunkelhäutige Arme und Verelendete ab, wechseln zu anderen religiösen Praktiken – auch weil ihnen bestimmte Rituale mit Opfertieren einfach zu teuer oder zu zeitaufwendig sind. „Wo treibt man in diesem dichten Betonmeer eine Ziege auf, die in Bahia beispielsweise ja sogar frei herumläuft?“ Vor allem weiße Freiberufler, wie Anwälte oder Ärzte, haben damit – und auch mit geforderten kultischen Ruhezeiten keine Probleme; gehetzte, gestreßte Ghetto-Bewohner, die teils mit zehn, fünfzehn Personen in einem einzigen Katenraum hausen, dagegen sehr. Der neuen Klientel haben sich die afrobrasilianischen Religionen teils auf überraschende Weise angepaßt. Candomblé-Priester gestatten inzwischen, daß das Ziegenfleisch auch aus dem nächsten Supermarkt sein kann. Angesichts des irrsinnigen Verkehrschaos von Sao Paulo kämen viele Anhänger gar nicht zu den  Ritualen in den Kultstätten. Daher läuft es häufig schon so, daß man für bestimmte Initiationsrituale nicht mehr unbedingt in einem Raum des Candomblé-Terreiro isoliert sein muß. Es geht nun auch ganz bequem im eigenen Appartement – und die Priester kontrollieren per Webcamera, daß alles seine Richtigkeit hat. Gemäß brasilianischer Logik, so Religionsexperte Soares, schließt sich keineswegs aus, überzeugter Katholik zu sein und gleichzeitig buddhistische Tempel zu frequentieren, den schwarzen Göttern von Candomblé und Umbanda zu huldigen. Zu den neuen Phänomenen zählt Soares auch den Export der afrobrasilianischen Religionen nach Argentinien und Uruguay, die Eröffnung vieler Kultstätten in Buenos Aires und Montevideo. „Diese Religionen waren nie missionarisch wie etwa das Christentum – jetzt sind sie es und gehen bis nach Italien oder Miami. Alles auch eine Auswirkung der globalisierten Gesellschaft.“ Und auch dies ist neu: Ausgerechnet der von deutschen Einwanderern stark geprägte Südstaat Rio Grande do Sul hat laut Zensus mit 1,63 Prozent den höchsten Anteil an Candomblé-und Umbanda-Anhängern – Rio folgt an zweiter, Bahia sogar erst an zwölfter Stelle. Die Müllers, Maiers, Rehbeins können unter etwa 50000 Kultstätten wählen. Gelegentlich zelebrieren Candomblé-Kultstätten auch Eheschließungen zwischen Homosexuellen aus der Anhängerschaft – und Homosexuellen-Organisationen trugen durch Aufklärung dazu bei, daß afrobrasilianische Religionen bestimmte Blut-Riten wegen der Aids-Gefahr modifizierten. So ist es üblich, mit Rasiermessern und –klingen in die Haut hineinzuschneiden, bis das Blut herausströmt. Weil früher mehrere dieselbe Klinge benutzten, wurde Aids übertragen. Daher empfahl auch der „Grupo Gay de Bahia“, älteste Homosexuellenorganisation Lateinamerikas, daß jeder Candomblé-Anhänger nur noch ine eigenen Schnittwerkzeuge benutzt – oder sie vor der Weitergabe gründlich desinfiziert.

Die stark angeknackste Carioca-Identität/Mehr Schein als Sein

 Jahrzehnte ertragen die Cariocas die Konkurrenz mit Sao Paulo problemlos – das Selbstwertgefühl, die Rio-Identität der einstigen Hauptstädter – nicht ein bißchen angekratzt.  Bom, okay, entgegnen viele den Paulistanos – ihr seid reicher, verdient mehr, fahrt die größeren Autos, speist in tolleren Restaurants, habt Lateinamerikas größte Industrien, seid die Wirtschaftslokomotive. Das sieht man euch an – ihr müßt  härter arbeiten, seid gestreßt, habt viel weniger Spaß als wir am Leben, müßt aus eurem abgasvergifteten Betonmeer  nach Rio kommen, um euch zu erholen, zu amüsieren, um euer vieles Geld ordentlich ausgeben zu können, frei zu atmen. Wir Cariocas dagegen  haben unsere wundervollen Strände, den Zuckerhut, Samba und Karneval, wunderschöne erotische, sinnliche Frauen – um all das  beneidet uns die Welt – kommt  nicht zu euch, sondern zu uns an die Copacabana, weil wir so herzlich, locker, fröhlich, lustbetont, liberal, offen, gastfreundlich sind, in der Kulturhauptstadt Brasiliens leben. Doch das stimmte schon immer nur in Bruchteilen. Rio de Janeiro war eine der größten Sklavenhaltermetropolen. Die Schwarzen –  immer  weit mehr diskriminiert als in Südafrika, sind bis heute die typischen Bewohner der Slums. 1950 gibt es davon keine sechzig, heute rund achthundert, mit  zwei Millionen Bewohnern. Wer in ein bis zwei Ferienwochen an der Oberfläche bleibt,  und wie die meisten nur die buntschillernde Erscheinungsebene genießt, kann von Rio, von den Cariocas durchaus begeistert sein. Wer  ein wenig an der Oberfläche kratzt,  sich  reichlich auf portugiesisch  mit den Leuten unterhält, stößt zwangsläufig auf Rios tiefe Identitätskrise. Schon 1996 schreibt  Rios famoser Gesellschaftskolumnist Millor Fernandes mit Ironie und Galgenhumor, kein  anderer Ort der Welt habe so ein perfektes Gleichgewicht zwischen Schönheit und Ekel, natürlicher Pracht und verfaulten Ratten. Ein anderer Illustrer sagt – Rio ist wie eine unglaublich attraktive, schöne Frau – in schmutziger Unterwäsche und mit Aids. Ich habe in Rio Freunde durch die Immunschwächekrankheit verloren – kein Carioca, der nicht gleiches erlebte, gewöhnlich sogar in der Familie, unter den Verwandten. Ausgerechnet Copacabana, in so vielen Sambas und Bossa Novas  gerühmt, wird bereits 1991 von den Cariocas selber zum schlimmsten, schlechtesten Stadtviertel gekürt; und Studien weisen auch noch nach, daß der typische Carioca, lebenslustig, liberal, ein reines Phantasieprodukt ist. Nur eine Minderheit geht an den Strand, mag Fußball und Samba. Ganz Rio im Karnevalstaumel? Von wegen – gerade mal ein Viertel der Cariocas macht tatsächlich aktiv mit, der Rest bleibt ferne, flieht vor den drei, vier tollen Tagen aus der Stadt. Nur eine Minderheit nennt sich optimistisch, die große Mehrheit fühlt sich gestreßt, unter Spannung, desillusioniert. Und auch das noch: der Durchschnittscarioca –  in Wahrheit sehr konservativ, individualistisch, egozentrisch, überdreht narzißtisch  und autoritär, für Lynchjustiz und die Todesstrafe, das Töten von Straßenkindern,  überhaupt nicht solidarisch.“Viele Ausländer“, konstatiert Uni-Professor Jaime Pinsky,  „begeistert unsere scheinbare Leichtigkeit des Seins,  sie sehen aber nicht die Schattenseite: Mindestregeln des gegenseitigen, menschlichen Respekts werden nicht eingehalten, etwa im Straßenverkehr, man hält sich permanent nicht an Kompromisse, Zusagen, ob beruflich oder privat.“  Aber was hat den Carioca so verändert, schlug ihm so auf die Psyche? Die wirtschaftlichen Dauerkrisen, Gewalt und Kriminalität, heißt es fast einhellig. Man stelle sich das in Österreich vor: Über die Hälfte der Wiener mindestens einmal von Bewaffneten überfallen und beraubt, etwa jede Stunde ein Mord, alle paar Tage ein Blutbad. Und über ein Drittel der Heranwachsenden sah schon einen Mord aus der Nähe.  So ist das in Rio mit seinen jährlich weit über zehntausend Morden – da vergeht einem natürlich die Gemütlich-und die Leichtigkeit, die Liebe zur Stadt, wird man furchtbar mißtrauisch gegenüber dem nächsten.. Da muß man gut verdrängen, wegstecken können, um trotzdem noch zu lachen. Die Cariocas gehen tatsächlich anders mit Unglück, Tragödien, persönlichen Enttäuschungen um, lächeln, lachen oft trotzdem, und sei es gekünstelt – man soll ja immer zeigen, daß man gut drauf ist. Unechte Fröhlichkeit gibt es es sogar reichlich im Karneval. Tapfer sagen nur zu viele  unkritischen Meinungsforschern  wie aus der Pistole geschossen, daß sie unheimlich glücklich und optimistisch  sind. Auf der Welt-Glücksrangliste steht deshalb ja auch Brasilien  schon an vierzehnter Stelle, Österreich erst an 39. Aber wäre soetwas in Wien denkbar? Bürgermeister und Tourismusbehörde wenden sich mit superteuren PR-Kampagnen an die Wiener selber, bitten sie inständig, die Stadt wieder zu mögen, sympathisch zu finden, nicht zu hassen.  In Rio habe ich mehrere solcher Werbekampagnen erlebt, die jüngste läuft noch, will den Cariocas Mut machen, sie ein bißchen aus ihrer Identitätskrise holen, das schwer angeknackste Selbstwertgefühl aufpäppeln, Probleme übertünchen.  Mit dem Slogan:Dein Glück, in einer Stadt zu wohnen, in der du am liebsten Ferien machen würdest, eigentlich immer im Urlaub bist. Reiner Zynismus, wenn man an die zwei Millionen in den Slums denkt, terrorisiert von den neofeudalen hochbewaffneten Milizen des organisierten Verbrechens. Von denen sich allerdings die Eliten, Mittel-und Oberschicht ihre Drogen holen, monatlich tonnenweise vor allem Kokain konsumieren, dadurch korrumpierenden Kontakt zu den Gangstern haben. Der weltbekannte Filmemacher Caca Diegues aus Rio  nennt sowas unerträglich scheinheilig – einerseits massenhaft Drogen verbrauchen, sich andererseits über die zunehmende Gewalt und Kriminalität erregen, Produkt der Verzahnung von organisiertem Verbrechen und der Geld-und Politikerelite. Selbst der Rio-Karneval wird ja von der Unterwelt gesteuert, dominiert. Joao Ubaldo Ribeiro wohnt in Ipanema, seine Romane verkaufen sich auch in Österreich gut. Die Identitätskrise ist auch sein Thema, Auswege, Besserung sieht er nicht, da die sozialen Strukturen unangetastet bleiben. Ribeiro nennt die Mittelschicht, der er angehört,  reaktionär, scheinheilig. Die denke: Halt Pech für den, der im Slum haust, wir änderns nicht, niemand will daran was ändern, nicht mal ein bißchen mithelfen.

HipHop und Rap zum Draufschlagen – Brasiliens Massendiscos „Baile Funk“

 Millionen von dunkelhäutigen Kids strömen jedes Wochenende an den Slum-Peripherien der brasilianischen Großstädte zu ihren  gewalttätig-machistischen HipHop-und Rap-Feten, Tote sind normal.  Die nie auf  kommerzielle CD gepreßten Texte der populären  Gangsta-Raps sind weit brutaler, sadistischer als die Vorbilder aus den USA

 

In der Escola Estadual „Julio Ribeiro“ von Sao Paulo heizen die Rapper oben von der Bühne ein, unten im Publikum beginnt irgendwann die übliche  Massenschlägerei, Revolver werden gezogen, der 24-jährige Funkeiro Carlos Roberto Marino fällt nach einem Kopfschuß tot um – in Rio de Janeiro werden am selben Tag  gleich drei Funkeiros erschossen, dort ist die Todesrate stets höher. Schauplatz Nordzone, weitab von Copacabana und Ipanema, Ende 1999. Mehrere tausend Dunkelhäutige drängen in den Clube Chaparral des Viertels Bonsuccesso nahe Rios internationalem Flughafen,   schwülheiße Luft um dreißig,  vierzig Grad, Adrenalin. Rechts von der Bühne mit den Lautsprechertürmen konzentrieren sich Kids jener Elendsviertel, die vom Verbrechersyndikat“ Comando Vermelho“, Rotes Kommando, dominiert werden, links bauen sich feindselig Heranwachsende aus dem Herrschaftsbereich des rivalisierenden „Terceiro Comando“, Drittes Kommando, auf. Die DJs starten mit HipHop, Techno, neuesten Gangsta-Raps, die Lautstärke übertrifft Hardrock-Konzerte. Auch sinistre Töne werden angeschlagen: „Jetzt wirst Du sterben, sterben, sterben  – wenn Du weißt, was ein Neunziger-Patronengurt ist.“

Die Spannung steigt, der freie meterbreite „Corredor da Morte“ zwischen den Tänzermassen von rechts und links wird enger, erste Fausthiebe, Tritte, Schlägereien zwischen Gruppen, den Galeras. Sicherheitspersonal geht nach einer Weile dazwischen, trennt die Gegner – bis zum nächsten Gewaltausbruch, im Slang „Saddam Hussein“ genannt. . Die Kids springen ähnlich Boxern beim Kampf, doch stets im Rap-oder Techno-Rhythmus, versuchen auch, dem Feind, der im Rio-Slang stets „Alemao“, Deutscher, heißt, irgendetwas zu entreißen. Vor Mitternacht hat die Baile-Funk-Ambulanz schon Arbeit, blutende Kopfwunden, ein Knochenbruch. Bis zum Baile-Schluß wird hier Bruno Lopes Escobar, 16, erschlagen, Braulio Vieira dos Santos, 12, und Bruno de Souza Machado, 15, werden erschossen.

Die DJs stimulieren auch auf den anderen über 150 Massendiscos der Sieben-Millionen-Stadt zur selben Zeit Gewalt meist direkt, fordern, falls der Baile Funk „mole“, lahm zu werden droht, per Mikro zu Attacken auf, widmen Titel nur den Galeras einer Hallenseite, was die andere in Rage bringt. Als das Ganze auf ein „Massacre“ zudriftet, wie man im Baile-Funk-Slang sagt, verstummen die Wummerbässe abrupt, leiten die DJs zu ziemlich sexistischen Einlagen über, folgt Sacanagem, Sauerei.  Der MC in den gleichen Rapperklamotten wie an der US-Westküste schreit  ins Mikro “Eta, eta, eta“ – aus tausenden  Kehlen kommt  „Pau na Buceta“, Schwanz in die Votze,  zurück. Auf der Bühne beginnen minderjährige Mädchen Striptease, manchmal ist es auch nur eine Professionelle, mit deren Auftritt ein Erektionswettbewerb gekoppelt wird. Wer gewinnt – für alle deutlich ablesbar an der Ausbuchtung im  lockeren Short, kann sich aussuchen, wohin er die nackte Tänzerin küssen will. Claro, auf die Buceta, alles klatscht wie wild, auch die Mädchen in der Halle.  Hit der Bailes Funk sind auch superfeminine Gays, die auf der Bühne mit Partnerinnen einen Coito simulieren. Elf-Zwölfjährige schauen reichlich zu, eigentlich dürften auch im Clube Chaparral nur fast Erwachsene sein. Auf jede Gewaltrunde folgen langsame Titel. „Ey, Gringo, weißt du, wie wir die nennen? Mela Cueca“ – weil davon die Unterhose beim Tanzen  vom Sperma feucht wird. „Oder Rala-Rala“ – weil man Buceta und Pau richtig hemmungslos  aneinander scheuert. Die Texte sind danach. Eine Rapperin stöhnt ins Mikro:“Wenn Du mir in den Hintern willst, mußt du einen kleinen Schwanz haben, denn ich bin sehr eng.“ Bei feurigen Hits tanzen Mädchen miteinander, als ob eine die andere von hinten im Stehen nimmt, koitus-ähnliche Bewegungen zu zweit, zu dritt sind normal.  Für diese Choreographie braucht man nicht viel zu üben – eine andere, komplizierte, beobachte ich verblüfft. Mädchen in knappen Tops,  mit superkurzen Röcken provozieren die Jungs vor ihnen, indem sie sich immer wieder raffiniert so in die Hocke fallen lassen, daß für einen  Moment ihr winziges Tangahöschen sichtbar ist. Eine junge Mulattin  schießt den Vogel ab, macht es immer und immer wieder, hat eine beneidenswerte Kondition, genießt die Kommentare der Meninos über ihre schwarze Calcinha unterm Mini. „Oi, Gringo, willst Du unser Video“ Rio Funk proibido“? Das wird auch  an Rios Opernhaus von Ambulantes verkauft,  zeigt noch ganz andere Sachen. Schulmädchen lassen sich auf Baile-Bühnen vor den Massen  die Slips herunterziehen, praktizieren offen Oral-Sex. Obszönitäten am laufenden Band. Claro, daß selbst  Zwölfjährige schon  zur Prostitution oder für Pornofilme angeworben werden.

In den Hallenecken dealen sie Kokain und Crack, der DJ jagt das  Rap-Stakkato „Vai dancar“, x-mal viederholt, mit finsterem  Höllenecho in die Menge. Klingt mechanisch übersetzt harmlos, dieses vai dancar, du wirst tanzen, doch alle Welt in Rio nutzts im Slang-Sinne: Du wirst sterben, gekillt werden, Blei fressen. Tudo mundo vai dancar – alle sind dran.

Brasiliens Bailes Funk, Bailes do Corredor enden meist gegen fünf – davor liegen noch einmal Stunden mit Tumult, Risiko, Enthemmung,  mit ritualisierter Macho-Gewalt und der sogenannten „Viertelstunde der Fröhlichkeit“. Das häufig sogar mit Revolvern bewaffnete Hallenpersonal zieht sich zurück – zu den härtesten, aggressivsten Hits schlagen die Funkeiros ungehindert aufeinander, auch Mädchen sind darunter. Funkeiros sagen es offen:“Die Disco ist gut, weil es Schlägereien gibt, die gehören einfach dazu.  Wir imitieren hier das Videospiel „Mortal Kombat“. Wer zu einer Galera gehört, muß zum Schlagen und sogar Töten bereit sein.“ Und wenn es am berühmten Ipanema-Strand von Rio ist, wo sich häufig verfeindete Funkeiro-Haufen bekämpfen. Schüsse fallen,  Omnibusse gehen zu Bruch oder in Flammen auf – die romantischen Girl-from-Ipanema-Zeiten sind lange vorbei

Schwer zu übersehen,  daß blutende Baile-Wunden Eindruck  bei vielen Mädchen  schinden, die dann nicht selten  „Siegertrophäen“ werden. “Mir gefällt das, mit dem Gewinner zu bleiben“, meint eine Vierzehnjährige.  Eine Freundin widerspricht:“Die Typen sind unheimlich machistisch – es gibt welche, die dich schlagen, wenn du nicht einwilligst. Dann muß man einen vom Sicherheitspersonal rufen. Mist, wenn mein Klo ausgerechnet neben der gegnerischen Galera liegt.“ Baile Funk ist Rivalenkampf, auch um den schärfsten Typen. „Ich ziehe immer  ganz enge Sachen an, das macht mich sinnlich“, erklärt Ana Paula, „anders gehts garnicht, würde ich mir niemanden angeln, keinen abkriegen.“ Sie blinkert einen Jungen an, damit der weiß, daß sie will. Denn noch schmust er mit der Freundin. Wie Soziologen herausfanden, hat die Mehrheit der weiblichen Funkeiros von elf, zwölf Jahren an Geschlechtsverkehr, verzichtet auf Verhütung, Frühschwangerschaften sind entsprechend häufig. Es gibt Bailes Funk, bei denen draußen, zum Vögeln in heißer Tropenluft, Matratzen ausgelegt werden.

Mädchen betreiben selbst  Gruppen-Mobbing gegen mißliebige Funkeiras, haben dafür einen drastischen Song. Eine als häßlich empfundene Schwarze muß sich im Chor anhören:“Übler Geruch aus der Möse – es scheint, sie ist ein Alemao!“

Die Rhythmen der Bailes Funk wurden in Los Angeles und der Bronx erfunden, von der Musikindustrie auch nach Brasilien durchgeschaltet. Die Texte der US-Gangsta-Rapper sind verglichen mit denen Rios eher fürs Poesiealbum. Unterlegt mit Geräuschen von Mpi-Salven und Granatenexplosionen, singen Rios Rapper übers Töten, lebendig Verbrennen, Stapeln von Leichen, den Spaß am Kidnappen , Foltern. Im „Rap da Bandida“ ist vom Vergnügen die Rede, Leute mit der Mpi zu durchsieben, sie aufzuhängen. Zitat:“Ich bin Rauschgifthändler und Straßenräuber, mache massenhaft Entführungen – ich will dich an meiner Seite, Banditin von guter Rasse.“ Solche Songs sind auch in Kolumbien und Mexiko populär, gehören inzwischen zur Alltagskultur.  Rapper Jefferson Sapao in Rio, derzeit superbeliebt bei den Kids, gehört selber zu einer Banditenmiliz, mag besonders das  deutsche Bundeswehr-Sturmgewehr „G 3“ – wie das wohl in so großer Zahl in die Hände der Gangster gerät. Rappend preist er  natürlich die brutalsten Banditenchefs wie Orlando Jogador  über alle Maßen:“Wenn die Polizei sich in einem Slum wagt, muß sie mit Mpi-Salven empfangen werden.“ Was ja auch stets passiert.

Schauplatz Antares, ebenfalls Rio-Peripherie. Das lokale „Radio radical“verbreitet auf UKW und  übers Lautsprechernetz den neuesten Gangsta-Rap, nachts läuft er auf den Bailes – eine Botschaft des Banditenbosses Magno vom Comando Vermelho an den Rivalen Uè:“Es gibt ein Blutbad, wenn Ué nicht Antares in Ruhe läßt – die Leute von Magno werden töten, köpfen, vom Friedhof bis zur Gerdau-Fabrik Leichen stapeln.“ Die Drohungen sind kaum übertrieben – in der Woche vor der ersten Rap-Ausstrahlung fallen sechsundzwanzig Gangster bei Schießereien, für die Slumbewohner Tage und Nächte des Terrors. Flüchtet ein bekannter Gangster aus den Hochsicherheitstrakten Rios, meist durch Wärterbestechung, feiern die Slums seines Comando tagelang, machen frischkomponierte Gangsta-Raps die Runde, werden von den Heranwachsenden gleich in Gruppen, auch in Bussen und Vorortzügen gesungen, rühmt man die „Heldentaten“ des Entwichenen.

Kein Rio-Wochenende ohne tote Funkeiros. Im Slum Formiga gegenüber Borel  werden auf einer einzigen Massendisco elf Minderjährige, Mädchen und Jungen, darunter eine Elfjährige,  mit großkalibrigen Waffen erschossen. Polizeichef General Cerqueira reagiert vor den Journalisten grob:“Soll ich eine Atombombe auf  Rio werfen, damit sowas aufhört?“ Auf einem anderen Baile sterben  sechs. Einmal wirft eine Funkeiro-Gruppe drei  selbstgebastelte Bomben  am „Todeskorridor“ in tanzende Gegner – zwei vierzehnjährige Mädchen sterben, eines verliert das Augenlicht, ein weiteres den rechten Arm. Schon in den Zubringerbussen, oft von Gangstersyndikaten gesponsert, ist die Stimmung aufgeheizt. Die in einen überfüllten Funkeiro-Bus geschleuderte Spezialgranate der Armee hätte gemäß einem Offizier alle getötet, explodiert gottseidank nicht. Molotov-Cocktails auf  Rivalen-Busse zu werfen, ist nichts Besonders mehr Auch das gibts: Funkeiros wollen den von einem rivalisierenden Verbrechersyndikat beherrschten Slum Antares provozieren, hängen beim Vorüberfahren aus dem Busfenster  die nackten Hintern heraus. Auf diese schießen  Banditen  sofort mit Mpis – neun Funkeiros landen schwerverletzt im Hospital. Eine schwarze Menschenrechtsanwältin kennt einen Zeugen, demzufolge inmitten von Bailes Funk Jugendliche lebendig verbrannt wurden. Fotos verkohlter Opfer veröffentlichen die Horror-und Crime-Boulevardblätter Rios allen Ernstes fast jeden Tag. Funkeiro-Galeras haben nach der Disco wiederholt Bettler verbrannt. Die Reste des vierzigjährigen Joel da Silva aus dem Rio-Slumgürtel Baixada Fluminense werden in Großaufnahme abgebildet. Kirchliche Sozialarbeiter sagen, auch andere Obdachlose endeten genauso.

Seit Jahren lassen die Baile-Veranstalter Tote, Schwerverletzte, Jugendliche im Koma,  clever „verschwinden“: Ein Spezialteam, genannt „Servica de Desova“,  schafft sie in öffentliche Hospitäler, gibt dort stets zu Protokoll, alle irgendwo in dunklen Straßen aufgefunden zu haben , weit entfernt vom nächsten Baile Funk. Gleice, 16, ließ man liegen. Auf dem berüchtigten Baile des Country Club von Jacarepaguà wird sie im Juli 1999 von einer gegnerischen Galera zuerst zusammengeschlagen, dann ins Klo geworfen. Das reichte nicht – auf Gleice wird uriniert, man beschmiert sie mit Kot. Julio, 15, wird beim „Mortal Kombat“ im Country Club erschlagen, Mauricio, 16, erschossen – in wenigen Jahren sterben allein auf diesem Wochenend-Baile über zwanzig Jugendliche. 

Das organisierte Verbrechen finanziert, veranstaltet viele Bailes Funk, läßt sogar populäre Sambistas gegen Höchstgage auftreten, wirbt dort Bandenmitglieder an. Kokain, Crack oder Heroin werden selbst an Kinder häufig kostenlos verteilt, bis es zum verführerischen Angebot kommt:“Wenn du mitmachst, kriegst du die Drogen immer gratis, hast viel Geld und eine Waffe, kannst dich schick anziehen, nimmst dir die Frauen, die du willst.“Comando-Leute sind in der Menge leicht zu erkennen – sie tragen Goldkettchen und teure Ringe, sind am besten gekleidet, werden als Idole, Aufsteiger angesehen und behandelt, „erobern“ die meisten Mädchen. Üblich ist, der Logik des Bosses der jeweiligen Favela auch in puncto Machismo zu folgen: Man hat drei bis vier Geliebte, die voneinander wissen, und eine Namorada de Fè, Geliebte des Vertrauens, zum Heiraten, mit der man Kinder haben will.

Die Baile-Funk-Realität erscheint absurd bis irrsinnig, zumal sie von den Autoritäten hingenommen wird. Marcia ist Soziologin, forscht  in der  Baile-Funk-Szene, dachte anfangs, mit progressiven Baile-Projekten ein Gegengewicht, Alternativen schaffen zu können. An einer Straßenbar von Lapa schüttet sie mir ihren Frust vor die Füße, ist nur noch pessimistisch. „Das alles ist die Antwort unseres neoliberalen Staates auf die Verhältnisse – es gibt keine Politik, um die Jugendlichen für die Gesellschaft zurückzugewinnen. Fast dreißig Prozent der Heranwachsenden Rios sind ins organisierte Verbrechen verwickelt, hier geschieht ein Genozid an den jungen Leuten!“ Die Kugel sei die erste Todesursache in dieser Altersgruppe.  Nach jahrelangem Zögern haben auch andere brasilianische Sozialwissenschaftler das Kulturphänomen Baile Funk  schließlich intensiv untersucht. Selbst Therapeuten und Musikexperten nennen die Massendiscos Feste einer „Jugend ohne Perspektive“, die zynisch-nihilistische Antwort der jungen Generation auf eine Gesellschaft ohne Projekte – eine Ablehnung sozialer Werte und eine Form der Entfremdung. Inzwischen frequentieren auch zunehmend weiße Jugendliche der Mittelschicht die Bailes Funk, damit, so heißt es, wollten sie eine tiefe innere Leere und Einsamkeit überdecken..“Die gefährliche Seite dieser Annäherung“, so der renommierte Jugendpsychiater Christian Gauderer, „ist die Anziehungskraft, die der Kriminelle auf die Mittelschichtskids ausübt – diese versuchen, Freunde der Drogengangster zu werden, um Waffen und Status zu bekommen.“ Als Bürgermeister Cesar Maia von der rechtsgerichteten Regierungspartei PFL die Baile-Funk-Bewegung auch noch öffentlich lobt, sagt mir Sambakomponist Chico Buarque:“Weiß er etwa nicht, worum es da geht, was dahintersteckt? Maia gehts doch nur um Marketing, nichts weiter!“ Claro, die Bailes Funk  machen an der Peripherie dem Samba den Garaus.

Wieder dröhnt mir auf einem Baile Sinistres um die Ohren – die „Montagem do Aviso“. Monoton die zigmal geflüsterte, geschriene Botschaft „Paß sehr gut auf“, gewöhnlich die Ankündigung, daß man der nächste ist, der umgelegt werden soll. Aviso – das kennen die im Slum sehr gut.  Dann heißt es nur, alles stehen und liegen lassen, sofort abhauen, nie mehr in der Gegend auftauchen.

Österreicher, Schweizer, Deutsche, die Leme, Laranjeiras oder  im Bergstadtteil Santa Teresa wohnen, hassen die Bailes Funk der umliegenden Favelas, besonders jene vom Morro da Coroa. In einer Novembernacht von 1999 werden dort vier Funkeiros angeschossen, in Bauch und Rücken, eine Zwölfjährige und ein etwas älterer Jungen fallen tot auf den Baile-Beton. „Guilherme Augusto Salvador hat einen Schuß in die Eier gekriegt“, amüsiert einen von der gegnerischen Galera.   Eigentlich sind die Lärmschutzgesetze streng, ist Rios Umweltchef immerhin ein sogenannter Grüner, dennoch dröhnen HipHop und Rap von Freitagnacht bis Montagmorgen in Hardrock-Lautstärke  über die Hügel. Ausländerinnen fliehen deshalb  regelmäßig mit ihren brasilianischen Geliebten in die Bungalows außerhalb der Stadt, andere schlafen bei Freunden. Und alle fragen sich, wie eigentlich die Slumbewohner mit dem Krach klarkommen, all die Kranken, Alten, am Schlafen gehinderten Babies. In einem Hangslum des Mittelschichtsviertels Tijuca ist der Chef der Bewohnerassoziation, mit schwerkranker Frau in der Kate, mehr als genervt, hat wegen der letzten Baile-Nacht Ringe unter den Augen, erklärt mir die Lage:“Was soll ich machen? Die Leute kommen zu mir, wollen, daß ich mich bei den Veranstaltern beschwere. Mache ichs, werde ich erschossen. Denn der Veranstalter hier ist das Comando Vermelho.“ In einer Uni-Fakultät Tijucas unterrichtet ein auswärtiger Dozent den ersten Tag, fährt sechs Uhr abends wegen einer nur zweihundert Meter entfernt abgefeuerten Mpi-Salve erschreckt zusammen. Seine Studenten im Hörsaal klären ihn lachend auf. Gerade hat in der nahen Favela der Baile Funk begonnen, die Gangster schießen deshalb immer am Anfang in die Luft, tuns auch zwischendurch, mitten in der tanzenden, wogenden Menge. In Sichtweite ist das weltgrößte Fußballstadion Maracanà. Als drinnen beim Baile Funk mit sieben DJ-Teams unter den  über 6500 Jugendlichen die ersten Massenschlägereien losbrechen, mache ich mich lieber aus dem Staub, komme aber nicht weit. Denn rund ums Maracanà bekämpfen sich bereits über zweitausend Funkeiros, sogar Schüsse fallen. „Bleib lieber drin, Gringo, bist du verrückt!“, sagt der Stadionwächter, öffnet aber das dicke Vorhängeschloß, damit ich rauskann. Wenige Sekunden später flehe ich ihn an, mich wieder reinzulassen, denn eine Galera rennt auf mich zu, sichtlich nicht in friedlicher Absicht. Das geht über eine Stunde so, bis das Abtauchen in dunkler Nacht gelingt. Hinter mir werden noch Autos umgeworfen, Busse und Telefonzellen ruiniert, angeblich gibt es nur Angeschossene, keine Toten. Mir gellen die Galera-Schlachtrufe noch in den Ohren – auf Comando Vermelho oder Terceiro Comando gemünzt. Besonders aktiv ist  mal wieder die über hundertzwanzig Köpfe starke Galera des Borel-Slums, in Tijuca besonders gefürchtet. „Wir schlagen zu, weils uns gefällt“, sagt Pedro,  siebzehn. „Unsere Galera hat die öffentlichen Busse im Griff – steigt ein Alemao zu, hauen wir ihn zusammen.“ Borels berühmteste Rapper sind das Duo Willian und Duda, die zum Karrierestart vom Comando Vermelho bezahlt wurden, auf deren Bailes auftraten, deren Taten verherrlichten. Inzwischen sind beide reich, zogen in bessere Viertel.

 Als sich erster öffentlicher Protest gegen die Bailes Funk regt, auf Verwicklungen zwischen Politik, Gangstern und Disco-Betreibern verwiesen wird, wollen Funkeiro-Galeras spätnachmittags vor Oper und Parlamentspalast im Stadtzentrum aller Welt zeigen, was für grundfriedliche, harmoniebedürftige Jungs sie sind. Der Evento mit Rappershow geht nach hinten los, ich sehs mir aus der Nähe an, renne vor fliegenden Pflastersteinen davon. Wie auf den Bailes kriegen sich die Galeras  sofort in die Haare; wer nicht mitprügelt, reißt solange schwangeren Frauen, alten Leutchen die Taschen weg, macht teils bewaffnet Straßenüberfälle. Ein Greis wird direkt vorm Parlament  nicht nur beraubt, sondern auch noch zu Boden gestoßen und getreten, Hunderte, auch Zufallspassanten, schauen  zu.

Natürlich sind die Bailes Funk auch ein Riesengeschäft, eine Industrie, an der wenige verdienen. Monatsumsatz in Rio – umgerechnet weit über dreißig Millionen Mark. Soziologin Marcia erklärt mir die Strukturen:“Romulo Costa, Pastor einer Sektenkirche, ist Marktführer, hat sogar eine mehrstündige TV-Sendung. Das ist dermaßen absurd – fast schon komisch bis grotesk, wenn nicht alles so tragisch wäre.“ Auf einem Video ist zu sehen, wie Prediger Romula Costa ungerührt einer Massenschlägerei auf einem seiner Bailes zuschaut, der im Maracanà war auch sein Werk. Anfang Zweitausend findet man seine Firma erstmals schriftlich in der Buchhaltung einer Gangstermiliz festgehalten,  die zu selber Zeit dem Militärpolizisten Marco de Oliveira den Kopf abschlägt. In den Zeitungen steht,  für Romulo Costas  längst fast jedermann bekannte Verwicklungen gebe es damit erstmals einen „technischen Beweis“. Folgenlos. Seine DJs schreien in die Massen:“Tötet die Deutschen, schnappt euch die dort, bildet Gruppen!“  Romula Costa konkurriert mit Josè Claudio Braga, der sich ironisch-zynisch selber einen „Empresario des Teufels“ nennt. Über seinen Bailes schwebt eine fünf Meter lange Riesenpuppe, die den berüchtigten Gangster Bagulhao verherrlicht. Bragas tägliche Seite im Sex-, Crime-und Horror-Blatt „O Povo de Rio“, Volk von Rio, ist aufschlußreich. Ein mit Bild vorgestelltes Galera-Mitglied erklärt:“Unser Wahlspruch ist Terror“. Und ein  Kommentar von Veranstalter Braga beginnt so:“Die schönste Waffe, die es gibt, ist die nordamerikanische Heeres-Mpi AR – 15. Schön in Größe und Form, auch der Art, wie sie zerstört, nämlich auf der Stelle. Vapt-vupt – und die getroffene Person leidet nicht einmal, fühlt keinerlei Schmerz.“ Wenn ihm Konkurrent Romulo Costa öffentlich vorwirft, Gewalt-Bailes zu veranstalten, haut Braga in seiner Kommentarspalte zurück, beschreibt Panik und Schießereien auf  dessen Discos.

Funkeiros tragen massenhalt Gewalt in die Stadien, was selbst  Multimillionär und Ex-Fußballstar Pelè hart reagieren läßt: „An den Schlachtrufen ist zu erkennen, daß viele Gewalttäter zu den Fans der Bailes Funk zählen, sich kaum für Fußball interessieren, dafür um so mehr für Brutalitäten.“ Schuld an den Zuständen sind die führenden egoistischen und korrupten Politiker, donnert Pelè, denen die Zukunft des Landes schlichtweg egal ist. Was sich bei europäischen Fußballmatchs abspielt, sind Peanuts gegen die brasilianischen Verhältnisse: In Rio oder Sao Paulo gehen Hunderte, oft sogar Tausende mit Revolvern, Molotovcocktails, selbstgebastelten Bomben und Messern aufeinander los – Busse von Fanclubs werden sogar mit Maschinenpistolen beschossen. Üblich sind inzwischen sogenannte Arrastoes, Fischzüge, in den Stadien: Einer Menschenwalze gleich fallen Ungezählte über zumeist ältere, friedfertige Fußballanhänger her und rauben diese unter Schlägen restlos aus. Ein Glück, daß wenigstens in Sao Paulo die Rap-und Funk-Szene teilweise  politisiert ist, radikalen Protest äußert. Keine Rappertruppe agiert radikaler, erfolgreicher als die „Racionais MC`s“, aus den gefährlichsten, elendesten Favelas der reichsten lateinamerikanischen Metropole, unweit von VW, Mercedes-Benz und Ford. Grünenpolitiker wollen nicht anders als ihre Klientel der weißen Mittelschichtsviertel die Freigabe und Entkriminalisierung  von Drogen – die „Racionais MC`s“ sind radikal dagegen, sehen in Rauschgifthandel und – konsum das Hauptübel der armen Vorstädte Brasiliens. Bereits Kinder unter zehn Jahren rauchen Crack, nehmen Kokain, Heroin, LSD, ganz zu schweigen von den Älteren – und überhaupt kein Vergleich mit Europa. Im Drogenrausch wird Entsetzlichstes begangen – kaum ein Tag ohne Zerstückelte, lebendig Verbrannte. Die Besserbetuchten, auch jene der Ersten Welt, verdrängen diese Realität, die Rapper von Racionais MC`s haben sie kontinuierlich vor Augen, sehen in Aufklärung, Politisierung ihre Mission. Sänger Mano Brown, der früher mit einem Revolver am Gurt herumlief, schreit von der Bühne, daß Drogen betäuben, debil und stupide machen. „Das System hat kein Interesse an Armen, die intelligent sind!“ Die Schwarzen müßten endlich erkennen, in welch tiefer Dekadenz sie stecken – und die Dinge ändern. Lernen, zum Buch greifen, anstatt in die Kriminalität abzurutschen, zwar rasch mehr Geld zu haben, dafür aber früh, mit zwanzig, fünfundzwanzig Jahren bereits ins Gras zu beißen. Die Racionais MC`s wollen ein Beispiel geben, rauchen nicht, trinken nicht, manche wurden Vegetarier. Drogen sind sowieso out.  Die CD „Überleben in der Hölle“ ist Mitte der Neunziger Brasiliens bisher aggressivstes Musikprodukt, verkauft sich ohne Werbung in nur zwei Wochen bereits zweihunderttausendmal, verurteilt nicht nur Drogen, deren Nutzer und Profiteure, sondern vor allem die Eliten, die sozial unsensible Mittelschicht. Biblische Salme über göttliche Gerechtigkeit  fehlen nicht auf der CD – Slumbewohnern, meint Mano Brown, bleibt heute im Grunde  nur die Alternative, kriminell zu werden, mit dem Crime organizado zu kollaborieren – oder sich entschieden der Kirche zuzuwenden.  Im „Tagebuch eines Gefangenen“ rappt Mano über den ersten Oktober 1992, als eine Spezialeinheit der berüchtigten Militärpolizei im Carandirù-Gefängnis von Sao Paulo mindestens 111 Insassen erschießt, in weniger als dreißig Minuten auf die Unbewaffneten über dreitausend Schuß abfeuert, viele durch Bluthunde zerreißen läßt:“Du weißt nicht, wie das ist, ein deutsches oder israelisches Maschinengewehr auf deinen Kopf gerichtet, das einen Dieb in Stücke fetzt wie Papier… Der Mensch ist Wegwerfware in Brasilien, wie Slipeinlage, das System verheimlicht, was die TV-Serien nicht zeigen. Blut rinnt wie Wasser aus Ohren, Mund und Nase, der Herr ist mein Hirte, Kadaver im Brunnen, im ganzen Gefängnishof, Adolf Hitler lacht in der Hölle, Gouverneur Fleury und seine Gang werden in einem Becken voller Blut schwimmen, aber wer wird meinen Worten glauben?“ Das Massaker blieb bisher ungesühnt, der befehligende Offizier wurde Politiker, Abgeordneter. Interessant, bezeichnend – die so hochpopulären Racionais MC`s schaffen es nicht, an der Rio-Peripherie aufzutreten. Denn die soziale Kontrolle der Gangstersyndikate ist  so effizient, daß Rapper-Kritik an Banditen und Drogen nirgendwo zugelassen wird, wirklich sozialkritische Bands keine Auftrittschancen haben. 1995 gibts dort ein großes Rapper-Festival, die Banditenmilizen machen den Ordnungsdienst. Also wagt niemand, etwa die massenhaft Anwerbung von Straßenkindern für Verbrechen zu kritisieren. Um so heftiger wird der Polizeiterror angeprangert, das gefällt den Comandos.  Daß Banditen Rios minderjährige Mädchen vergewaltigen, zum Mitmachen bei Pornofilmen zwingen, die man später in ihrer eigenen Favela öffentlich zeigt, ist ebenfalls kein Thema. Wenigstens rappt “ Justica Negra“, Schwarze sollten sich nicht gegenseitig, wegen ein paar Tennisschuhen, einer Uhr, einer schicken Rappermütze umlegen, zuviele seien deshalb schon im Knast. Auf den Bailes Funk in Sao Paulo manifestiert sich in Ansätzen wachsendes Selbstbewußtsein der dunkelhäutigen Unterschicht, kaum aber in Rio. Sänger Ice Blue von den Racionais MC`s ist lieber  vorsichtig, spricht nur von einer gewissen „Bequemlichkeit“der Slumjugend am Zuckerhut. Arnaldo Jabor, Starkolumnist von Brasiliens auflagenstärkster Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“ nimmt 1999 dagegen  kein Blatt vor den Mund, reflektiert den Abstand der Reichen, der Mittelschichtler, der Intellektuellen wie er selber von der Peripherie-Realität: “Auf den Bailes Funk pulsiert ein brutaler Strom des Wollens, der Lust – die Gewalt als Hunger nach Ausdruck, das Töten als Erleichterung, Trost, Erholung nach Erniedrigungen. Eine Normalität des Mordens entsteht, bar jeder Schuld und Sünde. Die Masse der Unglücklichen wächst jeden Tag, wir können sie nicht mehr ignorieren. Erinnert sich jemand an den Videoclip der Racionais MC`s im MTV, die Faszination der privilegierten Mittel-und Oberschichtskids für die rohe, viehische, brutale Ethik der Slumkids? Die Peripherie wird zur Avantgarde der Verhaltensnormen. Unser hübschen kleinen Sozialprojekte -–wie sind die doch lächerlich. Aber die Regierung steht nun einmal zur Avenida Paulista(Sao Paulos  Straße der Großbanken, Konzerne und Multis, der Verf.). Wahrscheinlicher ist, daß dort in ein paar Jahren eine Wissenschaft der Ausrottung hochsprießt, entwickelt wird – anstatt eines radikalen Projektes zur Rettung dieser Unglücklichen. Die Idee einer Lösung ist immer weiter weggerückt. Eine Lösung? Zu spät, vorbei…“

Roberta Close – Amerikas berühmteste Transsexuelle, Neuschweizerin. 

 Die Rekrutenmusterung mit achtzehn  wird zur filmreifen Posse –  mißtrauische , verunsicherte Offiziere schreien „halt, es reicht”, als Roberta Close ihre Bluse öffnet. Sie wird Miss Gay , ist 1984 erstmals Playboy-Titel –  nach drei Tagen ist in ganz Brasilien keine Ausgabe mehr aufzutreiben. Psychologen, Sozialwissenschaftler, Literaten, Poeten befassen sich mit ihr, die gläubige Katholikin tritt in den beliebtesten TV-Unterhaltungsshows auf, Roberta-Close-Gassenhauer werden landesweit gesungen: ”Die schönste Frau Brasiliens ist ein Mann/wo sie geht, werden Frauen böse und Männer ganz verrückt… ”Mit Cindy Crawford, Linda Evangelista und Naomi Campbell präsentiert „La Close” für Guy Laroche, Thierry Mugler und Jean-Paul Gaulthier extravagante Mode in Paris, spielt 1988 in einem französischen Streifen mit, tourt mit Brazil-Revuen durch ganz Europa, auch durch die Schweiz. Noch 1984 lehnt sie eine Geschlechtsumwandlung als „wenig intelligent” ab: ”Ich habe mir ein Image als Transvestit aufgebaut –  die Operation würde alles wieder kaputtmachen.” August 1989 dann doch der schmerzhafte, komplizierte Eingriff  –  ganz Brasilien leidet mit, begutachtet danach eingehend in Tageszeitungen und Zeitschriften, was er ergab. Und der Orgasmus?” Klar habe ich einen, die Medizin ist heute weit fortgeschritten. Mein Orgasmus ist jetzt viel intensiver, weil ich all mein weibliches Potential freisetzen kann.” Schätzungsweise 1500 Brasilianer taten den gleichen Schritt wie Roberta Close. Viele Transsexuelle sagt sie, sind unglücklich, haben Angst, scheuen noch das Risiko. In der internationalen Pop-und Künstlerszene verkehrt sie seit Jahren; Gerard Depardieu, Boy George, Brasiliens erste Garnitur “ alles gute Bekannte. Dann ein wichtiger Sprung auf der Karriereleiter – allabendlich Hauptattraktion einer populären TV-Serie,  erstmals als richtige, echte Frau, Kabarettsängerin, die Männern einer Stadt den Kopf verdreht. Auf Europas Flughäfen immer das gleiche: Die Beamten wollen die tropische Schönheit nackt sehen, weil in ihrem brasilianischen Reisepaß eigenartigerweise ein Männername steht. Roberta Close wird in einen Nebenraum geführt, muß sich ausziehen.”Sie lachten sich tot, während ich vor Wut und Demütigung weinte.” Denn damals hat das Schönheitsideal, Sexsymbol der Brasilianerinnen zwar wohlausgebildete Brüste, aber immer noch einen Penis. Eine Geschlechtsumwandlung, seit Jahren erwogen, würde erniedrigende Airport-Szenen ausschließen, glaubt Roberta Close. Ein Wunschtraum. 1989 die Operation für 20 000 Dollar im Londoner Charing-Cross-Hospital –  doch weiterhin verweigert ihr Brasiliens Justiz die ersehnte Namensänderung. In der Schweiz lebt sie amtlich registriert als Luiza Gambine, läßt den famosen Künstlernamen beiseite, doch im Paß steht Luiz Roberto Gambine Moreira –  auf den Flughäfen dieselben absurden Dramen. Mit einem beginnt die 240-seitige Autobiographie “ Schauplatz Heathrow-Airport, April 1997. Der Polizeibeamte entzückt sich an der sinnlichen Brasilianerin, öffnet den Paß: ”Mr. Luiz Roberto, erklären sie mir diesen Unsinn!”  „Ich wurde als Hermaphrodit geboren, bin jetzt eine Frau –  haben sie Zweifel?”, fragt Roberta Close, hält dem Verdutzten schrille Illustriertenfotos vor die Nase. Ohne Erfolg. Wieder ein unfreiwilliger Striptease vor einem Beamten, und dann noch einer, vor einer ganzen obszönen Horde. Im gespannten Klima nach IRA-Attentaten bellt ein Beamter: ”Wir glauben ihrer Story nicht. Sie könnten ein irischer Terrorist sein, als Frau verkleidet.” Roberta Close landet im Gefängnis, kommt erst nach langem Hin und Her frei. 1997 lebt sie bereits mit einem Züricher zusammen, genießt die unaufgeregte Schweiz, die Anonymität, gewinnt Abstand, kommt zur Ruhe, macht sich an das wegen vieler verständlicher Ängste aufgeschobene Buch. Seriös, nicht sensationalistisch soll es sein, die menschliche Seite ihrer Geschichte zeigen. Nur –  von Kindesbeinen an reihen sich nun einmal dramatische, bizarre, groteske, deprimierende und spektakuläre Episoden aneinander. Mit sieben Jahren entdeckt der kleine Roberto, daß er anders ist; möchte mit Puppen, den gleichaltrigen Mächen spielen, deren Kleider tragen. Fürchtet, daß die anderen Schulbuben sein unterentwickeltes Geschlecht entdecken könnten –  der Penis wie bei einem Kleinkind, die Hoden nicht sichtbar. Der Vater, ein Offizier, schlägt zu, wenn er ihn mit Mädchenspielzeug, gar Röcken erwischt.Bereits ab zehn mischt sich Roberto unter die Homosexuellen der Copacabana, taucht in die Subkultur der risikofreudigen Randexistenzen, rennt mit ihnen vor der Diktatur-Militärpolizei davon. Mit dreizehn, vierzehn trägt er Bikinis, nimmt Hormone, damit die Brüste schneller wachsen, hat das erstemal Sex, wird kurz darauf brutal vergewaltigt, beinahe noch einmal, in Copacabana öfters brutal zusammengeschlagen, getreten, bespuckt, lernt Intoleranz, Diskriminierung, Vorurteile kennen.

Analverkehr –  im bisexuellen Brasilien, wo die brillant geschriebene Novelle “Brokeback Mountain” von Pulitzerpreisträgerin Annie Proulx in der Realität millionenfach ihre Entsprechung fände –  anders als in Europa absolut nichts besonderes, als Troca-Troca zumeist die erste sexuelle Erfahrung der heranwachsenden Brasilianer. Viele bleiben dabei, sagen Frau oder Freundin nichts davon, gehen später zu den Transvestiten vom Strich. Mit einem „Travesti”, der mit seinen Silikonbusen wie eine Superfrau aussieht, sagen Experten, fühlen sich die Machos nicht als Homosexuelle, obwohl sie nur zu gerne den passiven Teil spielen, phantasieren, daß eine Frau sie besitzt. Über dreitausend Travestis prostituieren sich allein in Rio, geben Shows  –  ein Teil unweit von Robertos Elternhaus, im alten Boheme-Stadtteil Lapa. Bei ihnen fühlt er sich wohl, trägt wie sie aufreizende, tiefdekolletierte Kleider. ”Der Transvestit agiert beim Geschlechtsakt wie ein Mann”, erläutert  Skorpion Roberta Close “ nicht ihr Fall. Auf  Seite 201 zeigt sie ihr operiertes, weibliches Geschlecht: ”Die brasilianischen Machos suchten in mir stets den Mann, der garnicht existierte. Da sie ihn nicht fanden, baten sie mich, einen Freund zu rufen… Sie wollten penetriert werden.” Jene Phase, in der sie, bereits Star, viele Partner hatte, ist ihr heute widerwärtig –  mit Ekel denkt sie an die High Society, Industrielle, Politiker: ”Je reicher, desto schlimmer. Die Mehrheit ist pervertiert, kokainsüchtig, wollte mich nur benutzen, um Phantasien zu befriedigen. Ein Gouverneurssohn empfing mich im Palast bereits voll mit Drogen, fand sich nicht damit ab, daß ich nicht wie ein Travesti agierte. Sex zu machen, reichte ihm nicht, er wollte auch der passive Part sein –  ein Gefallen, den ich niemandem tun konnte. Auch deshalb habe ich mich operieren lassen. Ich war immer passiv, hatte keine andere Option außer Analsex…” Der zwar lustvoll war, bei dem sie sich aber gleichzeitig auch schämte. Einen anderen Reichen, Mächtigen mußte sie durchpeitschen, treten –  er auf den Knien vor ihr, wollte wissen, wie man sich als Untergebener fühlt; Roberta Close just in der Boß-Rolle, die er im brutalen brasilianischen Arbeitsalltag innehatte.

1989 endlich die Umwandlung, kompliziert, therapeutisch begleitet. Sie verläßt das Charing-Cross-Hospital  noch im Rollstuhl, bleibt für einige Zeit bei zwei transsexuellen Freundinnen in der Schweiz, kann es kaum erwarten, ihr neues Geschlecht auszuprobieren. Doch mit wem? „Eine ganze Schlange von Männern bot sich an. Aber ich wollte jemanden, der meine Geschichte nicht kennt, mich wie eine wirkliche Frau begehrt.” Ein junger Schweizer wars, es ging phantastisch gut, immense Lustgefühle. Und er hatte nichts gemerkt. In Zürich lernt Luiza Gambine, unbekümmert, energiegeladen und noch unentdeckt, ganz normal Frau zu sein, kreuzt schließlich ihren „Traummann”, lebt mit ihm, voller Angst, daß er ihre Geschichte erfährt, davonläuft. Ein Jahr lang sagt sie nichts, täuscht die Menstruation, Koliken vor. Bis eines Tages alles heraussprudelt. Seine erste Reaktion –  Angst, Konfusion, Verlorenheit. Dann mag er Roberta noch mehr, ist in Brasilien jetzt prominent, öfters auf Titelseiten. Dort wird sie weiterhin als Femme fatal behandelt, in Europa dagegen ernstgenommen; tritt im Bildungsfernsehen auf, sitzt mit Pfarrern , Therapeuten, Juristen, Gynäkologen bei Rundtischgesprächen, gibt TV-Interviews über Transsexualismus. Durch ihren Mann und die Schweiz wurde sie anders, sicherer: ”Mich zur Schau stellen, im Karneval entblößen –  das brauche ich nicht mehr so nötig.” Und die Schweizer Männer? „Sie sind ruhige Leute –  wahrhaftig, aufrichtig, echt, wenn sie jemanden mögen. Sie betrügen einen nicht, wie Italiener oder Brasilianer, die verheiratet sind und gleichzeitig noch zwei, drei Frauen nebenbei auf der Straße haben.” Mit dem Buch, betitelt „Muito Prazer, Roberta Close”, mehrdeutig als „Sehr angenehm, viel Vergnügen und viel Lustgewinn, Roberta Close” übersetzbar, will sie Brasiliens Machismus, die Erniedrigung der Frauen anprangern, Berichte der Skandal-und Qualitätsmedien dementieren. Nach der Operation war in ihrer Heimat zu lesen, sie sei ohne Penis frustriert, habe Aids, sei gar tot. Die Italienischstämmige wolle ein Kind, gezeugt mit eigenem Samen, der in einem Schweizer Labor lagere.  Der größte Schock: Transvestiten, ihre Freunde von einst, erklärten der Presse, Roberta sei jetzt amputiert, kastriert. Kein Wunder, daß sie ein gespaltenes Verhältnis zu Brasilien hat. “Europa gab mir Gelegenheit, mein Leben in Ordnung zu bringen, dort bin ich keine Randexistenz. Brasilien ist primitiv und rückständig, dort lebe ich nie mehr –  mein Bruder wurde in Rio erschossen.”

 Vierteilen, köpfen, skalpieren, lebendig verbrennen

Der Alltag in brasilianischen Favelas                                       

 

Eine neunzehnjährige Frau wird im Jahre 2003 von einer Banditenmiliz Rio de Janeiros erst vergewaltigt, dann bestialisch gefoltert, schließlich skalpiert und totgeschlagen. Das Opfer findet man hinter einem öffentlichen Krankenhaus, unweit dem Nobelviertel Barra da Tijuca, Brasiliens „Miami“. Nur eine einzige Zeitung bringt eine winzige Notiz von wenigen Zeilen, nennt die von der Banditenmiliz beherrschte Favela. In Mitteleuropa gäbe es einen öffentlichen Aufschrei, würden Politiker, Menschenrechtler, Frauenverbände reagieren, die Sicherheitsbehörden alles daransetzen, die Täter zu fassen. In Brasilien nichts dergleichen, der Fall dringt überhaupt nicht ins öffentliche Bewußtsein, wird von der Mittel- und Oberschicht, den Autoritäten, gar nicht mehr wahrgenommen. Denn seit Kolonialzeiten gehört derartiges zur Normalität, für die Bevölkerungsmehrheit in den Elends- und Armenvierteln erst recht.

   Wenige Tage später in São Paulo, der drittgrößten Stadt der Welt mit über tausend deutschen Unternehmen, die gleiche Untat. Wieder wird eine junge Favela-Frau skalpiert, dann bestialisch ermordet. Und wieder nur eine winzige Notiz in einer einzigen Zeitung, keinerlei Reaktion auch von der Präfektur, wo größtenteils Frauen arbeiten, keine Reaktion von Bürgermeisterin Marta Suplicy, der Vizechefin des Partido dos Trabalhadores, der Arbeiterpartei, der auch Staatspräsident Lula angehört. Auch in den Favelas von São Paulo, mit dem Mehrfachen der Bevölkerung Tschetscheniens,  werden Menschen von Banditenmilizen lebendig verbrannt – nur in Rio de Janeiro und den Millionenstädten des Nordostens veröffentlicht die Presse Fotos der verkohlten oder zu Asche zerfallenen Opfer aus den lokalen Favelas. Oder von Geköpften. Von blutigen, aufgedunsenen, nackten  Leichen, über die sich große Aasgeier hermachen. Entsetzlicher Verwesungsgeruch. Tote sollen oft zwecks Abschreckung bei Tropenhitze tagelang im Gassenlabyrinth liegenbleiben – jeder muß so mit ansehen, wie freilaufende Schweine ihnen die Gedärme meterlang herauszerren, die Leichen schließlich teilweise oder ganz auffressen. Die Liste von nahezu unvorstellbaren Untaten ließe sich beliebig verlängern.

   Jurandir Freire Costa, Therapeut, Universitäts-Dozent und einer der bekanntesten Intellektuellen Brasiliens, hat eine Erklärung für das Desinteresse der Bessergestellten Rios, São Paulos, Salvadors oder Fortalezas am Los der Favelabewohner: „Die Mittel- und Oberschicht“, sagt er, „spricht ihnen den Gleichheitsgrundsatz ab, definiert sie gleichsam als Nicht-Menschen, reagiert daher mit extremer Indifferenz und Akzeptanz auf jede Art von Gewalt gegen diesen Bevölkerungsteil. Daß Favelabewohner kaum ein Minimum an Menschenrechten genießen, ist somit irrelevant.“ Favelas sind eines der gravierendsten hausgemachten Probleme des Tropenlandes.

 

„Unerklärter Bürgerkrieg“

 

Die Verbrechen – alles nur Einzelfälle, zu Sensationen aufgebauscht und in den Medien entsprechend ausgeschlachtet? In Deutschland, einem Land mit etwa halb so viel Einwohnern wie Brasilien, werden jährlich über eintausend Menschen umgebracht – bei einer Gewaltrate wie derjenigen des Drittweltstaates wären es indessen weit über zwanzigtausend. Zudem befänden sich mehr als zehn Millionen illegaler Waffen fast jeden Kalibers in Privat- bzw. Gangsterhand. Jeder kann erahnen, wie Deutschland dann aussähe.

   An São Paulos Favelaperipherie monatlich über achthundert Morde, bei weit höherer Dunkelziffer. Überall im Lande sind die offiziellen Zahlen nachweislich arg geschönt. Nicht zufällig sprechen Menschenrechtsaktivisten und Soziologen von einem „nichterklärten Bürgerkrieg“. Die meisten Verbrechen werden von den Favelados aus Angst vor der landesüblichen Rache nicht angezeigt. Man geht lieber nicht zur Polizei, wenn der Vater von den Banditenmilizen erschossen worden ist. Damit riskieren, daß die Gangsterkommandos auch noch den Rest der Familie liquidieren? Alle, fast alle halten sich an das Lei do Silencio, das Gesetz des Schweigens. Nur nach 5,4 Prozent aller registrierten Verbrechen, so neue Studien aus São Paulo, wird überhaupt ein mutmaßlicher Täter oder gar der Schuldige festgenommen, bei über 80 Prozent aller registrierten Mordfälle werden die Ermittlungen ergebnislos eingestellt. In Rio, dem zweitwichtigsten Wirtschaftszentrum des Landes mit einem Bruttosozialprodukt, das über dem Chiles liegt, hat die Polizei im Jahre 2003 nicht einmal 3 Prozent aller Mordfälle aufgeklärt – wer in Favelas wohnt, kennt Mörder mehr als genug, hat mit ihnen täglich Kontakt. Über 30 Prozent der minderjährigen Favelabewohner sahen mindestens einem Mord zu. Was dies für ihre Psyche bedeutet, kann man sich vorstellen.

   Man muß sich auch diese Basisfakten vor Augen führen: In Südamerikas reichster Stadt São Paulo, einer Art New York tropical,  genießen  gerade 3,46 Prozent einen europäischen Sozialstandard und nur 10 Prozent den durchschnittlichen asiatischen. Doch über die Hälfte lebt wie in Afrika, fast ein Drittel wie in Indien – der amtlichen Statistik zufolge in rund 1600 Favelas. Die Medien berichten allerdings fast ausschließlich über die Metropolenbewohner mit europäisch-asiatischem Standard – nicht zuletzt, weil Recherchieren in Favelas für Journalisten häufig lebensgefährlich ist. Wer einen Artikel publiziert, der die Dinge beim Namen nennt, riskiert, beim nächsten Mal von Banditen erkannt und ermordet zu werden.

   Wie erlebt eine Afghanin, die größtenteils in Aachen aufgewachsen ist, den Favelaalltag? Maryam Alekozai machte ihr soziales Jahr in São Paulos Favela Jardim Angela, nahe jener Formel-Eins-Piste von Interlagos, auf der Michael Schumacher seine Rennen fährt. „Hier herrscht eine Art Bürgerkrieg, gar nicht mal so anders, wie damals in Afghanistan, als ich klein war“, sagt sie. „Tagsüber, auch nachts fallen Schüsse, immer wieder wird jemand umgebracht, Kinder verlieren ihre Väter. Von den Müttern, deren Sprößlinge ich betreue, sind darum nicht wenige alleinstehend. Ganz normal für die Kinder, daß jemand erschossen wird – sie wachsen damit auf. Der Unterschied zwischen einem fünfjährigen Mädchen hier und in Deutschland ist so unglaublich groß! In den Augen der brasilianischen Kinder sehe ich Haß, ganz tiefen Haß – und Wut! Man blickt nicht in Kinderaugen, sondern eigentlich in die Augen von Erwachsenen, die voller Aggressionen sind. Die Ungerechtigkeit und die Gewalt, die in diesem Lande herrschen, spiegeln sich unübersehbar in den Augen der Kinder.“ Doch zugleich weist sie auf einen scheinbaren Widerspruch hin: „Ein Bewußtsein über soziale Ungleichheiten existiert hier nicht – weder bei den Armen noch bei den Reichen. Aufklärung, kritisches Denken, das einem in Deutschland beigebracht wird, fehlt hier.“

   Aber auch in den Favelas täuscht der oberflächliche Eindruck, die Erscheinungsebene nur zu oft. „Viele sagen, ihr kommt aus Deutschland, ihr seht uns fröhlich und gut drauf, aber Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie es uns wirklich geht, wie es zuhause hinter unseren vier Wänden aussieht.“ In der Tat: In Brasilien übertrifft die Realität nur zu oft jede Fiktion –  die Favela Jardim Angela hat eine Rua Afeganistao …

   In São Paulo gibt es aber auch die Bilderbuch-Favela Monte Azul mit außergewöhnlich erfolgreichen Sozial- und Kulturprojekten und ohne jeglichen Banditeneinfluß, alles initiiert von der Thüringerin Ute Crämer. Landesweit leider die ganz große Ausnahme – und von den Autoritäten gerne als Vorzeigeobjekt benutzt. Nahezu überall regieren jedoch hochgerüstete, neofeudal organisierte Banditenmilizen die Favelas wie einen Parallelstaat, terrorisieren Millionen von Bewohnern – weitgehend  toleriert von der Politik.

 

Das „Gesetz des Schweigens” gilt auch für Journalisten

 

Ein strenges Normendiktat wird mit harter Hand durchgesetzt. Wer das Lei do Silencio bricht, wer interne Vorgänge des Viertels nach außen trägt, gar der Presse über die Machtstrukturen berichtet, wird zur Abschreckung exekutiert. Etwa per Microonda, Mikrowelle: Über das gefesselte Opfer werden bis in Kopfhöhe Autoreifen geschichtet, dann wird es mit Benzin übergossen und angezündet. Manche, die in Europa den brasilianischen Film Cidade de Deus (City of God) sahen, hielten die vielen Gewaltszenen für reichlich übertrieben, überdreht. Sie scheinen nicht zu dem sozialromantischen Bild vom Tropenstaat zu passen. Dabei wurde im Film weder gezeigt noch erwähnt, daß in der Favela Cidade de Deus (Rio) das Verbrennen von Mißliebigen ebenfalls üblich ist. Als alternative Hinrichtungsmethode gilt dort, sie Alligatoren zum Fraß vorzuwerfen. Paulo Lins, der in der Favela Cidade de Deus aufgewachsen ist, schrieb den gleichnamigen Roman. Er sagt: „Gewalt gibt‘s überall auf der Welt, aber bei uns erfaßt sie schon die Kleinsten. Brasilien mordet seine Kinder seit vielen, vielen Jahren – und macht bereits Kinder zu Mördern. Brasilien hat eine Gabe zum Töten, Brasilien ist ein Mörderstaat.“ Ein anderer Satz macht nicht weniger nachdenklich: „Würde ich die Realität so schildern, wie sie ist, könnte man das gar nicht publizieren.”

   Köpfen und Zerhacken sind ebenfalls gängige Favela-Strafen. Immer wieder sind sogar Kinder dabei beobachtet worden, wie sie mit abgeschlagenen Köpfen Fußball spielten. Vergewaltiger werden kastriert – Banditen, die bis zu hundert Frauen und Mädchen mißbrauchten, selbstverständlich ausgenommen. Wie das selbsternannte Gangster-„Tribunal“ der Rio-Favela Morro do Fubà im Jahre 2003 mit Luis do Nascimento (22) verfuhr, schien den Praktiken der Taliban entlehnt. Der Vergewaltigung von Minderjährigen angeklagt, wurde er vor einer großen Menschenmenge zunächst gefesselt, geschlagen, danach mit Pflastersteinen gesteinigt und schließlich auf dem modernen Scheiterhaufen, der Microonda, verbrannt. Rios auflagenstarke Zeitung O Dia brachte anderntags ein Großfoto seiner Überreste mit sachlicher Bildunterschrift. Es hätte schlimmer kommen können – ein anderes populäres Rio-Blatt pflegte solche Fotos mit zynischen Texten zu versehen. „Er wurde Grillfleisch, gut durchgebraten“, stand unter dem Foto eines angezündeten Schwarzen, zahlreiche neugierige Kinder drumherum.

   „Harmlosere“ Strafen sind Folterungen oder das Durchschießen der Hände und Füße. Etwa für jene, die Ausgangssperren mißachten – immer wieder verhängt für weit über fünfzigtausend Favelabewohner, ob in Rio oder São Paulo – oder für jene, die Banditenbefehlen nur murrend nachkommen.  Denn jeder muß mit den global vernetzten Verbrechersyndikaten kooperieren, Drogen, Waffen, Raubgut, Entführte, bei Razzien selbst Bandidos in seiner Kate verstecken. „Weil ich ein Auto habe“, so ein Favelabewohner, „muß ich andauernd schwerbewaffnete Gangster in der ganzen Stadt herumfahren, sogar zu Überfällen transportieren. Bitter, daß es unter uns keine Solidarität mehr gibt, jeder mißtraut jedem. Im Drogenrausch hat ein Bandido auf meine Tür gefeuert und beinahe meine Kinder getroffen!“

 

Autoritäten und Hilfsorganisationen respektieren die Macht der Gangstersyndikate

 

Ohne Zustimmung der Gangster darf niemand Besucher, nicht einmal Verwandte in die Favela mitbringen, ohne deren Okay hat auch kein Politiker Zutritt. Als ein  angesehene Kongreßsenator aus der Arbeiterpartei Lulas eine Rio-Favela besucht, hält er sich ebenfalls streng an die Banditenvorgaben, verschwindet mit dem Journalistentroß pünktlich zur geforderten Zeit. Eigentlich ein haarsträubender Vorgang – und politisch höchst bedenklich. Der Senator war in  NGO-Sozialprojekten – auch sie brauchen grundsätzlich das Einverständnis der Banditen und werden kontrolliert.

   „Hilfe zur Selbsthilfe“ – funktioniert das? Wie brasilianische Sozialarbeiter betonen, ist die Banditenherrschaft inzwischen dermaßen perfekt und brutal – und vor allem regelrecht sozial und kulturell verwurzelt – , daß jede normale Projektarbeit unmöglich geworden ist. Mit den Gangsterbossen muß über beinahe jede Aktivität verhandelt werden – sie stimmen nur zu, wenn Vorhaben ihrem Image und ihren Interessen dienen. Sogar Projekteinrichtungen nutzen sie für ihre Feste. Für Ordnung im Revier sorgen sie auf ihre Weise: Als aus einem Projektgebäude in Rio ein Videogerät gestohlen wird, drohen die sich einmischenden Gangster damit, solange Menschen zu erschießen, bis das Gerät wieder auftaucht – das ist erst nach dem achten Toten der Fall.

   Jahrzehntelang glaubten Brasiliens Gutmenschen und Drittweltbewegte, man müsse die Favelas nur mit einem Netz von Sozialprojekten überziehen, um die entsetzlich hohe Mordrate drastisch zu senken und die Herrschaft der Banditenmilizen zu schwächen. Hohe Spendensummen wurden investiert – doch selbst laut Unesco-Angaben hat das weder die Gewaltrate noch den Banditenterror gegen die Bewohner gebremst. Manche ausländischen  Hilfsorganisationen suchen all dies vor ihren Spendern und Förderern zu verheimlichen. Und wenn NGO-Chefs, Politiker und Staatspräsidenten aus der Ersten Welt in Favelas auftauchen, um die Sozialkosmetik zu begutachten, wird peinlichstes Theater gespielt, prostet man sich mit Caipirinha zu – die Gäste lächeln freundlich, applaudieren höflich den Samba-Tanzgruppen. Die andere Realität wird versteckt, ausgeblendet. Natürlich wissen auch die lokalen Projektleiter, wer welche Verbrechen begangen hat, in welcher Favela-Barraca Entführte unter grauenhaften Bedingungen festgehalten und gefoltert werden – doch alle ziehen es vor, zu schweigen. Wer will schon die Projektarbeit gefährden?  Gar in der Microonda enden? Wenn Sozialarbeiter in Favelas bemerken, daß junge Leute Alte belästigen oder gar mißhandeln, oder gar sie selbst attackieren, entsteht eine bizarre Situation: „Da bleibt uns nichts weiter übrig, als mit dem Gangsterchef zu sprechen – denn der herrscht absolutistisch, spielt manchmal den Sozialhelfer für alleinstehende Senioren, hilft uns mit Sicherheit, greift sich die Täter. Und verwarnt sie nach dem Motto: noch einmal so etwas, und du weißt, was dir passiert!“ Das wirkt, schließlich drohen Handabhacken, Kastrieren, Verbrennen bei lebendigem Leib.

   Wurden etwa durch einen Erdrutsch viele Leute verschüttet, rücken Feuerwehr und Sanitäter an, dürfen jedoch erst nach Banditen-Okay zur Unglücksstelle. (s. 6. Zeile weiter unten)

   Auch das von Rio de Janeiros Stadtverwaltung initiierte Favela-Bairro-Projekt funktioniert nur mit Banditenerlaubnis. Die Milizen passen auf, daß dank gepflasterter oder asphaltierter Favelastraßen und Wege nun nicht auf einmal die Polizei besseren Zugang hat. Sie lassen Betonsperren errichten, schließen ganze Straßen mit  schweren Eisentoren und mächtigen Schlössern. Zuviel Pfuscharbeit, kritisieren die Bewohnerassoziationen, zuviele geplatzte Abwasserrohre, zuviel Halbfertiges. Wenn etwa nach einem Erdrutsch viele Menschen verschüttet sind, dann rücken Feuerwehr und Sanitäter an – dürfen jedoch erst mit dem Einverständnis der Banditen zur Unglücksstelle. Immer wieder unterbrechen Milizen einfach die Favela-Bairro-Arbeiten, jagen die Beschäftigten davon. Nicht günstig, bei den Gangsterkommandos in Mißkredit zu fallen: Ende 2003 findet man nach einem anonymen Hinweis die sterblichen Überreste des Bauleiters Paulo Ferreira Lima Filho (39) – ermordet. Verbrannt an einer Stelle, an der die dortige Banditenmiliz gewöhnlich auch andere Mißliebige foltert und verbrennt.

 

Brasiliens Kindersoldaten

 

Favelas sind Hochburgen und Operationsbasis der Milizen. Angesichts zunehmender Massenarbeitslosigkeit haben sie nicht nur keine Nachwuchsprobleme, sie integrieren vielmehr Zehntausende von Kindern in den Arbeitsmarkt der Syndikate und zahlen ihnen Top-Löhne, von denen diese ganze Großfamilien ernähren. Brasiliens Mindestlohn liegt bei umgerechnet etwa 70, 80 Euro monatlich – schon  Kindersoldaten der Favelas kommen dagegen bereits pro Woche auf 500 Euro. Im Laufe ihrer „Karriere“ bringen manche mehr als 40 Menschen um. „Die normale kindliche Abenteuerlust“, sagen selbst Padres, „wird von den Banditen schamlos ausgenutzt, in den Köpfen der Jungen werden sie zu Helden und Vorbildern.“ Bereits als Minderjähriger Prestige und Macht zu haben – ein tolles Gefühl. Denn in der City, in den schicken Strandvierteln spüren nicht nur die Heranwachsenden Brasiliens „soziale Apartheid“: unnütz, überflüssig, ein Nichts, zu sein und entsprechend behandelt zu werden. Aber wenn sie mir, dem Gringo, in ihrem Parallelstaat begegnen, lässig die NATO-Mpi umgehängt und durch die Favela schlendern, dann fühlen sie Respekt und Unterwerfung und die heißen Blicke der Favelamädchen. Das wertet auf. Die Internationale Arbeitsorganisation ILO in Genf hat es untersucht. Auffälligstes Resultat: Obwohl es in Millionenstädten wie Rio de Janeiro inzwischen mehr Schulen für Favelakinder gibt, hat das, wie fälschlich angenommen, die Attraktivität des organisierten Verbrechens nicht vermindert, ihm keine jugendlichen „Arbeitskräfte“ entzogen – im Gegenteil: Junge Gangster sagten den ILO-Interviewern immer dasselbe: „Warum jahrelang zur Schule gehen, wenn mir das später weder beruflichen noch finanziellen Nutzen bringt?“ Denn der Unterricht in den Favela-Schulen hat ein extrem niedriges Niveau – kein Vergleich mit den unerschwinglichen Privatschulen für die Kinder der Mittel- und Oberschicht, die folgerichtig später alle besserbezahlten Jobs besetzen.

 


Feudalistisch-machistische Werte, zerrüttete Familien

 

„In den Favelas“, sagt Brasiliens führende Gewaltexpertin, die Anthropologin Alba Zaluar, „ist eine neue tyrannische Kultur feudalistisch-machistischer Werte inzwischen fest installiert – alles hingenommen von den Autoritäten.“  Selbst minderjährige Mädchen drängeln sich geradezu danach, Geliebte, First Lady, Primeira Dama von Banditen zu werden, um so Status und Schutz zu gewinnen, in den besten Restaurants speisen, in den teuersten Boutiquen einkaufen, die Gepflogenheiten der Geldelite kopieren zu können. Für die Mädchen verkörpere der Gangster „Attraktivität, Schönheit, Erstrebenswertes, gar ein Lebensideal“. Gemäß der „surrealen“ Favela-Logik kein Widerspruch angesichts des Drucks, der Gewalt, die von den Banditenmilizen ausgeht.  „Hier oben ist es spannend, geil, richtiges echtes Abenteuer“, sagten in einer Hang-Favela von Rio zwei Vierzehn- bis Fünfzehnjährige in superkurzen Shorts und Bikini-Oberteil. Sie haben wachsende Bäuche und erklären stolz, von zwei Top-Gangstern, über die man sogar im Fernsehen und im Radio spricht, schwanger zu sein.  Gangsterbosse halten sich bis zu 30 Geliebte, und alle wissen voneinander. Gelegentlich sind fünf und mehr Frauen zur selben Zeit schwanger, versammelt jeder Warlord auf Kinderfesten seinen gesamten Nachwuchs – nicht selten 30 Kinder und mehr. Wenn er, etwa im Gefecht mit Rivalen oder der Polizei, stirbt, dann gibt es ein Heldenbegräbnis, dann werfen sich seine Geliebten schluchzend über den Sarg. Viele werden dem Nachfolger zugeteilt.

   Jugendliche Favela-Banditen betonen ganz offen, jeden sofort umzubringen, der als Polizeiinformant gilt. „Uns macht‘s Spaß, Leute zu töten – wir sind tatsächlich finstere Typen, wir stehen zu unserem Job.“ Einer hat bereits drei Polizisten erschossen, ein anderer jemanden geköpft – „zur Abschreckung der Bewohner“, sagt er. Und alle wissen, daß sie im in der guerra urbana, in einem Stadtkrieg, der jährlich zehntausende Opfer fordert, meist keine fünfundzwanzig Jahre alt werden. Sechzehn Favela-Kids verschiedener Teilstaaten ließen sich für einen neuen Dokumentarfilm interviewen – zwei Jahre darauf lebte nur noch einer. Natürlich hausen die Bosse des organisierten Verbrechens nicht in den Favelas. „Die wohnen in den Nobelvierteln“, betont die aus der Oberschicht stammende Künstlerin und Menschenrechtsaktivistin Yvonne Bezerra de Mello, eine der wichtigsten Favela-Expertinnen Brasiliens. Selbstzensur aus „politischer Korrektheit“ zu üben, wie in der Ersten Welt geradezu üblich, ist ihre Sache nicht – sie hat noch nie ein Blatt vor den Mund genommen. Was mit Minderjährigen passiert, die bei kriminellen Aktionen nicht mitziehen, gar schwer drogensüchtig werden, die statt Profit Verluste einbringen? „Die werden eliminiert, die Leichen läßt man verschwinden. In den Favelas gibt es Ställe mit Schweinen, die Überreste von Kindern auffressen. Oder auch das: Ein Junge, oft nur dreizehn Jahre oder jünger, muß dem an einen Baum gefesselten Opfer mit einer Rasierklinge solange ins Fleisch schneiden, bis es stirbt – sogar das Herz wird herausgetrennt –, alles zur Einschüchterung der Favelabewohner.“

 

Politik und organisiertes Verbrechen

 

Über die Verbindungen von Politik, globalisierter Wirtschaft und organisiertem Verbrechen weiß Yvonne Bezerra de Mello mehr als genug.  Das „Crime organizado“, sagt Roberto Precioso, neuer Chef der Bundespolizei in Rio de Janeiro, „durchdringt inzwischen die gesamte Gesellschaft“, die Favelabewohner, so sein Vorgänger Marcelo Itagiba, seien „Geiseln der Banditenmilizen, sie werden unterdrückt, weil der Staat abwesend ist – alles eine Katastrophe“. Das alles ist kein Thema, wenn hochrangige Politiker aus Europa nach Brasilien kommen, den wichtigsten deutschen(SCHWEIZERISCHEN?) Industriestandort Lateinamerikas. Auch in- und ausländische Popstars haben mit dem Banditenterror keine Probleme, nutzen gerne mal eine Favela als exotische Videoclip-Background – wie Michael Jackson, dessen Produktionsfirma an den Boß der Rio-Hang-Favela Dona Marta für eine Dreherlaubnis tüchtig hinblättern mußte. 

   Bereits 1992 hatte der progressive Abgeordnete Carlos Minc in einer Zeitungskolumne betont: „In Rio de Janeiro sind Straftäter und Autoritäten Komplizen – das organisierte Verbrechen, das Drogenkartell herrscht in den Favelas, pflegt enge Beziehungen zur Geschäftswelt, zur Stadtregierung, zu Polizei und Justiz, die daher Straffreiheit walten lassen, die Gesetze nicht anwenden, die Menschenrechte der Bewohner Rios mißachten.“ Mincs Analyse wurde von einer parlamentarischen Untersuchungskommission für zahlreiche andere Millionenstädte und große Teile Brasiliens bestätigt. Befreiungstheologisch orientierte Bischöfe und Pfarrer argumentieren, daß die Banditenherrschaft über die Favelabewohner zugelassen werde, weil dies perfiderweise verhindere, daß sie für ihre Bürgerrechte kämpfen. Bereits der Faktor Angst verhindere politische Aktivitäten – und das sei ganz im Sinne der Eliten. Fehlendes Bewußtsein mache zusätzlich passiv.

   In der achtjährigen Amtszeit des neoliberalen Staatschefs Fernando Henrique Cardoso, Ehrendoktor der Berliner Freien Universität, haben die Verbrechersyndikate ihre Parallelmacht zügig ausgebaut, auch  Politiker-Wahlkämpfe finanziert, für die guerra urbana besitzen sie inzwischen sogar Bazookas zum Abschießen von Panzern, schwere MGs zur Flieger- und Hubschrauberabwehr, deutsche G-3-Mpis, hochmoderne Sturmgewehre des Schweizer Bundesheeres und Handgranaten en masse. All diese Waffen setzen sie weiterhin gezielt ein, attackieren selbst Armeestützpunkte und Kasernen, erbeuten Munition, blockieren Stadtautobahnen, Straßentunnel, um serienweise Fracht-LKW abzufangen. Um Macht zu demonstrieren, wird selbst in Mittelschichtsvierteln tageweise die Schließung tausender Geschäfte erzwungen. Gelegentlich muß für über zehntausend Schüler Rio de Janeiros der Unterricht ausfallen. Doch das ist neu: Zahlreiche – vom Staat entsetzlich schlecht bezahlte – Militärpolizisten lassen sich von Verbrecherorganisationen für hohen Sold anheuern, um in voller Uniform am Sturmangriff auf Favela-Hochburgen rivalisierender Syndikate teilzunehmen. Andere fühlen sich im Stadtkrieg als Kanonenfutter verheizt, gehen äußerst brutal vor, foltern, ermorden auch Unschuldige, fangen Banditenbosse ein, lassen sie aber gegen Lösegeld wieder frei. Razzien in Favelas, liest man praktisch täglich, ändern an den dortigen Machtstrukturen nichts, sind bestenfalls Nadelstiche. In den Millionenstädten erschießen Banditen Jahr für Jahr bis zu hundert Beamte und mehr. 

   Aber auf der Erscheinungsebene sind São Paulo, Rio de Janeiro, Salvador  da Bahia aufregend attraktiv wie immer – wer nur in den besseren Vierteln, etwa an der Copacabana,  in Ipanema Bade- und Kulturferien macht, merkt gewöhnlich von all dem nichts.

   Doch selbst laut UNESCO ist das Leben an der Peripherie Rio de Janeiros weit gefährlicher als etwa in Israel oder Palästina – die Zahl der Menschen, die am Zuckerhut Monat für Monat durch Gewalt umkommen, ist sechsmal größer als dort. Die Berichterstattung der europäischen Medien setzt freilich andere  Schwerpunkte.

   Rios ausgedehnter, bergiger Nationalpark Floresta da Tijuca wird immer mehr von Favelas zerfressen. Deren rasches Wachstum fördern auch rivalisierende Syndikate wie das „Comando Vermelho“ (CV, Rotes Kommando), das „Terceiro Comando“ (TC, Drittes Kommando) oder die „Amigos dos Amigos“ ( ADA, Freunde der Freunde) ganz im Eigeninteresse nach Kräften. Neuerdings brennen sie sogar großflächige Fluchtwege in den Nationalpark und errichten gelegentlich Straßensperren – sogar ein Umweltminister auf Inspektionsfahrt mußte schon einmal umkehren.

   Kaum zu übersehen ist, daß sich ein Großteil der Favelajugend mit CV, TC oder ADA identifiziert, Banditenwerte übernimmt und Heranwachsende aus „gegnerischen“ Favelas unnachgiebig attackiert. Selbst kriminelle Straßenkinder teilen ihre Stadtreviere entsprechend auf: „Wenn jemand von einer anderen Fraktion im Gebiet unseres Kommandos Überfälle macht, ist er sofort dran“, erläutert in Rio de Janeiro ein Sechzehnjähriger. „Einem haben wir jetzt die Beine gebrochen und den Schädel eingeschlagen. Wir waren sieben gegen einen.“

 

Fragwürdige Pseudo-Fröhlichkeit

 

„Arm, aber glücklich“ lautet eines der unzähligen Klischees über Brasilianer. Ihre überschäumende Lebensfreude, ihr Zukunftsoptimismus seien einfach unschlagbar. Gespräche mit Favelados sind jedoch mehr als ernüchternd. „Nichts wird besser – die Reichen Brasiliens lassen nie zu, daß Lula irgendwas ändert, uns hier rausholt“, sagt Eloisa – vier Kinder und eine Bretterhütte zwischen den Fronten in der guerra urbana an der Peripherie von São Paulo. Wenn ein Tropengewitter runtergeht, und das passiert oft, laufen Fäkalien und die Abwässer des Elendsviertels in ihre Barraca und die der Nachbarn. Wenn sich die rivalisierenden Gangstermilizen der Region ein Feuergefecht liefern, verstecken sich die Kinder unterm Bett, gehen bei der ersten Mpi-Salve so routiniert wie Eloisa und ihr derzeitiger Lebensgefährte in die Horizontale.

   Die in provisorischen Backsteinkaten haben oft schon Kühlschrank, Fernseher, viele sogar Videogeräte – ob gebraucht gekauft, von den Wohlstandsmüllbergen geholt oder von geschenkt bekommen von Banditen, die sich gelegentlich als Wohltäter aufspielen: Fracht-LKWs überfallen, in die Favela fahren und alles verteilen. Wenn es zufällig einen Kosmetik-LKW traf, freuen sich die Frauen auch mal über französisches Parfüm, ungewöhnliche Duftnote im üblichen Favela-Gestank – der an Rios Flughafen-Autobahn ist geradezu barbarisch: Er kommt von einer fehlkonstruierten Müll-Recycling-Anlage. Zehntausende von Favelados kriegen ihn ab – Proteste zwecklos.

   „Andauernd“, sagt Eloisa, „machen die Drogenbanditen hier Ausgangssperre – dann dürfen wir sogar bei Affenhitze nicht mal den Kopf aus der Tür stecken, oder wir sind geliefert, die legen jeden um, der sich nicht an ihre Regeln hält!“ – jeden Monat mehr Tote als in den aktuellen Konfliktherden dieser Erde. „Eine richtige Revolution müßte es geben, da würde sich wirklich was ändern  – aber sowas  bringen die Brasilianer nicht fertig, dazu sind sie viel zu träge. Schrecklich, mitansehen und miterleben zu müssen, wie Familienmitglieder, Kinder und Erwachsene, neben einem in den engen Barracas dahinsiechen und sterben. Medikamente gegen Hepatitis, Diabetes, gegen Bluthochdruck und anderes sind eben unerschwinglich.“ Das desillusioniert, raubt Zukunftshoffnungen. Hunderttausende von Favelabewohnern enden jährlich so – systemkritische Mediziner sprechen von einem „Projeto genocida“. Eloisa entschuldigt alles, was ihre Nachbarn an Lula kritisieren. Daß die Drogenbosse und ihre schwerbewaffneten Milizen sich in Favelas wie Sapopemba, Elba, Pantanal wie Herrscher über Leben und Tod aufführen, ist für sie unabänderlich, wie ein Naturgesetz: „Das ändert sich nie – Lulas Arbeiterpartei hat doch auch Angst vor den Banditen.“ Zu einer Präfektur-Arbeitsgruppe, sagt Eloisa, gehört auch die Mutter mehrerer Favela-Gangsterbosse, die in Favela-Angelegenheiten das letzte Wort hat. Sie zitiert sie mit den Worten: „Ich glaube nicht, daß meine Söhnchen das akzeptieren werden …“ Laut amtlichen, jedoch sehr unvollständigen Angaben hat Brasilien Ende 2003 weit über 16000 Favelas.

Auch die in Belo Horizonte, dem nach Paulo und Rio drittwichtigsten Wirtschaftszentrum, wachsen rasch weiter. Im einzigen kleinen Raum einer Kate hausen zehn Menschen: Die 68-jährige Mutter zweier Töchter, eine davon, Catiane,  schwanger, die andere, Leide, mit einem Baby und einem anderthalbjährigen Sohn. Die dritte Tochter mußte gerade wegen Teilnahme an einem Raubüberfall in den Knast, eine arbeitslose schwarze Freundin betreut solange ihr Baby, wohnt in der Kate mit ihrem Freund. Leide, um die ihre zwei Kleinkinder krabbeln, sitzt verführerisch auf dem Schoß eines Mannes, Militärpolizist von Beruf. Man könnte meinen, er sei der Vater der beiden – ist aber nur der Amante, kommt hauptsächlich zum Vögeln. Der Erzeuger wird wegen bewaffneten Raubes und Körperverletzung noch einige Jahre hinter Gittern zubringen, Leide besucht ihn jeden Sonntag zur  „Visita intima“ – der Polizei-Amante hat überhaupt nichts dagegen. Sie steht dann zunächst über eine Stunde im enormen Frauenhaufen vor einer speziellen Gefängnispforte, muß sich in einem Wachzimmer völlig ausziehen, mit gespreizten Beinen auf einen Tisch legen. Eine Beamtin faßt ihr tief in die Vagina, weil dort, wie früher üblich, Drogen und anderes Verbotene versteckt sein könnten. Dann wieder eine Riesenschlange, vor der Spezialzelle für Gefangenen-Sex. Ein Wärter regelt den Verkehr bürokratisch: Leide und ihr Partner haben auf der Pritsche an die zehn, fünfzehn Minuten, er wirft sich sofort auf sie, jede Sekunde ist kostbar. Machen sie zu lange, hämmert der Wärter gegen die Tür, brüllen die anderen:“Ihr habt schon genug gefickt, raus jetzt!“ Reitet Leides Mann sie trotzdem weiter, reißt der Wärter die Tür auf, scheucht die beiden nackt von der Pritsche hoch und auf den Gang, schubst die nächsten hinein. Beim Verabschieden ein Gruß an seine beiden Kinder und die Warnung:“Du kannst ruhig mit anderen ins Bett gehen – aber wenn du mit einem Bullen fickst, lasse ich dich kaltmachen.“ Leide verspricht stets hoch und heilig, nur ihn zu lieben – und freut sich schon im Stillen auf ihren Polizei-Amante in der Kate, hat als Favelada kaum Angst vor irgendwelchen Lebensrisiken. „Morgen kann ich schon tot sein – aus tausend Gründen.“ Plötzlich eine gute offizielle Nachricht – die Mama dreht das Radio laut für eine Spontanfete zwischen den drei Betten, in denen alle zehn gerade bei Kälte gerne aneinandergeschmiegt schlafen, und dem schmalen Gang zur Kochecke: Roberto, der Catiane schwängerte, bekommt demnächst seinen Prozeß, wird deshalb von der total überfüllten, nach Urin, Menschenkot und Schweiß stinkenden Zelle einer Polizeiwache in ein Gefängnis überführt – und das heißt, Catiane kann wie Leide zur „Visita intima“! Selbst ihre beiden Brüder, einer davon vor kurzem aus dem Knast zurückgekehrt, umarmen sie, klopfen ihr auf den Rücken, machen pikante Bemerkungen. Alles tanzt, trinkt aus der  Literflasche mit dem Zuckerrohrschnaps, in Brasilien billiger als der Liter Milch. Der eine Bruder wird wie vor dem Knast weiter Autos aufbrechen, Autos klauen – was dem Polizei-Amante natürlich ebensowenig entgeht wie kriminelle Aktivitäten der Katennachbarn –  der andere Bruder ist Anwaltsgehilfe. Hochintelligent, gewitzt, pfiffig, sehr gemocht in der Praxis. Seine Advogados haben nicht die geringste Idee, aus welchem Milieu er kommt, würden ihn nie dort am Ende der Welt, in diesem schmutzigen Labyrinth besuchen. Aber unterstützen, falls er mehr wollte. „Mensch, du könntest Kurse machen, danach an die Rechtsfakultät“, bekniet ihn eine Freundin, die es geschafft hatte – aus dem Slum, und trotz der Hautfarbe in die untere Leitungsetage eines Geldinstituts. Doch er  hat Komplexe:“Das ist nichts für unsereinen, alles ein paar Nummern zu groß, dazu sind wir zu kleine Leute.“ Elend, extreme Armut brutalisieren – und demoralisieren.

 Die Schwarze, die das Baby der in den Knast gewanderten Tochter betreut, hatte auf Anraten der Freundin mit Kursen begonnen, sich auf simpelste Ausschreibungen beworben, doch dann alles wieder entmutigt hingeschmissen.

 

Migrantenbiographien

 

In São Paulo leben mehr Nordestinos als in den Millionenstädten des brasilianischen Nordostens, wie Recife, Salvador oder Fortaleza – alle zugewandert, aus Not, in der Hoffnung auf irgendeine Arbeit, ein besseres Leben. Die allermeisten kamen aus Favelas – und sie leben in São Paulo wieder in Favelas. Viele Männer sind Bauarbeiter – selbst am Wochenende errichten sie Villen und Penthouse-Siedlungen auch für ausländische Multi-Manager – für umgerechnet keine siebzig Cent Stundenlohn. Wieviel verdient doch gleich ein Bauarbeiter pro Stunde in Deutschland, wieviel in der Schweiz? Nicht zufällig meinen selbst katholische Bischöfe, daß die Sklavenhaltermentalität noch sehr verbreitet sei – und sehr wohl akzeptiert von der globalisierten Wirtschaft.

   Maria, ihre zwei Schwestern und ein Bruder sind aus dem Nordosten gekommen. In der Barraca teilen sie sich einen einzigen Raum mit den beiden kleinen Kindern. Väter? Nicht präsent. Alle machen Aushilfe – Handlanger, Putzfrau, Wäscherin, Straßenverkäufer. Sie arbeiten wie über sechzig Prozent aller Brasilianer ohne Vertrag, unregistriert, auch sonnabends und sonntags. Eine Schwester prostituiert sich zwei- bis dreimal im Monat, schläft mit verheirateten Japanern der Mittelschicht für ein paar Real. „Da komme ich wenigstens mal raus hier, die nehmen mich mit in ein Stundenhotel, das ist wie Paradies, mit Abendessen. Wenn das immer so weiterginge, wäre ich mit dem Leben zufrieden. Mehr ist doch für unsereinen nicht drin. Und hier in der Favela gibt‘s doch nur brutale Machos, jeder hört, wenn irgendwo einer vögelt,  die eigenen Kinder kriegen‘s mit, sehen oft sogar zu.“

   Rios Favela-Expertin Yvonne Bezerra de Mello beobachtet: „Die große Mehrheit der Unterschichtskinder ist Teil völlig zerrütteter Familien. Nicht selten hausen auf nur neun Quadratmetern zehn Personen; Jungen und Mädchen sehen täglich homo- und heterosexuellen Verkehr, betrachten diesen Umstand gleichwohl als natürlich, nicht etwa als unmoralisch oder als Sünde. Auch der Umgang mit Rauschgift ist alltäglich. Für die Mädchen gehört zu den gängigen Erfahrungen, mit acht, neun oder zehn Jahren vergewaltigt zu werden.“

   Maria und die anderen sind wegen des Prostitutions-Nebenjobs der einen Schwester erleichtert, weil er die Haushaltskasse der Barraca aufbessert. „Wenn ich jeden Tag das Essen für mich und die Kinder auftreibe, bin ich schon zufrieden, mehr will ich eigentlich gar nicht.“ Für sie ist das viel, jedesmal ein enormer Sieg; Träume, große Hoffnungen hat sie nicht. Aber so viel Fatalismus in der Stimme, daß es wehtut, wie bei anderen Favela-Gesprächen. Müll wird in den stinkenden Bach nebenan geschmissen, der Strom für die Barraca ist geklaut, allein in São Paulo über zehn Prozent aller eingespeisten Energie – darum dieses unglaubliche Strippengewirr in beinahe allen brasilianischen Großstadt-Favelas. Kurzschlüsse lösen  immer wieder Großfeuer aus, ganze Favelas brennen wiederholt ab, Babys, Alte, Kranke kommen in den Flammen um – fast jede Woche sind Fotos in der Zeitung. Nachbarn haben ihre Barraca so nahe an Gleisanlagen errichtet, daß Frachtzüge nur dreißig Zentimeter vor dem Eingang vorbeibrausen. Fahren sie zu langsam, springen junge Männer auf, holen raus, was rauszuholen ist, demontieren sogar Export-PKWs. Verunglückt an der nahen Autobahn ein LKW, rennen alle sofort los und machen sich über die Ladung her. Oft brüllt, stöhnt der eingeklemmte, blutende Fahrer vor Schmerz, versuchen Feuerwehrleute, ihn zu befreien und Ärzte, ihm zu helfen – und gleich daneben streitet die Menge erbittert um die Fracht. Brennt ein Vorratslager ab, wird auch das gestürmt, trotz Polizeibarrieren und Tränengas: „Angst vor verdorbenem Essen haben wir nicht – besser mit vollem Magen zu sterben als vor Hunger.“  Gehen an Favelas von Rio und São Paulo heftige Tropengewitter herunter, dann verstopfen Jugendliche rasch mit Plastiktüten die Gullys vorbeiführender Straßen, damit Autofahrer im Wasser stecken bleiben – und dann wird reihenweise mit dem Revolver abkassiert. Jedesmal wenn der Verkehrsfunk vor diesen Abschnitten warnt, ist es längst zu spät. Und dann der unglaubliche Krach in den Favelas: Open-Air-Massendiscos mit Hiphop in Hardrock-Lautstärke, bis morgens um sechs am Wochenende – den Veranstaltern, oft die lokale Banditenmiliz, aber auch den Jugendlichen ist völlig egal, ob das Alte, Kranke, Babies um den Schlaf bringt, streßt, irrsinnig nervös macht. Und tagsüber Hiphop, Rock, Samba  in vielen Favelas aus quäkenden Lautsprechern – wie halten die Leute das aus? Daß jeder das Fernseh- und Radioprogramm der Nachbarn mithören muß, ist da noch harmlos.

 

„Wegen Hunger, Elend protestiert hier keiner“

 

Einmal im Jahr besucht Maria die Eltern und die fünf Geschwister an der Peripherie von Recife. Sie ist immer wieder entsetzt: „Wie könnt ihr so leben, die Lehmhütte steht viel zu nahe am Kloakefluß, das ist gefährlich!“ Der Vater, die anderen kontern: „Wo sollen wir denn sonst hin?“ Im kraß archaischen Nordosten hofft erst gar keiner auf Politiker, Gouverneure. Man wählt den Kandidaten, der T-Shirts oder Nahrungspakete verschenkt. „So Gott will, ändert sich was“, sagen die meisten Favelados, sie scheinen tiefreligiös zu sein. „Nur Gott kann mir helfen – wir leben hier so, weil Gott es so wollte.“  Nicht die Linie der befreiungstheologisch orientierten  katholischen Kirche, die beständig darauf aus ist, die Verelendeten zu mobilisieren, aus ihrer Apathie und Lethargie zu holen. Doch das gelingt nur punktuell, zumal in den Favelas Sekten dominieren. „Du wirst in so einer Hütte geboren, kaum was zu essen, du siehst, daß deine Eltern nicht vorankommen, nur Schläge einstecken, müde werden, irgendwann aufgeben. Und da wirst du auch pessimistisch, machst dir keine Hoffnungen mehr“, meint Maria. Ihre Schwester, vierzehn, inzwischen mit einem Baby, von wem, weiß sie nicht, winkt ab: „Da wurde ein Berufskurs gratis angeboten – doch ich hatte das Geld für den Bus nicht, mußte dorthin über eine Stunde laufen, bei Hitze. Mittendrin bin ich vor Erschöpfung ohnmächtig geworden, hatte ja nichts im Bauch. Ich habe so geheult deswegen, das wäre eine Chance gewesen – aber ich habe aufgegeben.“ So viele Barrieren, die lethargisch, ja apathisch machen. „Wie soll ich denn mein Leben verbessern, hier rauskommen, wenn ich nicht mal den Bus bezahlen kann, um irgendwo dort, wo es vielleicht Arbeit oder Kurse gibt, nachzufragen?“ Marias Eltern sind Analphabeten, ihre in einer Favela in Recife lebenden Geschwister Halbanalphabeten, kaum zu begrifflichem, abstraktem Denken fähig, überfordert mit simplen Gebrauchsanweisungen, Einnahmevorschriften auf Medikamenten, gar Verhütungsmitteln. Sie könnten mit anderen Favelados rebellieren, zu den Vierteln der Reichen, zum Gouverneurspalast ziehen, auf ihre Rechte pochen, damit sich etwas verbessert, damit die perverse Einkommensverteilung aufhört – Brasilien ist schließlich ein reiches Land unter den fünfzehn führenden Wirtschaftsnationen. „Wenn du Hunger hast, fühlst du dich schwach, fehlt dir der Antrieb, aus der Hütte zu gehen – wegen Hunger und Elend protestiert hier in Brasilien keiner“, meint ein Jugendfreund Marias, der einst mit ihr einen kleinen Analphabetisierungskurs aufzog, als „Roter“ verschrien war und vom eigenen Vater deshalb immer wieder geschlagen wurde. Maria wurde aus demselben Grund von der eigenen Mutter, einer fanatischen Sektenanhängerin, in der Lehmhütte blutig geschlagen, sie riß ihr dabei sämtliche Kleider vom Leibe.

   „Die hier in der Favela denken nicht politisch – Wut oder Haß auf die Reichen, die schuld sind an der Misere, das kennen die Favelados nicht. Sie denken, das sei normal so, sei immer schon so gewesen“, sagt Marias Jugendfreund. Die Politiker, die Reichen, das Fernsehen vermittelten den Verelendeten nur, daß sie es nicht schaffen, nie weiterkommen im Leben, nie aufsteigen. Zukunft, das sei was für die in den besseren Vierteln der Strandzone, wo viele Favelamädchen als Hausdienerinnen schuften – täglich, außer sonnabends, von sechs Uhr früh bis in die Nacht, für umgerechnet etwa fünfundzwanzig Euro monatlich.

   Politisch denken viele Favelados durchaus, nur wie? Marcia Soares unterrichtet Kinder und Erwachsene und macht ebenfalls die Erfahrung, daß Favelabewohner nur in Ansätzen zu abstraktem Denken fähig sind, kaum verstehen und durchschauen, was in ihrem Lebensumfeld wirklich geschieht. Zu ihrer Überraschung muß sie sich mit reaktionären, ja archaischen Wertvorstellungen und Denkmustern auseinandersetzen, die sie gerade bei den Verelendeten am wenigsten erwartet hatte. Favelados seien fast ausnahmslos rechts, nicht progressiv orientiert. Brasilianische Soziologen haben sich auf ähnliche Weise von bestimmten sozialromantischen Vorstellungen getrennt. Selbst ein Polizeimassaker an offiziell 111 Häftlingen in São Paulo wird bejaht: „Das war richtig, die da drinnen kosten nur Steuergelder, die müssen alle umgelegt werden.“ Die heutige brasilianische Gesellschaft nennt Marcia Soares „superindividualistisch“. Schüler bieten auch ihr immer wieder Raubgut an, mal einen Fernseher, mal einen Mikrowellenherd.

   Lernen in einer Favelahütte, geht denn das? Neun, zwölf und mehr Personen leben und schlafen in einem einzigen Raum – unmöglich, ungestört Hausaufgaben zu erledigen. Jüngere Geschwister bekritzeln, zerreißen immer wieder Hefte und Bücher. Das familiäre Chaos erschwert, daß die Kinder lernen, ihren schulischen Alltag zu überschauen und zu organisieren. Fehl- und Unterernährung in den ersten Lebensjahren bewirken bei vielen zudem irreparable Lern- und Konzentrationsschwierigkeiten. Kinder, denen zuhause kaum Grenzen gesetzt werden, sind auch im Unterricht schwer zu bändigen, fehlen sehr häufig. Wenn sich rivalisierende Banditenmilizen bekämpfen, rückt gar die Polizei an, dann rennen selbst dann alle ans Fenster, wenn das Geräusch draußen kein Schuß war. Schülern fordern bisweilen mit vorgehaltener Waffe die Versetzung.

 

Machos und Sex

 

Joao Ricardo Dornelles, Soziologe an der Katholischen Universität Rio de Janeiro, bezeichnet den in den menschlichen Beziehungen der brasilianischen Gesellschaft tiefverwurzelten Autoritarismus als wichtige Ursache, gar als den Hauptgrund für die hohe Gewaltrate. Favela-Machos sind besonders rücksichtslos. In Recifes Elendsvierteln gehören die Hütten und Pfahlbauten meist nicht ihnen, sondern den Müttern – sie sind das Oberhaupt der Familien. In häufigem Wechsel, Rotativa masculina, ziehen Männer ein, zeugen ein bis zwei Kinder und gehen dann mit verblüffender Leichtigkeit direkt zur nächsten Partnerin. So haben die Mütter ihre fünf, acht oder mehr Sprößlinge häufig jeweils von einem anderen Mann – und das nicht nur in Recife. Die dort tätige angesehene Anthropologin Fatima Quintas nennt diese Machos hochgradig verantwortungslos, ohne familiäre Ethik: „Das Leben in absoluter Misere macht hoffnungslos und nihilistisch, der Machismus wird hingenommen, als wäre er gottgegeben. Der Mann wird sogar idealisiert – er ist oberste Autorität und intelligenter, er baut die Hütte oder die Backsteinkate, er macht ein Kind, wenn er will, die Welt ist eben so eingerichtet.“ Recifes Favelafrauen, sagt Fatima Quintas, haben eine sehr aktive Sexualität, über 70 Prozent erleben sie jedoch, so unglaublich es auch scheint, ohne Lustempfinden und Orgasmus – der werde nur beim häufigen Masturbieren erreicht. Sie nennt den Hauptgrund: „Menschen dieses Miserestadiums haben kein Liebesspiel, kein Spiel der Verführung, alles geschieht sehr direkt, als mechanischer Akt. Der Mann kommt müde und oft sehr schmutzig in die Behausung, benutzt die passive Frau sexuell, dreht sich um und schläft wie sie.“ Promiskuität und auch der häufige Inzest können nicht geheimgehalten werden. Daß Töchter mit den Stiefvätern schlafen, ist geradezu häufig. „Sex vor anderen wird akzeptiert, ist kein Problem, es geht ja gar nicht anders.“ Elvira aus einer Favela in Belem: „Ich habe allen meinen elf Geschwistern beim Ficken zugesehen, im Bett, in der Hängematte, auch meinen Eltern. Als ich noch klein war, bin ich manchmal richtig nahe rangegangen, weil ich das interessant fand, wie der Schwanz vom Freund meiner Schwester zwischen ihre Lippen fährt, wie sie dabei stöhnt.“ Als sich eine ältere Schwester von ihrem parasitär „faulen“ Macho, mit dem sie mehrere Kinder hat, trennt, läßt sich auf der Stelle die fünfzehnjährige Schwester von ihm schwängern.

   Wie empfindet Elvira ihr eigenes Sexualleben? „Die Männer vögeln doch alle viel zu schnell, so daß es oft sogar wehtut – sie sind selten mal zärtlich,äHängematt vögeln eigentlich für sich alleine. Wenn ich sage, mach langsamer, sagen sie, du weißt nicht, was gut und richtig ist. Die Schwarzen halten sich für die Größten, sind aber noch schneller, noch gröber mit uns. Aber einem Macho sagen, daß er schlecht fickt, nein, das geht nicht in Brasilien. Die kopieren doch alle, was sie in den Pornofilmen sehen, deshalb fehlt immer Gefühl. Man müßte auch die Prostituierten abschaffen – wegen denen sind doch die Männer ans Ficken ohne Zärtlichkeit gewöhnt. Und weil die Machos auch noch so oft fremdgehen, sogar mit Männern, stecken sie uns mit Geschlechtskrankheiten an, mit Aids und dem ganzen Zeugs. Es gibt welche, die schwängern gleich drei Frauen zur selben Zeit.“

   Mehr Kinder als andere Männer zu machen, so eine Soziologin drastisch, ist für viele Machos ein Wettbewerb. Ebenfalls sehr kinderreiche Zweit- und Drittfamilien bedeuten Prestigezuwachs. Viele Machos verbieten ihren Frauen, Verhütungsmittel zu nehmen – viele Frauen niedriger Bildung sind zudem schlichtweg unfähig, effizient zu verhüten, verhalten sich bewußt fahrlässig. „Ich bin schwanger, weil Gott das so wollte.“ Natürlich gehört auch in Drittweltländern wie Brasilien das Thema Machismus zu den fast durchweg tabuisierten Seiten der Unterentwicklung.

Die Parallelwelt der Favelas ist außergewöhnlich sexualisiert – Mädchen und junge Frauen geben sich häufig unerhört aufreizend, weit über der Landesnorm, auch auf den Massendiscos Baile Funk. Gelegentlich greifen sie selber zu Revolver und Mpi. Manche weibliche Drogendealer verkauften nur denen Kokain, Heroin, Haschisch, die auch mit ihnen schliefen – es sind Fälle bekannt, bei denen Banditinnen Männer mit der Waffe zum Geschlechtsverkehr zwangen, das ganze Wochenende über. Erwachsene Frauen initiieren gelegentlich  die Jungen einer ganzen Favela sexuell, beinahe so ähnlich,wie man es von manchen brasilianischen Stämmen kennt. Eine erfahrene Indianerin bringt den in die Pubertät gekommenen Jungen bei, wie man mit einer Frau richtig schläft, was sie mag, wie das geht. Die Indianerin praktiziert es mit jedem, die anderen schauen ganz genau zu – schließlich eine hochwichtige Sache fürs Leben.

Favela-Mädchen, die sich in Banditen verlieben, riskieren viel. Perverse Logik mancher Milizen:“Weil sie mit einer gepennt hat, muß sie auch alle anderen ranlassen – oder wir greifen sie uns mit Gewalt.“ Selbst der Verbrecherslang ist völlig sexualisiert – für Rauben und Morden werden dieselben drastischen Begriffe wie für den Sexualakt verwendet. Die dreizehnjährige Dayane da Silva de Oliveira aus Rios Riesenfavela Complexo da Mare begeht den Fehler, sich in einen Banditen der Nachbarfavela Vila dos Pinheiros zu verlieben, mit ihm zu schlafen. Sowas ist laut Gangsterkodex streng verboten, eine Provokation, da beide Slums von rivalisierenden Milizen beherrscht werden. Kurz vor Weihnachten 2003 treten an die zehn bewaffnete Männer des Terceiro Comando Puro  vom Complexo da Mare  am hellerlichten Tage bei Dayane die Katentür ein, entreißen sie ihrem Vater, prügeln das Mädchen auf die belebte Straße, ziehen es völlig nackt aus, treiben es so vor sich her, durch die ganze Favela. Dann wird Dayane an einen Pfahl gefesselt, sadistisch gefoltert, schließlich mit mindestens zehn Schüssen getötet. Ungezählte sehen zwangsläufig zu, sollen zusehen – zur Abschreckung.  Ein Arzt stellt später Risse der Lunge, des Herzens, der Niere fest, der Kopf völlig zerschmettert. Irgendein öffentlicher Aufschrei, gar schier nicht enden wollende öffentliche Entrüstung wie wegen der zeitgleich von sämtlichen Landesmedien breit und wochenlang kommentierten Ermordung einer  blutjungen hellhäutigen Mittelschichtsfrau  aus Sao Paulo, ihres Freundes durch eine Bande?  Wieder nichts dergleichen. Wo sind denn jetzt all die Soziologen, Verteidiger der Menschenrechte, Gouverneure, Jugendschützer,  TV-Moderatoren, die sich über den Fall der Mittelschichtsfrau so unendlich erregten, fragen Bewohner Rios. 

   In Brasiliens Schwarzen-Stadt Salvador da Bahia, sie ist von riesigen Favelas übersät, lehrt der Anthropologe Roberto Albergaria an der Universität. Er ist Machismus-Experte: „Mann sein heißt, die Frauen der eigenen Familie, die eigenen Geliebten maximal zu kontrollieren – und zugleich maximalen sexuellen Zugang zu den Frauen der anderen zu haben, mit der größtmöglichsten Zahl zu vögeln – ob Mutter, Gattin, Tochter – und viele Kinder zu machen. Das ist die Logik des brasilianischen Machismo – sie ist besonders in der Unterschicht, also der Bevölkerungsmehrheit, anzutreffen.“ Doppelmoral, Ambivalenz gelte auch für Frauen: „Alle behaupten natürlich, nur einen guten, verläßlichen, treuen, verantwortungsvollen Mann als Lebenspartner zu wollen – tatsächlich aber bevorzugen sie  bad boys,  Hengste, starke, ungestüme Machos, die verführen  – und verlassen.“ Er könne ruhig fremdgehen, das werde verziehen – solange sie die Hauptfrau bleibe.

   Joyce lebt in einer Favela in Rio. Mit dreizehn war sie schwanger – die Großmutter füllte sie mit Haschisch-Tee, mit heißem Zuckerrohrschnaps voll, um eine Abtreibung zu provozieren – vergeblich. Der Vater schlug sie, trat ihr wenigstens nicht, wie oftmals in den Favelas üblich, in den Bauch – mit der gleichen Absicht wie die Großmutter. „Als der Kopf unten rauskam, tat das so weh, daß ich aus dem Bett gesprungen bin. Da hat mich meine Mutter verprügelt.“

 

Die Elendsviertel wachsen immer rascher

 

Alle acht Tage eine neue Favela in São Paulo – landesweit explodieren die Favelas regelrecht. „Da sieht mans doch – wir kommen hier nie raus, hocken nur immer enger aufeinander. Das ändert sich nie“, höre ich immer wieder.  Viele hoffen und träumen davon, daß es vielleicht den Kindern besser geht – aber dafür aktiv werden, etwa eine bessere Schule für sie suchen? Man wartet fatalistisch ab, daß die „oben“, die Kirche oder sonstwer, etwas anbieten.

 

„Sozialprojektchen“

 

Eine Favelada hat schon drei Kinder, will sich endlich sterilisieren lassen, Verhütungsmittel sind zu teuer. Sie rennt monatelang von Hospital zu Hospital, auch zu kleinen Gesundheitsdiensten, Ambulanzen, aus Angst, erneut schwanger zu werden – aber alle machen es nur gegen Geld. Jetzt bekommt sie das vierte – und weiß, daß damit Essen, Kleidung für alle noch knapper werden. Das desillusioniert, frustriert noch mehr. Bohnen und Reis, Reis und Bohnen. Helfen sich wenigstens die Ärmsten gegenseitig, damit das Leben in der Favela erträglicher wird? Nutzen sie die wenigen Zukunftschancen? „Alle schön gemeinsam, schön solidarisch – so ist das leider nicht oder nur ganz, ganz selten“, sagen viele in den Favelas von Rio, São Paulo oder Belem an der Amazonasmündung. „Cada um por si“ – jeder für sich, lautet die immer wiederholte Verhaltensregel. „Jeder hat so wenig“, meint eine Frau an Fortalezas Peripherie, „und soviel Angst, das bißchen auch noch an die zu verlieren, die gar nichts haben. Da sind die Leute eben egoistisch. Von Solidarität wird nur immer viel geredet – aber die gibts kaum, jeder muß für sich alleine zurechtkommen.“  Egal, wer grade an der Regierung ist, das ist ihre Erfahrung, „a coisa nao melhora“, nichts bessert sich.

   Doch, manches schon. Weil es in den meisten öffentlichen Schulen Essen gratis gibt, gehen mehr Kinder gerne dorthin, lernen wenigstens etwas. Die Regierung hat magere Hilfsprogramme gestartet, Lebensmittel werden verteilt, manche  Familien erhalten sogar monatlich etwas Geld. Lediglich ein Almosen, das nichts an der Misere ändert, sagen die Kritiker, Arbeitsplätze müßten her. Arnaldo Jabor, Cineast und bekanntester Kolumnist Brasiliens, spricht von „Sozialprojektchen“ nennt sie lächerlich. Die Städte würden von den Favelas geschluckt. „Eine Lösung? Vorbei …“

   Europäer verstehen kaum, daß  Favelados dennoch oft so fröhlich wirken, so viel lachen –  viel mehr etwa als Deutsche, Schweizer in ihrem Wohlstand.  „Wir sind in der Lage, über unser eigenes Unglück zu lachen, darüber groteske Witze zu reißen. Schwarzer Humor, schwärzer gehts nicht“, kommentiert ein Mann, „das ist eine Art Ventil, um damit fertigzuwerden. Wahrscheinlich ist das bei euch anders.“

In europäischen Städten gibt es Bars, Restaurants, Diskotheken mit Namen wie „Favela chic“ – derzeit der Renner. Etwas clever dekorierter Müll, dazu Mulattinnenposter, auch in Paris findet man das hochexotisch. Kein Hinweis auf die Realität. „Brasiliens Armseligkeit verkauft sich gut in Europa“, kommentiert Rios große Tageszeitung O Globo.

Brasilien – Mythen, Klischees und Fakten(2014) **

Brasilien ist die siebtgrößte Wirtschaftsnation, rund 24-mal größer als Deutschland, geprägt von teils unglaublichen soziokulturellen Kontrasten. Gut möglich, daß jemand nach einigen Tagen Rio sagt, nie zuvor so ein fröhliches, lebenslustiges, feier-und tanzfreudiges Volk gesehen zu haben, von Brasiliens Schokoladenseiten, ob Gastronomie oder Naturstrände, entzückt ist. „As aparencias enganam“, der Schein trügt, hört man hier häufig. Denn je nach persönlichen Wertvorstellungen und Wahrnehmungsfähigkeit stellt sich nahezu alles ganz anders dar, wenn man Jahre, Jahrzehnte  den Alltag intensiv erlebt. Wohl kein anderes Land ist so absurd mit Klischees behaftet,  kultivieren zudem die Bewohner über den Nationalcharakter mancherlei Mythen. Sich davon verabschieden zu müssen, kann schmerzhaft sein. Rio – auch eine Stadt der Scheiterhaufen, systematischer Folter und Todesschwadronen? Die berühmte Karnevalsparade ist gar kein Karneval, der dort getrommelte Rhythmus kein Samba? Und weiterhin überall Militärpolizei – Relikt der Militärdiktatur.

Deutschland belegt  auf dem aktuellen UNO-Index für menschliche Entwicklung den fünften Rang –  doch Brasilien, gelegentlich als kommende Großmacht, Global Player bezeichnet,  folgt weit abgeschlagen erst auf Platz 85, hinter Peru, der Ukraine, gar Albanien und Kasachstan, Libyen und Kuba. Im Supermarkt kosten viele Basisartikel mehr als in Mitteleuropa, doch in Rio de Janeiro und sogar in Lateinamerikas reichster Großstadt Sao Paulo liegt das Durchschnittseinkommen selbst laut amtlichen Zahlen nur bei umgerechnet rund 500 Euro, Billigstlöhne allerorten. Nach wie vor sind die Einkommensunterschiede immens, genießen nur wenige Prozent einen europäischen Sozialstandard, sieht man täglich Brasilianer in extremer Misere, todkrank, auf den Straßen. Die Regierung rühmt sich, viele Millionen aus Armut und Elend befreit, in die Mittelschicht katapultiert zu haben, zu der inzwischen über die Hälfte der Brasilianer gehöre. Doch amtliche Daten sind gewöhnlich arg geschönt, frisiert – wer monatlich um die 20, 25 Euro verdient, gilt offiziell allen Ernstes  nicht mehr als arm. Mit einem Pro-Kopf-Familieneinkommen von etwa 100 Euro ist man gemäß den Bemessungsgrenzen gar  schon Mittelschicht. Da wundert nicht, daß gemäß solcher verqueren Logik ein beträchtlicher Teil der „Classe media“ in den rasch wachsenden Slums haust,  viele jener neuen “Mittelschichtler”  gar Analphabeten sind, über die Hälfte nur wenige Jahre in der Grundschule war, mit dem bekannt niedrigen Niveau. Brasiliens Intellektuelle, darunter nicht wenige Architekten,  analysieren solche Regierungspropaganda täglich in den Qualitätsmedien mit Hohn und Spott, haben eine viel kritischere Sicht des Tropenlandes als ihre mitteleuropäischen Kollegen.

Brasilien erlebte die letzten Jahre keineswegs einen Wirtschaftsboom, leidet unter Deindustrialisierung, absackender internationaler Wettbewerbsfähigkeit,  geringer Effizienz. In der Schlange vor  der Schnellkasse des Supermarkts verbringt man leicht 30, 40 Minuten, an den Nahverkehrshaltestellen fehlen Abfahrtszeiten. Die Kultur der Langsamkeit und Unpünktlichkeit hat dramatische Konsequenzen. Brasiliens Produktivität ist niedrig, erreicht nur etwa ein Drittel der entwickelten Länder – ein US-Arbeiter stellt soviel her wie fünf brasilianische.  Inseln, Enklaven sind da  hochmoderne multinationale Unternehmen aus den USA und Europa, die von hier aus für die Welt produzieren.

Zum Bild vom Global Player paßt zudem  schwerlich, daß Brasilien zu den bürokratischsten Staaten zählt, auch deshalb der  Anteil am Welthandel nur bei  etwa einem Prozent liegt, am Welt-Kulturexport gar nur  bei 0,2 Prozent. Gravierendes Entwicklungshindernis ist zudem  die Infrastruktur, schlechter als in manchen afrikanischen Staaten. 2013 wurde in Sao Paulo ein Rekord-Stau von 763 Kilometern registriert, in Rio von über 455 Kilometern. Dies bedeutet, daß auch Vertreter hochqualifizierter Berufsgruppen, darunter Ärzte, etwa in Sao Paulo spätestens sechs Uhr ins Auto steigen müssen, um noch vor den grauenhaften, unberechenbaren Morgen-Staus in Praxis oder Klinik zu sein,  viel zu früh. Metro und S-Bahn sind nur rudimentär, zwischen den beiden Wirtschaftsmetropolen existiert  nicht einmal Zugverkehr. Den hat man abgeschafft, wie anderswo im Lande auch, und auf viel langsamere, dazu stauabhängige Busse umgestellt. Radwegenetze wie in Europa gibt es nicht.

Das heutige Brasilien wird 1500 von den Portugiesen entdeckt. Sie treffen auf Indianerstämme, die sich heftig bekriegen, gegenseitig versklaven, in Jagd und Handel von Menschen geübt sind.  Das Kolonialreich importiert  an die vier Millionen Sklaven aus Afrika,  das Geschäft ist für  für die dortigen Könige extrem lukrativ. Bedeutende, schwerreiche brasilianische Händler der Menschenware sind ebenfalls  Schwarze.  Jahrzehnte vor der offiziellen Sklaverei-Abschaffung von 1888 – die Unabhängigkeit wurde bereits 1822 erklärt –  kommt es zu einem bezeichnenden Phänomen: Manche humaner gesinnten weißen Sklavenhalter geben Schwarzen die Freiheit, nicht wenigen Afrikanern gelingt es, sich freizukaufen. Kamen diese zu Geld, erwerben sie damit auf den Menschenmärkten Rio de Janeiros oder Bahias Afrikaner, werden selber Sklavenhalter, handeln mit ihren eigenen Brüdern. Archaische Gesellschaften auf beiden Seiten des Atlantik sind durch bestimmte Wertvorstellungen verbunden, die längst nicht ausstarben. Indianerstämme sind heute meist akkulturiert, doch weiter verfeindet – Sklaverei, die verbreitete Sklavenarbeit ist in Brasilien nach wie vor ein Dauerthema. Im größten katholischen Land spricht auch die Kirche von tiefverwurzelter kolonialistischer Sklavenhaltermentalität, weist auf die kraß ungerechte Einkommensverteilung, verdeckte Apartheid, die soziale Zusammensetzung der Slums. Dort hausen meist Sklavennachfahren, die Indianer-oder Schwarzenmischlinge, leichte Beute für Wunderheilersekten. In Rios gänzlich untouristischer Rua Camerino nahe dem Hafen erinnert keine Tafel, kein Denkmal daran, daß sich hier Brasiliens größter, entsetzlichster Menschenmarkt befand, in einer der bedeutendsten Sklavenhalterstädte der Weltgeschichte.

Selbst  in den besseren Vierteln am Zuckerhut, in mehrere tausend Kilometer entfernten Städten und Dörfern sind  Straßen von übermannshohen Stahlgitterzäunen gesäumt, von auffällig viel NATO-Stacheldraht  vor Häusern und Appartementblocks. Will man jemanden besuchen, ähnelt das Procedere dem europäischer Militärobjekte, wird man von  Wachleuten überprüft. Die Krone sind Privilegiertenghettos, große geschlossene Wohnanlagen,  mit denen sich inzwischen auch weniger Betuchte immer perfekter gegen Misere und ausufernde Kriminalität abschotten.  Bei gepanzerten PKW ist Brasilien Weltspitze. In keinem Land der Erde wird mehr gemordet, trifft es über 50000 jährlich. Schon in Sichtweite glitzernder Hightech-Geschäftshäuser sind neofeudale Banditenmilizen, die Maschinenpistolen der NATO-Armeen tragen, häufig unumschränkte Herrscher der Favelas, terrorisieren Bewohner, verhängen Ausgangssperren, paralysieren Protestpotential – manche minderjährige Kindersoldaten killten bis zu vierzig Menschen. Man lebt in Brasilien unter permanenter physischer Bedrohung, in einem Klima des Mißtrauens. Das hat negative Konsequenzen für die Sozialbeziehungen, auch für Liebe, Sex und Erotik. Streß und Depression sind Massenleiden, Psychopharmaka werden mehr konsumiert als in Mitteleuropa, man bemerkt auffällig viel Pflicht-und Scheinfröhlichkeit.  Auch die Feierlaune leidet – am Karneval beteiligt sich nur eine Minderheit. Denn wegen fehlender öffentlicher Sicherheit ist nicht nur der größte Teil der Städte, sondern des gesamten Landes No-Go-Area. Einfach mal so, wie von zuhause gewohnt, im Wald spazieren zu gehen, ist unmöglich. Von Favela-Besuchen wird dringend abgeraten, lautet die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes – ein beträchtlicher Teil sehr komplexer brasilianischer Realität bleibt den allermeisten Ausländern daher verborgen.

Längst spricht man in den USA und Europa von Brasilianisierung, wenn es um gesellschaftliche Wandlungsprozesse hin zu mehr Ungleichheit, prekären Lebensverhältnissen, sozialer Unübersichtlichkeit geht. Brasiliens Eliten mochten ihr Land noch nie, fühlten sich in Paris, New York, London oder Zürich stets viel mehr zuhause, gehen daher mit diesem Riesenstaat und seinen rund 200 Millionen Bewohnern nicht eben pfleglich um, agieren wie Fremde im eigenen Land, schaffen nichts Solides, das überdauern soll. Unfertiges, groteske Provisorien, Naturvernichtung allerorten. Beim Vergleichen mit lateinamerikanischen Nachbarn wie Argentinien, Uruguay oder Chile, die auf Weltrankings viel besser abschneiden, fällt dies sofort auf. Allein die  Hauptstadt Brasilia – unfunktional,  unpraktisch, fehlkonstruiert – in wenigen Jahren unter Aufsicht von Oscar Niemeyer hochgezogen. Das Massaker an Bauarbeitern, die damaligen inhumanen Arbeitsbedingungen bleiben gewöhnlich auch in Mitteleuropa unerwähnt. Für die meisten Brasilianer sind der  Regierungssitz,  der Nationalkongreß mit seinen vielen Millionären heute Symbole für Korruption und Nepotismus, die Skandalserie um gigantische Mittelabzweigungen und Machtmißbrauch reißt nicht ab. Weil auch deshalb selbst die Qualität des Bildungs-und Gesundheitswesens für ein Land dieser wirtschaftlichen Möglichkeiten so absurd niedrig ist, protestieren immer mehr Staatsbürger auf den Straßen, lassen aufgestaute Wut ab. Brasilien hat die weltweit größte Lepra-Dichte, die Aids-Epidemie ist längst nicht unter Kontrolle, die Behindertenrate etwa zwanzigmal höher als  in Deutschland.

Die kosmopolitische Einwanderernation hat 26 Teilstaaten, frappierend unterschiedlich. Beliebteste nationale Tourismusdestination ist just der relativ kleine südliche Teilstaat Santa Catarina, mit der höchsten Lebensqualität, den niedrigsten Kriminalitätsraten, unübersehbar  geprägt durch deutsche Einwanderer, weit überdurchschnittlich stark in Industrie und Landwirtschaft. Das Oktoberfest der Catarinenser wurde nach dem Karneval zum zweitpopulärsten  Volksfest des Landes, selbst Amazonas-Indios vergnügen sich dort. Zwei weitere Einwanderergruppen, Japaner und Juden, haben trotz relativ geringer Kopfzahl im wirtschaftlichen und kulturellen Leben des Landes eine erstaunliche Position erreicht, müssen indessen viele Vorurteile ertragen. 1985 endete nach 21 Jahren das nazistisch-antisemitisch orientierte Militärregime, doch von Vergangenheitsbewältigung, gar Bestrafung der Diktaturverbrecher kann keine Rede sein. So ist Brasilien heute nur formell eine Demokratie, ein Rechtsstaat – wann er funktionieren wird wie in der Verfassung skizziert, ist völlig offen.

Wie Brasiliens Kulturszene auf die Attentate vom 9.11.2001 reagiert: Verurteilung der Anschläge, rasche öffentliche Reaktionen von Schriftstellern, Künstlern, doch weit weniger Entsetzen als in Europa und den USA – angesichts des von  Terror und Gewalt geprägten Alltags/ Kritik an den USA

Brasiliens Kunst-und Kulturszene hat quasi sofort auf die Attentate vom elften September reagiert – schon rein optisch für jedermann wahrnehmbar. Die auch in Mexiko so populären Wandmaler machten sich in den Zentren der Großstädte gleich mit Pinsel und Farben ans Werk. Mitten in der 17-Millionen-Stadt Sao Paulo beispielsweise, Kulturhauptstadt Brasiliens, Wirtschaftslokomotive ganz Lateinamerikas, fluten die Menschenmassen täglich an Riesenporträts von George Bush und Osama bin Laden vorbei – dazwischen die brennenden Türme des World Trade Center. Anders als in Deutschland haben hier die besten, angesehensten Dichter, Theater-und Filmemacher ihre täglichen oder wöchentlichen Kolumnen in den Zeitungen – begannen unverzüglich mit profunder Reflexion: Warum reagieren wir Latinos, wir Brasilianer eigentlich jetzt so anders als die Leute in der Ersten Welt, ob in den USA oder in Europa, nehmen wir die Ereignisse weit gelassener, weit unaufgeregter hin? Wer aus Deutschland zurückkehrte, berichtete verwundert, daß viele Leute dort tatsächlich jetzt von Ängsten und Unsicherheit geplagt seien, sich vor neuartigen Waffen, Bioterrorismus fürchteten.  Auf Paulo Coelhos Position, weltweit meistverlegter Autor des Tropenlandes, auch in Deutschland auf der Bestsellerliste, dazu hier in Brasilien ein Starkolumnist, war man besonders neugierig. Er meldete sich von einer Lesereise aus München: „Das Klima  ist sehr gespannt, Mißtrauen regiert. Am Tag der Attentate signierte ich grade Bücher – an die 600 kamen, alle schockiert, wortlos, still.“ Doch die Antwort des Weißen Hauses gefällt ihm nicht. Leider seien  die USA jetzt nicht auf Recht, sondern Rache aus. Paulo Coelho wörtlich:“Was jetzt in Afghanistan geschieht, ist Terror – wer leidet, ist die unschuldige Bevölkerung. Die stärkste Macht der Erde bombardiert ein Land, das sich noch in der Steinzeit befindet.“ Eine Position, die laut Meinungsumfragen von weit über der Hälfte der Brasilianer geteilt wird. Bedenklich indessen, wenn ein nordamerikanischer Rock-Gitarrist auf seiner Brasilien-Tournee vom Publikum ausgepfiffen, mit Bin-Laden-Rufen unterbrochen wird, weil er die Nationalhymne seines Landes spielt – oder in Rio de Janeiro der Dichter Chacal in einem Kulturzentrum vor Studenten Osama bin Laden ironisch in Versen würdigt, dafür starken Beifall bekommt.  Grund genug für das angesehene Jornal do Brasil, Chacal und seinem Hauptkritiker, dem jüdischen Regisseur und Stückeschreiber Gerald Thomas  eine ganze erste Feuilletonseite zu widmen. „Als ich die Türme einstürzen sah, war ich triste und glücklich zugleich. Ästhetisch gesehen, eine fabelhafte Show.“, erklärt allen Ernstes Chacal  –  starker Tobak, der Gipfel für Gerald Thomas, der bereits in Weimar, Mainz und anderen deutschen Städten inszenierte,  jetzt Chacal gleich auf einer halben Seite scharf attackiert:“Willst du das Mittelalter zurück, Chacal? Meinst du, deine Poesie hätte dann noch die geringste Chance? Man hätte dich längst enthauptet. Du und die Homosexuellen, ihr seid die ersten. Dann der Rest – die Juden, die Christen, die Hare Krishnas, die Buddhisten and so on.“ Der deutsche Komponist Stockhausen, erinnert Gerald Thomas, habe ähnlich wie Chacal dahergeredet, sich aber wenigstens berichtigt. Solche Polemik, so stark, so emotional, so direkt und aus dem Bauch heraus, ist typisch für den Debattenstil in der brasilianischen Kulturszene, im seriösen Feuilleton – der Theatermacher nennt den Dichter zudem einen Verdränger, einen Nazi.“Deine Ignoranz erschreckt mich!“  Gerald Thomas, 47, vielbeschäftigt auch in den USA, pendelt jetzt ständig zwischen New York und Rio, probt in einem Copacabana-Theater an einem Stück, das sich direkt auf die Attentate bezieht. Doch auch Gerald Thomas, dessen Anwalt bei den Attentaten umkam, kritisiert die Militärschläge gegen Afghanistan, nicht anders wie die Kirche im größten katholischen Land der Erde. „Ich kann mir keinen sensiblen Künstler vorstellen, der ignoriert, was passiert ist. Am leichtesten hat mans auf dem Theater, weil man ein Stück am Morgen noch abändern kann, das abends gezeigt wird“, sagt er. Zwei Theaterkollegen sind so verfahren, haben ihre Stücke umgebaut, interpretieren Extremismus, Fundamentalismus, Hauptfiguren ähneln nun Bin Laden oder dem Führer der Taliban.

Sind wir Brasilianer in der Tat ziemlich antiamerikanisch eingestellt – oder lediglich ganz normal kritisch gegenüber der Führungsmacht im Norden – lautet ein anderer Diskussionspunkt in der Kulturszene. Denn unvergessen ist, daß die USA den  Militärputsch von 1964 kräftig unterstützten, wie den von Pinochet in Chile – das Verhältnis vieler Brasilianer zu den USA tatsächlich sehr zwiespältig ist, zwischen Bewunderung und Ablehnung schwankt, wie in diesen Tagen. Und man den Amerikanern in diesen Tagen zudem eine gewisse Weltfremdheit, Naivität unterstellt. Wir hier im Brasilien der Dritten Welt, heißt es,  sind mit einem Alltag voller Grausamkeiten, Wunden und Schmerzen vertraut, der ihnen völlig unbekannt, unvorstellbar ist. Ich wohne tausende Kilometer vom zusammengestürzten World Trade Center, aber nur zwei Kilometer von Rios Straßentunnel Reboucas entfernt, reflektiert Carlos Heitor Cony, hier ein Bestsellerautor, empört sich über  den alltäglichen Terror der schwerbewaffneten Milizen des organisierten Verbrechens, liiert mit der Politik, vor allem gegen die wehrlose Bevölkerung der Slums. Er lebt mit der Tatsache, daß in seiner Stadt jährlich weit über zehntausend Menschen in einem nichterklärten Krieg, Bürgerkrieg umkommen, weit mehr als in den Konflikten von Ex-Jugoslawien, Israel und den Palästinensergebieten, Afghanistan. Kümmert das jemanden in der Ersten Welt, macht diese Art Terror dort Schlagzeilen? Stattdessen Indifferenz – Rio steht immer noch vor allem für Traumstrände, Karneval, Samba und wunderschöne Frauen. Afghanistan ist doch auch hier, schaut mal in die Elendsviertel, wir haben auch unsere Osama bin Ladens, unsere Terroristenbasen, unsere Extremisten, hochbewaffnet und ohne Angst davor, zu sterben, noch unentdeckt vom FBI – argumentieren nicht wenige Künstler und Literaten. Auch die Taliban leben vom Rauschgiftgeschäft, sind Teil der internationalen Drogenmafia – so wie unsere Gangstermilizen, die Millionen von Slumbewohnern terrorisieren.(9.28)

Brasilien bewirbt sich mit Musikfilm „2 Filhos de Francisco“ um den Oscar als besten ausländischen Streifen/ intelligente Wahl gegen unausrottbare Brasilienklischees

Brasilien will in Hollywood mit einem Musikfilm den Oscar für den besten ausländischen Streifen erobern.  So haben jetzt das brasilianische Kulturministerium und eine Expertenjury ganz überraschend entschieden. Denn der Film namens „ Zwei Söhne von Francisco“ ist eine Provokation, weil er auf intelligente Weise gleich mit einer ganzen Reihe von Brasilienklischees aufräumt und auch in Deutschland beinahe unbekannte Seiten der brasilianischen Kultur und Mentalität zeigt. Der Film läuft derzeit in den brasilianischen Kinos und ist die mit Abstand erfolgreichste nationale Produktion des Jahres, geradezu ein Renner.

Ein Musikfilm aus Brasilien, der im Ausland ankommen soll und gar Oscar-Chancen hat, kann eigentlich nur von Samba, Bossa Nova, Karneval handeln. Also viel Rio de Janeiro, Zuckerhut und Traumstrände, heißblütige Tänzer und Trommler, viel nackte dunkle Haut, ein Blendfeuerwerk tropischer Exotik, vielleicht mit einer hübschen Liebesgeschichte verwoben.  Doch dieser neue Streifen namens „2 Filhos de Francisco“, hat nichts davon und könnte manche deutschen Kinobesucher regelrecht erschrecken. Das soll Brasilien sein? Statt feuriger mitreißender Rhythmen nur Klänge dieser Art:

Musik 1: Filmmusik von Zezè di Camargo e Luciano, anspielen, unterlegen

Das ist ein typisches Falsett-Duo des brasilianischen Hinterlands, annähernd so groß wie Europa. Die beiden Brüder Zezè di Camargo und Luciano mit Sertaneja-Musik. Die reicht von der schlichten Gitarrenballade der Viehtreiber nachts am Feuer bis zum brasilianischen Country-Pop; unverkennbar der Einfluß des Bolero, des mexikanischen Mariatchi.  Von den Gebrüdern Zezè di Camargo und Luciano handelt der ganze Film, von ihrer armseligen, bedrückenden Kindheit in einer Kleinbauernkate und später in einem Großstadtslum;  von Vater Francisco, der es sich in den Kopf gesetzt hat, aus wenigstens zweien seiner sieben Kinder ordentliche Musiker zu machen, die auf Dorffesten, Jahrmärkten aufspielen könnten. Um damit die mehr als knappe Familienkasse etwas aufzubessern, und wer weiß, vielleicht sogar dem Elend zu entfliehen. Der Film hat ein grandioses Happy-End, denn Zezè di Camargo und Luciano wurden mit ihrer sentimentalen Sertaneja-Musik die Megastars Brasiliens. Und mit diesem anrührenden, teils melodramatischen Film bekennt sich das Tropenland erstmals zu seiner romantischen, ja ultraromantischen Seele. Regisseur Breno Silveira:

O-Ton 1:“Man muß unser Hinterland und seine Kultur gegen alle Ressentiments vieler elitärer Städter endlich einmal zur Kenntnis nehmen und mit diesen ganzen Vorurteilen einer Kulturschickeria gegen die so gefühlvollen Menschen dort, gegen deren Sertaneja-Musik endlich einmal aufräumen.  Die Leute des Interior sind authentisch wie ihre Klänge, die doch nur Betonköpfe kalt lassen.“

Musik 2: Filmmusik anspielen, unterlegen

Sertaneja-Klänge – vielleicht zu romantisch für coole Europäer, sagt in Sao Paulo der Musikexperte Biaggio Baccarin und trifft ins Schwarze. Denn auch in Deutschland wird Sertaneja so gut wie nie in den Radios gespielt, ist in der Weltmusikszene verpönt. Doch wider alle Klischees mögen die allermeisten Brasilianer, selbst die jungen, sentimentale Balladen weit mehr als hektisch-aufgeregte Stücke nach Art der Karnevalssambas. Sertaneja war in Brasilien schon immer weit populärer als Samba und ist bei Tonträgern daher unangefochtener Marktführer. An der Spitze Zezè di Camargo und Luciano. Über 22 Millionen verkaufter CDs und ein Vielfaches an Raubkopien.

Von solchen Plattenauflagen können Gilberto Gil, Caetano Veloso, Marisa Monte, Milton Nascimento und all die anderen in Deutschland mehr oder weniger bekannten Musikusse Brasiliens nur träumen.

O-Ton 2, Zezè di Camargo: “Wegen dieser  Mischung der Rassen, Rhythmen und kulturellen Riten sind wir ein atypisches Land“, sagt Zezè di Camargo. „Der Film zeigt viel von diesem Universum. Ja, wir sind bäuerlicher Herkunft, wir mögen den Geruch von Erde – und wir machen Musik für die Massen, für die einfachen Leute Brasiliens.“

Deshalb holte sich der heutige Staatschef Lula für den  Wahlkampf von 2002 nicht etwa Sambastars als Anheizer seiner Kundgebungen, sondern Zezè di Camargo und Luciano, die schließlich sozialkritische Songs wie diesen, gegen den Hunger, das Elend im Lande, komponiert haben – und zweifellos zu Lulas Wahlsieg beitrugen.

Musik 3: Meu Pais, anspielen, unterlegen

Der Staatschef brach die Wahlversprechen, steckt im Korruptionssumpf – das Gebrüderpaar ist entsprechend frustriert Daß indessen der Film zum Kinorenner des Jahres werden würde, hätten sie nie für möglich gehalten. Weltmusikpuristen dürfte schmerzen, daß ausgerechnet Ikonen wie Caetano Veloso und Maria Bethania den Streifen über alle Maßen lobten und im Soundtrack gleich mit mehreren hypersentimentalen Sertaneja-Titeln zu hören sind.

Musik 4: Caetano Veloso und Maria Bethânia als Abspann

Brasiliens „Hoffnungsträger“ Lula und das Soziale: Schriftsteller, Künstler, Intellektuelle entsetzt über mehr Elend und Gewalt, rasch wachsende Slums, vernachlässigte Bildung, fortdauernde Elitenherrschaft

Brasiliens Kulturschaffende hatten im Wahlkampf von 2002 kräftig mitgeholfen, daß mit dem Ex-Gewerkschaftsführer Luis Inacio Lula da Silva erstmals in der Geschichte des Tropenlandes ein Mann aus dem Volke, aus der Unterschicht in den Präsidentenpalast von Brasilia einziehen konnte. Lula  wurde als Hoffnungsträger Brasiliens, ganz Lateinamerikas, gar der ganzen Welt gefeiert. Einer, der in der immerhin zwölftgrößten Wirtschaftsnation darangeht, die skandalösen Sozialkontraste zu beseitigen, dem Sozialen absolute Priorität gibt. Zwei Jahre später, in der Mitte von Lulas Amtszeit, sind all die Schriftsteller, Künstler, Intellektuellen, Befreiungstheologen wie Leonardo Boff,  enttäuscht bis entsetzt, fühlen sich gar verraten, weil unter Lula weitgehend alles beim alten blieb – mehr Elend und Gewalt im Lande, mehr Barbarei in den rasch wachsenden Slums, der Hunger längst nicht besiegt, nur Verteilung von Almosen.  Dazu vernachlässigte Bildung wie eh und je, fortdauernde Elitenherrschaft. In den Kulturzeitschriften, den Feuilletons der führenden Qualitätsblätter werden der einstige Hoffnungsträger und seine Arbeiterpartei entsprechend demontiert.

In Europa definiert man Lula weiterhin als Linken, gar als Sozialisten – in Brasilien selbst  firmiert er indessen als Konservativer, mit deutlichem Trend nach rechts. An Lulas Seite, als sein Vize und Verteidigungsminister immerhin der Diktaturaktivist, Milliardär und Großunternehmer Jose Alencar, aus einer Rechtspartei. Ein Mitglied jener traditionell herrschenden Oligarchien,  Machteliten, die in dem einstigen Kolonialstaat seit über fünfhundert Jahren tatsächlich das Sagen haben. Der populäre Komponist Chico Buarque nennt sie kulturloser denn je – und für Jurandir Freire Costa, einen der führenden Intellektuellen Brasiliens, ist diese tonangebende Upperclass sogar  sozial verantwortungsloser als je zuvor.

“Die alten Eliten fühlten sich wenigstens minimal der Tradition, der Geschichte, der Zukunft ihres Landes verpflichtet – den Eliten von heute fehlt dazu jegliche Bindung, zudem jeglicher Sinn für Zivilisation. Sie sind erschreckend belanglos, oberflächlich, drücken das kulturelle Niveau. Und schauen auf den Rest des Landes, als gehe er sie nichts an, verlassen ihre privilegierten Zirkel nur, um in die USA, in reiche Länder Europas zu fliegen, dort genauso weiterzuleben.“

Diese Eliten, so der Universitätsprofessor und Therapeut Costa,  wirken indessen beispielgebend, sie formen Verhaltensweisen bis tief hinein in die Unterschicht. Costa macht derzeit in den brasilianischen Feuilletons geradezu Furore mit seinem elitekritischen neuesten Buch „Die Spur und die Aura“, das die brasilianische Demokratie in Dekadenz beschreibt –  und das öffentliche Leben der Logik des Spektakels, der Show, der Unterhaltung unterworfen. Autoritäten wie Staatschef Lula inbegriffen. Die Eliten mit einer Idee vom Leben als ewigwährendem Vergnügungspark.

“Diese Leute mit ihrem provozierenden Lebensstil, dem hohen Drogenkonsum, sind in ihrer sozio-kulturellen Wahrnehmungsfähigkeit so dressiert, daß sie die Misere, die Verelendeten überhaupt nicht mehr sehen, sogar negieren. Pure Verantwortungslosigkeit, die sich reproduziert, in der Gesellschaft Schule macht.“

Ein Resultat der von den Eliten aufrechterhaltenen scharfen Sozialkontraste ist laut Costa die überbordende Gewalt, mit mehr Toten als im Irakkrieg. Entführungen von Geldleuten, Prominenten, Bandenüberfälle in Nobelvierteln – das zumindest wird von der Upperclass als störend wahrgenommen.

“Denn ein Teil der Verelendeten wird gewalttätig, will an das Geld der Reichen, um dann den Lebensstil der Eliten zu kopieren –  weiter nichts. Die verarmten Massen in den Metropolen Rio de Janeiro und Sao Paulo ohne ethisch-moralische Wurzeln, eine junge Generation, die keinerlei Respekt mehr hat für das tatsächlich Wertvolle in einer Gesellschaft.“

Staatschef Lula, der die Privilegien  des Präsidentenpalasts sichtlich genießt, hat für viele seiner Kritiker bereits deutlich an sozialer Sensibilität verloren hat, teilt bourgeoise Werte, folgt inzwischen sogar der neoliberalen Logik jener nationalen Eliten, ist diesen auf den Leim gegangen, sei im übrigen ein typischer brasilianischer Macho, in dem kein einziger Liter sozialistischen Blutes fließe.

Elitekritiker Costa zählt zu jener Schicht der Intellektuellen und Kulturschaffenden Brasiliens, die in ihrer gesellschaftlichen Nische eigentlich komfortabel zurecht kommen, persönlich nichts auszustehen haben, eine relativ kleine, hauptsächlich von Mittelschichtlern frequentierte Kulturszene bereichern, die auf  europäische Künstler gewöhnlich ungemein faszinierend, anregend, exotisch wirkt. Leute wie Costa schauen natürlich hinter Brasiliens buntschillernde Erscheinungsebene, sehen vieles, was ihnen den Schlaf raubt, den meisten Zugereisten aber entgeht.“

“Wir dürfen nicht in Nihilismus verfallen, müssen Zivilcourage zeigen, anprangern, anklagen.“

Inacio de Loyola Brandao, einer von Brasiliens großen Schriftstellern, war einst Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, lebte für ein Jahr in Deutschland. Heute nennt er sich desiludido, exausto, desillusioniert und erschöpft. „Lula und seine Arbeiterpartei waren Hoffnungen – alles nur Lüge – eine mehr in der politischen Geschichte Brasiliens. Ich bin es müde, an den Ampelkreuzungen weiter von verelendeten Kindern, Menschen in Rollstühlen angebettelt zu werden. Kinder zu sehen, die Crack rauchen, sich in den Schulen umbringen. Und ich bin es müde, mich an einen Tisch zum Essen zu setzen – während durch die Scheiben hungrige Augen auf meinen Teller starren.“

Brasiliens „Stararchitekt“ Oscar Niemeyer – gigantische, folgenschwere Fehlleistungen in Serie/Niemeyers wichtigster Kritiker Joaquim Guedes analysiert Hauptschwächen

Nicht nur in Deutschland wird der brasilianische Architekt Oscar Niemeyer von nahezu allen Medien, auch den Architekturzeitschriften, mit Lob überhäuft. Niemeyer sei der Star der modernen internationalen Architektur, geradezu eine Legende der Moderne. Ungeheure Formfreiheit, keinerlei Strenge, hohe Funktionalität. Niemeyer gilt als Schöpfer der brasilianischen Hauptstadt Brasilia – sämtliche öffentlichen Gebäude, darunter der Nationalkongreß und der Präsidentenpalast, wurden von ihm entworfen. Brasilia zählt heute zum Weltkulturerbe der Menschheit. Wer sich indessen Niemeyers Hauptwerke aus der Nähe anschaut, kommt ins Staunen – nur zu oft handelt es sich um fehlkonstruierte Betonmonster – von Funktionalität keine Spur. Experten sparen daher nicht mit gutfundierter Kritik. Sie verhallt indessen besonders in Europa seit Jahrzehnten nahezu ungehört.

Oscar Niemeyers eigentliches Hauptwerk sind über fünfhundert öffentliche Schulen Rio de Janeiros,  in denen jeweils bis zu eintausend Unterschichtskinder, meist aus den Slums, unterrichtet werden. Diese zweistöckigen Schulen  heißen offiziell CIEP, Integriertes Zentrum für öffentliche Bildung – sind aus Fertigteilen und sehen wie eckige, graue Betonkästen aus. In einer der lautesten Städte der Erde wurden sie nach dem Willen der Regierenden populistisch stets an auffälliger, gut sichtbarer Stelle errichtet, also dort, wo der  Verkehrslärm am größten ist.  Auch der CIEP Tancredo Neves in der Rua do Catete hat keine Schallschutzfenster.

Man betritt die Schule und stutzt sofort: In sämtliche Klassenzimmer links und rechts des düsteren Korridors kann man bequem hineinschauen, Schüler und Lehrer beobachten – denn die Seitenwände der Räume sind zum Mittelgang hin nur etwa  anderthalb Meter hoch, wurden also nicht bis zur Decke hochgezogen. Das bedeutet: Alle hören alles von allen. Die einen haben Physik, andere Mathe, Portugiesisch – andere singen Sambas, wieder andere schreiben eine Prüfungsarbeit.  Die sehr temperamentvollen brasilianischen Kinder reagieren natürlich auf die Geräusche von nebenan – in allen CIEPs deshalb große Disziplinschwierigkeiten. Oscar Niemeyer mag sein Wandkonzept als geniale, völlig unkonventionelle Idee ansehen – für die Lehrerinnen des CIEP Tancredo Neves ist es ein Absurdum.

Lehrerinnen:“Der Krach hier ist enorm – wollen wir uns durchsetzen, müssen wir notgedrungen die Stimme heben,  ständig dagegen anschreien. Viele haben deshalb Probleme mit den Stimmbändern, müssen sich operieren lassen.  Jeder Pädagoge hört ja auch die Kollegen unterrichten, das lenkt ab, macht nervös – es ist wirklich schwierig hier.“

Die rund fünfhunderttausend  CIEP-Schüler von Rio kommen aus einem Klima der Gewalt, haben starke Lern-und Konzentrationsschwierigkeiten – häufig Folge gravierender Unterernährung in den ersten Lebensjahren. Umso wichtiger wäre ein möglichst ruhiges, streßfreies Schulambiente. Architekt Oscar Niemeyer hat das nun schon 21 Jahre verhindert, wie auch CIEP-Direktorin Maria Stoky einräumt. Die Wände des Direktionszimmers sind ebenfalls nur eins fünfzig hoch.

„Selbst hier ist der Krach sehr groß. Unsere  Lehrer können sich nur schwer konzentrieren –  den Lärm vom Korridor, auf dem ständig Schülergruppen herumlaufen, müssen sie zusätzlich ertragen. Wir brauchten richtige Wände, hoch bis zur Decke.“

Oscar Niemeyer nennt sich Kommunist, Menschenfreund, dem das Wohl der ärmsten Brasilianer, deren Bildung,  besonders am Herzen liege. Doch mit seinen über fünfhundert CIEPs hat er niedrige Lernleistungen der sozial am meisten Benachteiligten vorprogrammiert, Kritik und Verbesserungsvorschläge ganzer Delegationen von CIEP-Direktoren und Lehrern, aber auch heftige brasilianische Medienkritik regelmäßig abgeschmettert. Und nicht nur die Akustik ist eine Katastrophe, auch die Belüftung, die Temperaturregulierung. Dank Niemeyers Konzept brennt die Tropensonne auf den nackten Beton, werden die CIEPs zum Bratofen – eine falsch geplante Rampe ermöglicht den Schülern Massenfluchten. Doch Fußballidol und Multimillionär Pelè lobt die CIEPs in mehrseitigen Farbanzeigen der Rio-Regierung als durchweg hervorragende Schulen – es seien solche wie in der Ersten Welt.

Joaquim Guedes zählt ebenfalls zu den Größen der brasilianischen Baukunst, ist  zudem Lehrstuhlinhaber für Architektur an der Bundesuniversität von Sao Paulo. Andreas Hempel, Präsident des Internationalen Architekturkongresses von 2002 in Berlin, lud Guedes als einzigen Architekten Nord-und Südamerikas in die deutsche Hauptstadt ein, berief ihn ins wissenschaftliche Komitee. Guedes ist seit jeher Niemeyer-Kritiker, die CIEPs von Rio zeigen für ihn exemplarisch, wie Niemeyer arbeitet:

“Er ist unfähig, Architektur zu machen, diese Schulen beweisen es. Er entwirft Formen –  aber das ist doch noch keine Architektur. Er konstruiert Formen entgegen den menschlichen Bedürfnissen, respektiert nicht einmal technologische Aspekte. Von einem großen Architekten erwartet man, daß er sich in die Probleme der menschlichen Existenz vertieft, die besten Lösungen sucht. Aber Schulen, in denen die Wände nicht mit der Decke abschließen – das ist doch verrückt, das ist doch Wahnsinn, absurd! Und dann auch noch das selbe falsche Projekt ewig wiederholt, nie spezifischen örtlichen Gegebenheiten angepaßt. Wie kann er gerade die am meisten  Benachteiligten mit diesen CIEPs so mißhandeln, deren Ausbildung so schädigen! Dies zeigt, daß Niemeyer hochgradig elitär ist, da sehen wir eine Deformation unseres Berufs.  An dem Schulprojekt hätten mehr Architekten mitarbeiten müssen – doch Niemeyer ist sehr arrogant gegenüber den eigenen Kollegen, will immer alles alleine machen.“

Arroganz, Intoleranz laut Guedes auch gegenüber Auftraggebern. Nur zu oft blockte Niemeyer seine Kritiker ab, indem er schlichtweg aufstand und ging – er sei nicht hier, um sich Dummheiten anzuhören. Niemeyer ein Kommunist? Für Guedes hat er eine stalinistische Sicht der Dinge. Und die am Reißbrett entworfene Hauptstadt Brasilia, oft als Niemeyers Hauptwerk betrachtet?

“Das war de facto ein rein autoritärer Akt – große ökonomische Interessen, dazu eine große politische Chance für den damaligen Staatschef Juscelino Kubitschek – der natürlich seinen Freund Niemeyer engagierte. Dieser tat alles, damit seine Projekte den Staatschef noch mehr herausstellten, ihn als Volkshelden, Volkstribun erstrahlen ließen. “

Im Gegenzug mehrte Kubitschek kräftig den Ruhm von Niemeyer. Im Falle der Rio-CIEPs war es kein geringerer als der damalige Gouverneur und Vizepräsident der Sozialistischen Internationale, Leonel Brizola.

“In der Menscheitsgeschichte“, so Guedes weiter,  „gab es keinen anderen Architekten, für den der Staat soviel nationale und internationale Reklame organisierte wie für Niemeyer – denn Niemeyer machte ja auch kräftig Reklame für den Staat. Über Niemeyer wurde nur verbreitet, was dieser selber hören wollte. Er arbeitete für das Militärregime, obwohl er es gleichzeitig kritisierte. Gerade während der Militärdiktatur von 1964 bis 1985 realisierte Niemeyer viele Projekte.“

Brasilia funktioniere überhaupt nicht – sei nur formal und monumental.

„Die Hauptstadt wurde nicht für das Leben erdacht, sie soll nur äußerlich beeindrucken. Niemeyer mißachtet die Stadt und ihre Bewohner. Man sehe sich nur diese Avenida der Ministerien an – alle Gebäude militärisch aufgereiht, alle gleich – und alle in Ost-West-Richtung, für ein Tropenland die allerschlechteste Lösung. Die Morgen-und Nachmittagssonne knallt direkt auf die großen Fenster – furchtbare, unerträgliche Hitze, keine Klimaanlage kommt dagegen an. Ich kannte einen Minister, der deshalb sein Kabinett in der Mitte installierte, völlig fensterlos.“

Parlamentsabgeordnete argumentieren wie Guedes – Niemeyers Brasilia-Bauten seien völlig unfunktional –  schlecht belüftet und beleuchtet, unpraktisch und unangenehm für jene, die darin arbeiten oder gar wohnen müßten.

“Ich bin traurig – mit dieser formalistischen Prestigearchitektur, die nichts taugt, aber furchtbar teuer ist,  hat Niemeyer meiner Architektengeneration objektiv sehr geschadet. Doch leider leben wir heute in einer Zeit, in der die Erscheinung, die Fassade, das Spektakel, die Propaganda so ungemein wichtig genommen  werden. Weil ich Niemeyer kritisiere, werde ich als Vaterlandsverräter angesehen. Schon vor dreißig Jahren, als ich Professor an der Universität von Straßbourg war, verlangte ein Mitglied der kommunistischen Partei von mir, daß ich in Frankreich jegliche Kritik an Niemeyer unterlasse.“

Niemand bewerte dessen Arbeiten ernsthaft – aus Angst, sich mit einem „Monstro sagrado“, einem heiligen Monster, anzulegen.

Derzeit entwirft Niemeyer ein großes öffentliches Schwimmbad für Potsdam. Kritiker Guedes aus Sao Paulo äußert Zweifel.

“Niemeyer ist beinahe hundert und fast blind, dennoch mit vielen Projekten befaßt. Doch er ist es nicht, der sie realisiert. Er kann es ja gar nicht mehr.“

Pedro Herz – ein jüdischer Buchhändler mit deutschen Wurzeln wird im Drittweltland Brasilien zum Kultur-Pionier/Buchkaufhäuser als Kulturzentren

In der brasilianischen Megacity Sao Paulo spielen jüdische Persönlichkeiten eine besondere Rolle: Der Dirigent John Neschling leitet Lateinamerikas bestes Sinfonieorchester, der Menschenrechtsaktivist Oded Grajew genießt als Erfinder des Weltsozialforums weltweit einen hervorragenden Ruf – und Pedro Herz, Buchhändler mit deutschen Wurzeln, wird in einem Land des Analphabetismus zum Kulturpionier, macht den Brasilianern Lust auf Lektüre. In Sao Paulo, Brasilia und drei weiteren Städten sind seine Buchkaufhäuser erfolgreiche, konkurrenzlose Kulturzentren.

Die Avenida Paulista im Zentrum der drittgrößten Stadt der Welt. Vor einem enormen, mehr als zehnstöckigen Geschäftsgebäude mit Läden, Restaurants und Kinos, das von dem brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer entworfen wurde, halten Reisebusse. Die Leute aus weit entfernten Städten wollen, kaum zu glauben, in ein Buchkaufhaus namens Livraria Cultura, das zu einer Touristenattraktion wurde. Besonders an den Wochenenden ist es auf den 4300 Quadratmetern voll wie im Supermarkt. Hier kaufen sogar lateinamerikanische Staatspräsidenten. Mitten zwischen den Leuten steht Pedro Herz und beobachtet den Trubel:

“Da bin ich sehr stolz drauf. Es macht mir viel Spaß, ich treffe viele Bekannte, und die Leute kritisieren, geben mir Vorschläge, sagen mir was Nettes. Es ist ein bißchen ein Hobby, ja. Was verkaufen wir – Ideen! Wissen Sie, wieviele Tage im Jahr wir arbeiten? 363! Wir arbeiten nicht Weihnachten und Neujahr – zwei Tage, die wir schließen!“

Und gibt es soetwas in Deutschland? Ein Buchkaufhaus mit Theater, mit Konzerten, Lesungen, Vorträgen, Kursen, mit Radio-Live-Programmen – und das täglich?

Bei Pedro Herz trifft man den Bossa-Nova-Star Carlos Lyra – und natürlich auch Bestsellerautor Joao Ubaldo Ribeiro, der die Verschlechterung des öffentlichen Schulwesens geißelt – und daß ganze Generationen von Analphabeten herangebildet würden, der Staat die Lesekultur überhaupt nicht fördere.

Joao Ubaldo Ribeiro: „Wir bilden Generationen von Analphabeten heran!“

Scheinbar wenig erfolgversprechend, in einem Drittweltland unter solchen Bedingungen ausgerechnet ins Buchgeschäft zu investieren.  Doch Pedro Herz hat seine Philosophie:

“Ich denke, wenn alle nach rechts gehen, gehe ich nach links. Wenn alle einen Weg machen, dann mache ich das Gegenteil. “

Herz wurde 1940 in Sao Paulo geboren, sein Vater stammt aus Krefeld, seine Mutter aus Berlin – beide flüchteten vor den Nazis 1938 noch in letzter Minute von Italien aus mit dem Schiff nach Lateinamerika.

“Sie fing dann mit einer Leihbibliothek an – 1947 – mit zehn Bücher hat sie angefangen. Viele Kunden wollten geliehene Bücher kaufen – und diese Idee haben wir angenommen. Das Buch war ein schwieriges Produkt zu kaufen in Brasilien. Ich habe die ganze Stadt durchgelaufen, daß ich ein Buch finde. Das ist Wahnsinn, das geht einfach nicht.“

Heute hat Herz über zweieinhalb Millionen Titel im Katalog – was nicht im Laden steht, besorgt er aus der ganzen Welt. Auffällig, wieviele junge Leute, wieviele Kinder ganze Nachmittage, Abende in der Livraria Cultura verbringen, die erst 22 Uhr schließt.

“ Wir haben eine große Kinderbuchabteilung – und ein Kind bringt andere Kinder mit.“

Maria Soares, um die vierzig, schmökert im Café.

“Ich bin extra aus der Stadt Ribeirao Preto hergekommen, nutze die kulturellen Angebote, genieße das ganze Ambiente. Dieses Buchkaufhaus hat einfach Stil, und hier gibts eben alles, was mich interessiert. Mein Schwiegersohn ist eine wahre Leseratte, der ist andauernd hier.“

Nur ein paar Schritte entfernt verkauft ein kleinerer Buchladen Adolf Hitlers „Mein Kampf“ in portugiesischer Übersetzung, als Prachtausgabe, für umgerechnet 27 Euro. Natürlich bringt das Pedro Herz auf.

“Es ist ein verbotenes Buch, ist ein ganz illegaler Verlag, es ist alles illegal, die Firma ist illegal, alles ist illegal.“

Pedro Herz hat dagegen alle Bücher der führenden brasilianischen Antisemitismusexpertin Maria Luiza Tucci Carneiro im Angebot. Ihre Auffassung, daß der Judenhaß, der Neonazismus in Brasilien zunehme, weist er jedoch zurück.

“Das stimmt nicht. Die Nazis haben überhaupt keine Zukunft. Ich sehe überhaupt keine Möglichkeit, daß soetwas wieder auftaucht.“

Er räumt indessen ein, als Jude angefeindet zu werden – nicht zuletzt von jenen, die ihm den Erfolg neiden.

“Das ist eine Geschichte, die sich mehr als 5000 Jahre wiederholt. Also – das ist unsere Geschichte. Das geht so mit den Juden. Und das geht mit uns hier auch so weiter.“

Recifran – das Müll-Recycling-Projekt des Franziskanerordens für Obdachlose der Megacity Sao Paulo

Zur Anmod: In einem von Gewalt und Misere geprägten Viertel der brasilianischen Megacity Sao Paulo, in dem häufig Schüsse fallen, führt der Franziskanerorden seit über sechs Jahren ein Müll-Recycling-Projekt namens Recifran. Dort sind über achtzig Frauen und Männer beschäftigt, die zuvor völlig verwahrlost auf der Straße hausten, wie Aussätzige behandelt wurden. Recifran verschafft ihnen geregelte Arbeit, gibt ihnen auch spirituellen Halt und ermöglicht die Rückkehr ins normale Leben.

Paulo Henrique, 28 Jahre alt, steht im großen Hof des Recifran-Projekts und reißt gewaltige, teils übel stinkende Müllsäcke auseinander. Plastikflaschen, Zeitungen, Blechbüchsen, Milch-und Joghurtverpackungen – alles wird von ihm und den anderen achtzig Mitarbeitern getrennt, gebündelt oder zu Packen gepreßt. Auf Handkarren wird ständig Nachschub in den Hof gefahren.

“Wir holen das ganze Zeug aus Kaufhäusern und Geschäften oder von der Straße, bereiten es auf für die Wiederverwertung. Das hier ist ein Schulungsprojekt, wir lernen erst mal, wie es geht und schließen uns dann später einer Recycling-Kooperative an. Ich bin aus Rio de Janeiro und war wie meine ganze Familie obdachlos. In einer nahen Herberge der Franziskaner habe ich von dem Projekt gehört und dann die Stelle bekommen. Hier kriegen wir erstmal einen Mindestlohn, später in der Kooperative ist es dann mehr. So können wir ein neues Leben anfangen.“

Brasiliens Mindestlohn liegt derzeit bei umgerechnet etwa 165 Euro. Die Projektlehrerin Carla Nascimento, eine Dunkelhäutige, verdient bei den Franziskanern nur etwa doppelt so viel. Sie leitet die Mitarbeiter an und schlichtet Streit.

“Lukrativ ist das hier für mich sicher nicht – aber ich sehe diese Arbeit als einen Auftrag Gottes an, ja, als meine christliche Mission. Im Grunde zählen wir alle hier in diesem Projekt zu den gesellschaftlich Ausgeschlossenen. Es ist eine gefährliche Arbeit – ich weiß nie, ob ich am Ende des Tages hier lebend herauskomme.“

Carla Nascimento ist keine Katholikin, sondern gehört zu einer großen evangelikalen Kirche, die vielerorts in Brasilien wie eine fragwürdige Wunderheilersekte agiert.

“ Ja – ich bin Pastorin in der evangelikalen Gottesversammlung und zudem Gospelsängerin. Die meisten Evangelikalen sind gegen die Katholiken, mögen sie überhaupt nicht. Und ich muß zugeben, ich war auch so. Doch die Franziskaner sind total ökumenisch und haben mich gelehrt, die Spiritualität anderer zu respektieren. Heute singe ich sogar in den katholischen Kirchen Sao Paulos – und natürlich bei den Protestdemonstrationen der Franziskaner.“

Auf dem Recycling-Hof ist es heute voll wie selten, bereiten sich die Afro-Trommler des Franziskanerordens für die Caminhada pela Paz, den Friedensmarsch durch die Stadt vor. Denn bei Recifran lernen die Obdachlosen auch, sich politisch zu organisieren, Bürgerrechte einzufordern, dafür auf die Straße zu gehen. Jene Mülltrenner von Recifran besaßen Monate zuvor im Dreck der Straße kaum noch Selbstwertgefühl. Jetzt wirken sie erstaunlich selbstbewußt, schwingen Fahnen, Transparente. Carla Nascimento singt sich warm.

Ordensbruder Josè Francisco dos Santos, der alle städtischen Sozialprojekte der Franziskaner leitet, führt den Marsch.

“Alljährlich demonstrieren wir gegen die Gewalt – und natürlich ziehen dann alle von uns betreuten Obdachlosen und Projektteilnehmer durch Sao Paulo. Die brasilianische Gesellschaft soll die Friedensbotschaft des Heiligen Franziskus hören.“

Die Caminhada da Paz endet vor dem von Obdachlosen regelrecht umlagerten Franziskanerkloster in der City. Morgens um sieben und nachmittags um drei wird täglich von der Klosterbäckerei Brot an die Verelendeten ausgegeben, nur wenige hundert Meter von Lateinamerikas Leitbörse entfernt. Und hier vorm Kloster nahm auch das Müll-Recycling-Projekt Recifran seinen Anfang. Franziskanerpriester Johannes Bahlmann, Ordensoberer von Sao Paulo und Rio de Janeiro:

“Wir haben dann aber gesagt vor fast zwanzig Jahren, also wir können nicht nur einfach Brot verteilen, wir müssen uns noch mehr auf die Armen einlassen. Man hat sich auseinandergesetzt mit den Papiersammlern, die direkt vor der Kirche gewohnt haben und mit ihren Familien unter den Wagen in der Nacht geschlafen haben – gegenüber von uns. Daraufhin ist eine Comunidade Missionaria, eine missionarische Kommunität entstanden, wo man einfach einen Raum geschaffen hat für die Obdachlosen, entstanden Projekte wie das Papiersammlerprojekt Recifran.“

Auch Priester Bahlmann zählt die Gewalt zu den Hauptproblemen von Recifran und dem nahen Obdachlosenheim für die Projektteilnehmer.

“Weil wir im Grunde genommen wie in einem Krieg hier leben. Als diese Massenmorde in Sao Paulo waren, als Obdachlose erschlagen, getötet wurden, hat man eine Manifestation vor der Kathedrale gemacht. Wir haben in unserem Obdachlosenheim uns darauf eingelassen, eine friedensstiftende Mission zu starten, wo innerhalb des Obdachlosenheimes Drogenhandel betrieben wurde, der Projektleiter war der Drogenhändler, der Koch wurde erschossen. Unser Mitbruder dort hat immer wieder Morddrohungen erhalten.“

Mit dem Recycling-Projekt, sagt Priester Bahlmann, ist es ähnlich. Brasiliens mächtigstes Verbrechersyndikat PCC ist in Sao Paulo sehr aktiv, Kriminelle werden in die Franziskanerprojekte infiltriert, suchen dort Unterschlupf. Und es gibt in Sao Paulo Müllverwertungskooperativen, wo Menschen wie Sklaven gehalten werden.

Massaker, Todesschwadronen, lebendig verbrannte Obdachlose, von Mord bedrohte Ordensbrüder – läßt sich denn in Deutschland überhaupt vermitteln, unter welchen Extrembedingungen die Franziskaner Sozialprojekte wie Recifran betreiben?

“Man kann es vermitteln, aber man muß es gesehen haben. Denn viele Dinge werden garnicht wahrgenommen, das fällt alles untern Tisch, wird verdrängt. Es wird einfach abgeblockt, man will sich nicht damit auseinandersetzen.“

Brasiliens Bildungsdesaster

Brasiliens Staatschef Lula hatte zum Amtsantritt 2003 versprochen, das marode öffentliche Schulsystem seines Landes grundlegend zu verbessern. Gegen Ende von Lulas  zweiter Amtszeit konstatiert jedoch selbst die UNESCO eine deutliche Verschlechterung. Zu den absurden Folgen zählt, daß in der zehntgrößten Wirtschaftsnation trotz Massenarbeitslosigkeit die Unternehmen immer schwerer kompetente Mitarbeiter selbst für einfachste Tätigkeiten finden. Kinder der kleinen Mittel-und Oberschicht besuchen indessen die meist sehr teuren Privatschulen.

Geschichtsunterricht in einer öffentlichen Gemeindeschule des brasilianischen Nordostens, die wegen ihres Niveaus immer wieder gelobt wird. Krach, lautes Stimmengewirr der über 30 Schüler, gegen das der Geschichtslehrer nicht ankommt. Er redet über die Entstehung des Nationalstaates, doch kaum jemand hört ihm zu, fast alle schwatzen miteinander. Schüler stehen auf, laufen im Klassenzimmer herum und gehen sogar hinaus. Die Tür zum Unterrichtsraum steht weit offen – von draußen schauen Kinder herein oder gehen sogar zu den Schülern und unterhalten sich mit ihnen. Der Lehrer läßt den Unterrichtsstoff immer wieder abschnittsweise aus dem Geschichtslehrbuch vorlesen:

Dann bildet der Lehrer Lerngruppen, in denen die Schüler Fragen über die brasilianische Monarchie und den Feudalismus beantworten sollen.  Bänke werden zusammengerückt. Doch kaum jemand widmet sich dem Stoff, zumal der Geschichtslehrer sogar für eine ganze Weile aus nicht bekannten Gründen hinausgeht, Schüler daraufhin in dessen Tasche und im Klassenbuch herumsuchen. Es ist eine sechste Klasse, doch manche Schüler sind bereits 17, 18 Jahre alt. Einer davon, der 18-jährige Thiago,  hat keinerlei Schulmaterial mitgebracht, sitzt alleine in der Mitte des Raumes, döst meist nur vor sich hin. Auch ihn läßt der Lehrer gewähren, ruft ihn nie zur Mitarbeit auf. Den zwölfjährigen Luis indessen interessiert das Thema, er stellt Fragen, zeigt sich informiert, vom Krach der anderen Schüler indessen sichtlich genervt.

Luis: „Ja, es ist wirklich schwierig, sich zu konzentrieren. Es gibt immer Schüler, die ein Chaos anrichten, die Schulstunde durcheinanderbringen. In den Lerngruppen wird nur geschwatzt, da macht keiner was. Wer hier nichts lernen will, den läßt der Lehrer in Ruhe, so ist das hier an der Schule. Es ist dann eben die Schuld von denen, wenn sie im Leben nicht vorankommen wollen. Die Lehrer müßten sich mehr durchsetzen – aber wenn sie mal was gegen die Disziplinlosigkeit sagen, hört gar keiner hin. Manchmal beschimpfen sie den Lehrer  mit Kraftausdrücken, doch der reagiert gar nicht drauf. Viele Schüler bleiben halt sitzen, gleich mehrfach. Doch hier in der Gegend gibt es noch viel schlechtere Schulen.“

Pro Tag werden lediglich zwei Fächer gelehrt, jeweils eineinhalb Stunden – mit weit weniger Stoff als etwa in Deutschland. Im Portugiesischunterricht verteilt die Lehrerin Zeitschriftenfotos an die Sechstklässler, damit sie eine Bildbeschreibung verfassen, eigenes Erleben schildern.  Es geht sehr ähnlich zu wie in der Geschichtsstunde. Als zum Ende hin jeder seinen Text vorliest, sind es fast stets nur drei bis vier sehr schlichte, banale Sätze. Dabei hatte die Lehrerin jedem Schüler beim Verfassen sogar kräftig geholfen.

Schülerin: „Ein Tag am Strand. Dieser Tag war sehr gut, weil wir im Meer gebadet haben. Dieser Tag war sehr gut, weil ich mich mit meinen Freunden am Strand vergnügt habe.“

Mehr hat die Dreizehnjährige mit Hilfe der Lehrerin nicht zu Papier gebracht – die anderen quittieren es mit Applaus und Gejohle.

In der großen Pause gibt es Schulessen – eine Suppe oder einen Teller gekochten Reis. Die Jungen drängeln sich vor, schubsen die Mädchen aus der Schlange am Küchenschalter heraus. Die meisten Schülerinnen warten ohnehin ab, bis alle Jung-Machos ihr Essen bekommen haben. Der typische berüchtigte Nordost-Machismus wird bereits in der öffentlichen Schule eingeübt – und von den Lehrkräften toleriert. Wie der zwölfjährige Luis berichtet, hat ein machistischer Schüler einen Lehrer getötet, weil der dessen Freundin eine CD geborgt habe – eine Art Ehrenmord. Immer wieder fallen in der Gemeindeschule Fächer aus, weil stattdessen Polizist Rodrigo Alves Präventivunterricht gegen Gewalt und Drogen abhält. Das spottbillige Crack, aber auch Kokain, werden inzwischen auch in den Hinterlandgemeinden Brasiliens verdealt. Unweit der Gemeindeschule feuerten erst unlängst rivalisierende Banditenkommandos aufeinander. Polizist Rodrigo Alves.

“Ich spreche mit den Schülern über die konkrete Gewalt in Gemeinde und Region – ein gefährlicher Drogengangster hat  kürzlich vier Männer erschossen, meinen Kollegen getötet. Ich habe zwei Schüsse abbekommen, einen ins Knie und einen in die Herzgegend. Weil ich gottseidank die Schutzweste anhatte, ging die Kugel nicht ganz durch, aber beinahe wäre ich tot gewesen. Die Familien hier sind nicht fähig, ihre Kinder angesichts solcher Realitäten entsprechend zu erziehen – deshalb gebe ich diesen Präventivkurs an 22 Schulen.“

Indessen macht es sich auch Polizist Alves ähnlich einfach wie die Lehrer der Gemeindeschule, von effizienter Aufklärung keine Spur, stattdessen Gemeinplätze. Den Anti-Drogen-Song zum Mitsingen spielt er indessen zur Freude der Klasse gleich mehrfach ab.

Die beschriebenen Zustände machen nachvollziehbar, warum die Kritik brasilianischer Bildungsexperten, aber auch der UNESCO am Schulsystem des Tropenlandes so scharf ausfällt. Auf dem UNESCO-Bildungsindex von 2006 belegt das Land einen keineswegs ehrenvollen 72. Platz  – doch 2008 fällt es sogar auf den 76. Platz zurück – weit abgeschlagen hinter Chile, Argentinien oder Kuba. Laut UNESCO ist die Sitzenbleiberquote lediglich in afrikanischen Staaten höher, das Niveau zuvieler Pädagogen sehr niedrig. Lehrer, die nicht einmal Grundkenntnisse der Alphabetisierung beherrschten, dürften erst gar nicht vor eine Klasse gelassen werden. Selbst laut amtlichen –  und  gewöhnlich geschönten brasilianischen Angaben von 2008  können 1,1 Millionen Schüler zwischen 8 und 14 Jahren derzeit weder lesen noch schreiben, obwohl sie zur Schule gehen.  Die meisten  leben im brasilianischen Nordosten, aus dem Staatschef Lula stammt. Nur rund die Hälfte der brasilianischen Kinder schafft den Grundschulabschluß, kommt bis zur achten Klasse. Tödliche Gewalt an den Schulen nimmt ständig zu, in vielen sind bereits Polizisten stationiert.

Überraschend, daß Flavia Fernandes, die Direktorin jener nordöstlichen Gemeindeschule,  alle genannten Probleme sehr genau kennt, jedoch nicht eingreift, die Dinge einfach laufen läßt – oder ein Eingreifen für unmöglich hält. Die Direktorin verdient ebenso wie jene wenigen Lehrer mit höherer Qualifikation umgerechnet etwa 165 Euro im Monat, der Rest etwa 140 Euro.

“Wir haben 14 Lehrer für 310 Schüler – die Disziplinprobleme sind hier ebenso wie in den großen Städten enorm. Dazu kommen noch Gewalt und Drogen. In allen Klassen gibt es Schüler, die lernen wollen – und viele eben nicht. Die stören die Lernwilligen. Viele schwänzen zudem. Ich dürfte das alles eigentlich garnicht sagen. Und dann haben wir hier noch den Machismus – der wird zuhause anerzogen. In den meisten Familien kontrollieren die Eltern ihre Kinder überhaupt nicht mehr, machen diese durchweg, was sie wollen. Und diese Kinder sehen in unserer Schule regelrecht einen Freizeitpark zum Amüsieren. Nur wenige Schulabgänger finden eine ordentliche Arbeit oder studieren. Die Mädchen helfen dann gewöhnlich der Mutter zuhause, heiraten früh, haben früh Kinder, werden Hausfrauen – oder werden eben Hausangestellte in der Stadt.“

Zahlreiche Schulabgänger des Nordostens migrieren indessen in die mehrere tausend Kilometer entfernte Megacity Sao Paulo, führendes Wirtschaftszentrum Lateinamerikas. Etwa die Hälfte der über zwanzig Millionen Einwohner stammt aus dem Nordosten. Schwer zu übersehen, daß in den mehr als 2000 Slums sehr viele arbeitslos sind, andererseits tausende Unternehmen immer schwieriger kompetente Mitarbeiter finden, selbst für simple Tätigkeiten. Elizabeth Leonetti ist Personalchefin der brasilianischen Filialen des französischen Kulturkaufhaus-Multis FNAC:

“Ich suche geeignete Angestellte, doch die Qualität der Bewerber bessert sich nicht, sondern wird immer schlechter. In den Selektionsverfahren sehen wir ganz klar das Desaster des brasilianischen Bildungswesens. Abgesehen von den vielen funktionellen Analphabeten, treffe ich hier sogar auf Hochschulabsolventen, die grausig schlecht schreiben, ihre Gedanken nicht ausdrücken können, sehr schlecht Portugiesisch sprechen. Falls sie über ein Thema reflektieren müssen, fehlt jeder rote Faden. Es ist eine Tragödie, wir müssen immer wieder ein Auge zudrücken. Nähmen wir die Mathematik-Bewerbertests ernst, könnten wir niemanden einstellen. Dabei verlangen wir nur die simplen Grundrechenarten. Wir Personalchefs in Brasilien betreiben deshalb, was wir Kannibalismus nennen: Wir entreißen den Konkurrenzfirmen regelrecht die Mitarbeiter, suchen sie dort, werben sie ab. Ich denke oft, das ist doch nicht gerecht, bei so vielen Arbeitslosen.“

Laut Elizabeth Leonetti muß Brasilien bereits Facharbeiter importieren, kommen Inder und Chinesen nach Sao Paulo, die den Brasilianern die Stellen wegnehmen. Viele Firmen richten in ihren Fabriken und selbst auf Baustellen notgedrungen Grundschulen ein, lehren Grundkenntnisse, die die Schulen nicht vermitteln. Die Mitarbeitersuche wird für viele Unternehmen ein enormer Kostenfaktor, weil nicht selten zehntausende Bewerber getestet werden müssen. Erschwerend kommt hinzu, daß Zeugnisse und Diplome nur zu oft gekauft wurden oder gefälscht sind, Lebensläufe der Bewerber viele Lügen enthalten. Elisabeth Leonetti:

“Ich denke, es fehlt einfach der politische Wille, die Bildungsprobleme zu lösen. Brasiliens Wachstum wird nicht nur durch die hohe Korruption, sondern auch durch das niedrige Bildungsniveau behindert.“

Indianer Brasiliens jagen mit Feuer – von Umweltschützern scharf kritisiert

Brasiliens Indianer werden gewöhnlich als Hüter des Regenwaldes, als geniale Naturschützer gerühmt und stellen sich häufig selbst so dar. Umwelt-und Landwirtschaftsexperten sowie die Feuerwehr des Tropenlandes erklären indessen, daß Indios nur zu oft als Naturvernichter agieren. So habe die von vielen Stämmen gepflegte Jagd mittels Feuer verheerende Folgen. Diese jahrtausendealte Methode fördere die Artenvernichtung – zudem gerieten die absichtlich gelegten Brände nur zu oft außer Kontrolle.

Die Guarani-Indianer zählen zu den wichtigsten Stämmen Südamerikas und haben auf der jüngsten Kontinentalversammlung in der südbrasilianischen Millionenstadt Porto Alegre erneut ihr Verhältnis zur Umwelt klargestellt. So steht im Abschlußdokument, daß die Guarani-Indios stets mitten in der Natur gelebt und diese immer respektiert hätten. Andere Stämme wie die Yanomami äußern sich ebenso, betonen eine Harmonie zwischen Indio, Tier und Pflanze.  Der Biologe Fabio Olmos in Sao Paulo, der bereits als UNO-Berater fungierte, sieht die Indianer, und ganz besonders die Guarani indessen keineswegs als Naturschützer:

“Schauen wir in die Berichte der Entdecker Amerikas – da wird die Brandrodung durch Indianer ebenso beschrieben wie deren unintelligente Jagd. In Nordamerika zum Beispiel haben die Indianer viel mehr Büffel getötet, viel mehr Tiere über Felksklippen in den Abgrund getrieben, als sie konsumieren konnten. Und unsere brasilianischen Indianer nutzten früher in den Atlantikwäldern und heute noch in den Savannen das Feuer, um Tiere dorthin zu treiben, wo die Jäger sind. In Nordbrasilien haben die Indianer einen ganzen Nationalpark vernichtet, haben eine riesige Flußinsel abgefackelt, um Weideland zu schaffen, haben das gesamte Gebiet an Viezüchter verpachtet.  Wir sehen also: Indianergruppen betreiben Artenvernichtung, agieren keineswegs umweltverträglich, führen wichtige Naturressourcen zum Kollaps, schaden sich damit selbst am meisten. Die sogenannten traditionellen Völker besitzen keine Philosophie der Naturbewahrung.“

Mario Mantovani ist Präsident der angesehenen Umweltstiftung „SOS Mata Atlantica“ in Sao Paulo, die für die Rettung der letzten Atlantikwälder kämpft. Mantovani mußte  miterleben, daß die Pataxo-Indianer im Teilstaate Bahia zuerst ihr Urwaldreservat durch Brandrodungen und Kahlschlag zerstörten, alles Edelholz verkauften. Und derzeit den berühmten Nationalpark „Monte Pascoal“ abholzen.

Wie steht Präsident Mantovani zu Auffassungen, wonach den Indios als exzellenten Hütern des Regenwaldes jede zerstörerische, gar kommerzielle Nutzung der Natur völlig fremd sei?

“Das ist natürlich eine idealisierte Sicht. In der Praxis läuft es so wie beschrieben. Wenn die Pataxo so weitermachen, gibt es auch im Nationalpark bald nichts mehr zum Abholzen. Und dann werden sie an die Straßen gehen und betteln – in den Teilstaaten Mato Grosso und Santa Catarina lief es genauso. Da hatten die Indios ihre Naturreserven ebenfalls restlos ausgebeutet. Diese idyllische, vereinfachende Darstellung der Indianer lassen wir lieber beiseite. Die Indios handeln wie jeder andere Naturzerstörer auch. Und deren Fähigkeit zur Zerstörung, deren Druck auf die Natur wächst – je mehr sich der Staat zurückhält, untätig bleibt.“

Während in den Veröffentlichungen der brasilianischen Stämme jeglicher Hinweis auf die Caça com Fogo, die Jagd mittels Feuer, fehlt, haben Fachleute des staatlichen Instituts für landwirtschaftliche Forschung, EMBRAPA, tausende Kilometer von Rio und Sao Paulo entfernt in Amazonien, dazu zahlreiche Studien angefertigt. Fabio Freitas zählt zu diesen EMBRAPA-Experten:

“Die Xavantes gehören zu jenen Stämmen, die diese Jagdmethode, den sogenannten Feuerzyklus,  aus alter Tradition heute noch oft nutzen. Auf einem großen Jagdgebiet werden die Tiere durch Flammen eingekreist und flüchten dann genau dorthin, wo die Jäger lauern, um sie zu töten. “

Fabio Freitas bestätigt, daß die Feuerjagd in Brasilien verboten ist, weil dadurch nicht zuletzt zahlreiche Jungtiere, die vor den Flammen nicht flüchten können, und natürlich auch ungezählte Insekten, herrliche seltene Schmetterlinge vernichtet werden.

„Für die Indianer gilt eine spezielle Gesetzgebung, sie haben in ihren Territorien eine bestimmte Autonomie. Seltene Tiere, für die in Brasilien ein Jagdverbot besteht, dürfen im Indianergebiet für den Eigenverbrauch getötet werden. Leider verkaufen Indios solches Wildbret verbotenerweise außerhalb der Reservate. Die Feuerjagd wirkt sich negativ auf die Natur aus und ist heute nicht mehr so effizient wie früher – weil es eben längst nicht mehr so viele Tiere gibt. Und immer wieder verlieren Indianer die Kontrolle über das von ihnen gelegte Feuer.“

EMBRAPA-Mitarbeiterin Terezinha Dias in Amazonien hat ebenfalls einschlägige negative Erfahrungen mit der Feuerjagd, nennt sie anachronistisch:

“Die ist ein ernstes, ein gravierendes Problem. Wir gehen oft in Indianergebiete und beobachten, daß sich die Flammen unkontrolliert ausbreiten. Die Stammesältesten sagen, von den jüngeren Jägern werde die Technik nicht mehr auf traditionelle Weise genutzt, weil Kenntnisse verloren gingen. Aber haben die Älteren wirklich besser gewußt, das Feuer bei der Jagd genau zu steuern?“

Im Amazonasteilstaate Mato Grosso, flächenmäßig mehr als zweieinhalbmal größer als Deutschland, leitet Arilton Ferreira die Feuerwehr und muß seine Leute mit Löschzügen immer wieder zu den 28 Indianerreservaten ausrücken lassen. Denn regelmäßig greifen die Jagdfeuer auf umliegende Wälder, auf Farmen über, richten enorme wirtschaftliche Schäden an. Und in den Indianerreservaten selber werden große Gebiete vernichtet. Von den rund zehntausend Hektar des Reservats der Tadarimana brennt letztes Jahr glatt die Hälfte ab, im letzten September sorgen die Tadarimana-Indios erneut für Feueralarm. Arilton Ferreira:

“Diese Feuerjagd ist wirklich eine absolute Verrücktheit – alle Stämme machen das bis heute wie in uralten Zeiten und müssen sich ja an unsere Gesetze nicht halten. Die Indianer verlieren die Kontrolle über das Feuer, legen es nachts, lassen es einfach weiterbrennen – und dann müssen eben wir von der Feuerwehr ran. Mit den Stammesältesten kann man über das Problem nicht reden – deshalb versuchen wir die Jungen von dieser Jagdtechnik abzubringen.  Weil die Indios aber so weiterjagen, Riesenschäden anrichten, haben wir die staatliche Indianerschutzbehörde FUNAI in Brasilia ganz offiziell aufgefordert, diese Jagdkultur zu ändern.“

Das war vor über einem Jahr. Hat die FUNAI inzwischen reagiert, konkrete Schritte eingeleitet? Mehrfache Anfragen beim zuständigen FUNAI-Sprecher Mayson Albuquerque im fernen Brasilia ergeben indessen sehr Überraschendes:

“Gemäß den von mir befragten FUNAI-Anthropologen gibt es keine Indianerstamm, der aus Tradition Feuer zur Jagd benutzt. Einen Indianer zu treffen, der zu diesem Thema eine Auskunft geben könnte, dürfte bei über zweihundert brasilianischen Stämmen sehr kompliziert sein. Sich einen herauszugreifen, der sozusagen im Namen aller spricht, wäre ungerecht. Da müßte man schon eine Untersuchung bei sämtlichen Stämmen anstellen. Das Problem der Brandrodungen existiert bei den Indios  – daß also Wald abgefackelt wird, um Weide-und Ackerland zu schaffen.  Aber ein Feuerjagd-Problem – nein, das gibt es nicht. Ich habe in der FUNAI niemanden angetroffen, der darüber Kenntnisse besitzt.“

Nach einigen Recherchen war es indessen gar nicht so schwierig, in Amazonien einen FUNAI-Experten ausfindig zu machen, der über die umstrittene Feuerjagd bestens Bescheid wußte. Nennen wir ihn sicherheitshalber Alexandre, um ihm Ärger mit seinen Vorgesetzten in Brasilia zu ersparen. Gibt es denn nun diese Jagdtechnik oder nicht?

“Doch – die gibt es – ich habe das bei den Xavantes selbst beobachtet. Und es existieren auch wissenschaftliche Studien darüber. Ich habe mit den Xavantes viel über diese Jagdmethode geredet. Mit Feuer jagen sie alle Arten von Tieren, brennen sich Flächen für den Ackerbau frei, was natürlich anachronistisch ist.  Diese Brände geraten manchmal außer Kontrolle, greifen auf andere Urwälder über. Und da wird es dann ein Riesenproblem. Doch Gewohnheiten, Verhaltensweisen lassen sich eben nicht so einfach abschaffen, verändern. Da triffst du auf so einen alten Indianer – und wenn der jagen will, legt er eben Feuer, wie seit ewigen Zeiten. Sowas muß man bekämpfen. Jüngere Indios tun es meist schon nicht mehr, sind bereits umweltbewußter. Ja – was wir in Brasilien sehr nötig brauchen, ist Umwelterziehung.“

Lepra in Brasilien: Die Wirtschaftsnation hat die höchste Lepradichte des Erdballs

Schwer zu begreifen – Brasilien, Lateinamerikas größte Demokratie, exportiert Flugzeuge und Hightech, Rindfleisch und Soja auch nach Deutschland, hat ein milliardenteures Weltraumprogramm. Doch wegen der enormen sozialen Kontraste, wegen Armut und Elend, grassiert in dem Tropenland weiterhin eine mittelalterliche Krankheit, die Lepra. In Deutschland konnte sie vor über zweihundert Jahren ausgerottet werden – lediglich durch verbesserte Lebensbedingungen, mehr Hygiene und ohne Therapien. In Brasilien dagegen nimmt die heimtückische Krankheit derzeit wieder zu.

„Es war furchtbar damals – man hat uns einfach aus der Familie herausgerissen – und hier wie Tiere hineingepfercht.“

Millionen von Brasilianern sind von Lepra gezeichnet, haben schwere Nervenschäden, sind verkrüppelt. Einer von ihnen ist Sebastiao dos Santos. Als junger Mann wird er 1953 von der Polizei abgeholt und in die Leprakolonie von Pirapitingui bei Sao Paulo gebracht – eine Art Konzentrationslager für über fünftausend Lepra-Betroffene.

Nur sechs Jahre später hätte er wieder frei sein können. Denn 1959 empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation allen Staaten, Leprakranke nicht länger gewaltsam von der Außenwelt, von ihren Mitmenschen zu isolieren. Denn es gab inzwischen hochwirksame Medikamente, die den Leprabazillus rasch abtöteten. Länder wie Brasilien und selbst Japan behielten indessen gegen die WHO-Empfehlung noch Jahrzehnte die grausame Praxis bei. Sebastiao dos Santos und Hunderttausende andere wurden ihrer grundlegenden Menschenrechte beraubt, ja, ihnen wurde das Leben zerstört.

“Man hat uns wie Versuchsratten behandelt, hat uns nicht die nötigen Medikamente gegeben. Und weil ich mich beschwerte, hat man mich für geistesgestört, für verrückt erklärt und in die psychiatrische Anstalt dieser Kolonie hier gesperrt – jahrelang. Denn so war das damals – wer gegen die Zustände, gegen die Autoritäten aufbegehrte, kam in die Psychiatrie oder in den Koloniekerker. Ich war ja damals verheiratet – aber hatte nicht einmal das Recht, meine Frau und meine Kinder zu sehen. Hier drinnen gab es keinerlei Gesundheitspersonal – wir betreuten uns gegenseitig. Krankenpfleger waren jene Leprakranken, denen es etwas besser ging. Die Ärzte blieben auf Distanz. Sogar unsere Toten mußten wir selbst begraben.“

Der Bruder von Santos, Benjamin, ist sehr gebrechlich, sitzt im Rollstuhl, hat keine Zähne mehr.

“Das war hier ein Strafregime – die Gefängniswärter und die Koloniepolizei waren brutal, böse, ekelhaft – die hatten keinerlei Mitleid mit uns.“

Heute ist für die mehreren hundert Überlebenden der Kolonie, die vom Staat nur notdürftig ernährt und bekleidet werden, ein besonderer Tag. Sie hocken auf Bänken im armseligen Versammlungsraum der Kolonie und können kaum glauben, was ihnen Artur de Sousa, Präsident des brasilianischen Lepraopferverbandes MORHAN, da erklärt:

“Ihr alle habt ab sofort das Recht auf eine Pension. Mit diesem Geld bittet der Staat um Verzeihung für all das, was er euch zugefügt hat. Man hat euch gejagt, auf Müllautos geworfen und hierher verschleppt, euch aller Bürgerrechte beraubt. Und als 1986 die Zwangsisolierung in Brasilien endgültig aufgehoben wurde, hat man die Leprakolonien einfach sich selbst überlassen – manche wurden zu Slums.“

Über dreißig solcher Kolonien gibt es noch, bis hinauf nach Amazonien – und auch die Kolonie von Pirapitingui bei Sao Paulo macht einen deprimierenden Eindruck. Wohnhäuser und Krankengebäude wirken heruntergekommen, psychisch Gestörte torkeln über die Wege oder sitzen auf Betonmäuerchen, dämmern dahin. Nach dem Ende der Zwangsisolierung wußten die allermeisten Lepraopfer schlichtweg nicht wohin. Staatliche Geldhilfen bekamen sie nicht, von ihren Angehörigen wurden sie nur zu oft zurückgewiesen, abgelehnt. Also hausten sie dort weiter, von der Gesellschaft ausgeschlossen wie bisher. In Pirapitingui steht auch der mittelalterlich wirkende Kerker noch. Der Schwarze Wagner Marques war dort mehrmals inhaftiert, lebt jetzt nur ein paar Schritte entfernt in einem schlichten Koloniehäuschen.

“Ich war geflohen – aber in Sao Paulo haben sie mich wegen meines Anstaltshemds erkannt und geschlagen. 126 Tage wurde ich dann in diesen Kerker gesperrt. Dabei war ich gerade einmal dreizehn Jahre alt.“

Wagner Marques und die anderen bekommen demnächst umgerechnet etwa dreihundert Euro Pension monatlich von der Regierung.

In Japan wurde die Zwangsisolierung sogar bis 1990 beibehalten – die Betroffenen erhielten eine Wiedergutmachung – der Gesundheitsminister bat sie alle öffentlich um Verzeihung.

Bis Brasilia diesem Beispiel folgte, war harter Kampf nötig. Artur de Sousa vom Lepraopferverband MORHAN berichtet davon in Pirapitingui:

“Wir haben nicht locker gelassen, auf eure Rechte gepocht.  Und 2005 haben wir sogar die UNO-Menschenrechtskommission in die Leprakolonien geführt, haben danach auf die Regierung immer mehr Druck gemacht.“

Dann spielt er den Koloniebewohnern ein Video von der jüngsten Audienz bei Staatschef Lula vor.

“Euer Verband hat uns politisch sensibilisiert – mit der Entschädigung wollen wir all jenen die Menschenwürde zurückgeben, die so Entsetzliches erleiden mußten und keinerlei Schuld dafür trugen.“

Ein Leprageschädigter im Rollstuhl antwortet in Brasilia dem Präsidenten prompt:

“Diese Pension ist nur zu gerecht – denn man hat uns in wahre Konzentrationslager gesperrt, uns aus der Gesellschaft ausgestoßen.“

“Viele Betroffene müßten mehr erhalten“, sagt Artur de Sousa von MORHAN „Doch diese Summe war das Höchstmögliche, was wir bei der Regierung erreichen konnten. Pensionsberechtigt sind maximal zwanzigtausend – alle sind bereits sehr alt und werden von dem Geld kaum noch viel haben. Erschreckend ist, daß die Lepra wieder zunimmt. Letztes Jahr wurden 52000 neue Fälle registriert. Brasilien ist laut Weltgesundheitsorganisation das Land mit der höchsten Lepradichte.“

Nur in Indien, mit weit mehr Bewohnern als Brasilien, ist die Zahl der Leprakranken höher, die Leprarate indessen geringer. In Brasilien kommt erschwerend hinzu, daß das Bildungsniveau der armen Bevölkerungsmehrheit extrem niedrig ist, es viele Analphabeten gibt. Von diesen Menschen ist schwerlich zu erwarten, daß sie Leprasymptome bemerken und dann sofort einen spezialisierten Gesundheitsdienst aufsuchen. Der Verband MORHAN fordert deshalb, daß der Staat systematisch nach Infizierten sucht, wodurch sich die Heilungschancen stark erhöhen und die Risiken grauenvoller Spätschäden deutlich verringern würden.

Die Megacity Sao Paulo ist Lateinamerikas reichste Stadt. Doch selbst hier ist Lepra ein Problem, eine soziale Tragödie.

Den staatlichen Gesundheitsposten, Posto de Saude,  im Stadtteil Jabaquara beispielsweise, erkennt man schon von weitem. Die lange Schlange der Hilfesuchenden reicht bis auf die Straße, die  Ausstattung des zweistöckigen Betongebäudes ist simpel bis primitiv. Der Mittel-und Oberschicht sind Privatkliniken, Privatpraxen vorbehalten – hier im Gesundheitsposten läßt sich nur die Unterschicht behandeln, trifft man Bewohner der über zweitausend Slums von Sao Paulo. Ein einziger enger Raum von etwa zwölf Quadratmetern ist für die Betreuung der Leprakranken gedacht. Paulo Carraro, 25, ein junger arbeitsloser Schwarzer, hat erst vor kurzem entdeckt, daß er Lepra hat.

„Auf einem dieser Aufklärungsplakate waren die typischen Lepra-Hautflecken abgebildet – und da dachte ich, Mensch, die habe ich ja am ganzen Körper. Und da, wo die Flecken sind, fühle ich auch überhaupt nichts mehr. Ich bin zum nächsten Gesundheitsposten, aber die Ärzte wußten nicht, was das war. Erst hier haben sie Lepra festgestellt. Meine Familie zuhause war baff – Lepra, was ist das denn, wie hast du dir das geholt? Ich wußte es ja auch nicht. Und nun nehme ich hier alle möglichen Medikamente.“

Die haben indessen Nebenwirkungen, was Leprakranken, die ohnehin stigmatisiert sind, das Leben im Alltag zusätzlich erschwert.

“Ja, ich werde diskriminiert, kriege höchstens mal einen Gelegenheitsjob. Weil ich von den Medikamenten gerötete Augen, ein angeschwollenes Gesicht habe, sagen die Leute, daß ich betrunken herumlaufe, viele Drogen nehme. Die sagen, hör mit dem Rauschgift auf! Ich habe jetzt ständig Kopfschmerzen, mein Leben ist jetzt wirklich grauenhaft.“

Paulo Carraro kann dank der Medikamente inzwischen zwar niemanden mehr mit Leprabazillen anstecken, doch da die Krankheit bereits weit fortgeschritten war, muß er mit gravierenden Spätfolgen rechnen.

Marlene Ribeira Cardoso, ebenfalls eine Schwarze sowie Mutter von drei Kindern, braucht mit öffentlichen Bussen bis zum Gesundheitsposten zweieinhalb Stunden, denn in ihrer Slumregion gibt es keine Leprabehandlung.

“Ich bin zwar seit sieben Jahren von Lepra geheilt, aber ich habe eben diese schrecklichen Folgeschäden. Meine Füße, meine Beine sind stark angeschwollen, sind wie eine offene Wunde, schon seit zwanzig Jahren. Das tut sehr weh, auch bei jedem Schritt in diesen schweren Spezialschuhen. Meine Hände sind verkrüppelt und ohne Gefühl. Vor kurzem habe ich einen heißen Topf vom Herd genommen und das nicht gespürt, habe mir alles verbrannt.“

Inzwischen bekommt Marlene Ribeira Cardoso eine Invalidenrente, umgerechnet gerade einmal rund 130 Euro. Im Gesundheitsposten werden ihr regelmäßig neue Wundverbände angelegt. Sie ist Analphabetin und ein geradezu typischer Fall:

“Ich war Weberin in einer Textilfabrik, arbeitete nur nachts. Und als meine Füße dick und rot wurden, sagte der Arzt, das ist schlechte Blutzirkulation und Rheuma. Er hat mich jahrelang völlig falsch behandelt, bis in einem Hospital ein anderer Arzt zufällig meine verkrüppelten Hände sah, Lepra feststellte. Meine Familie wollte das nicht glauben, Lepra, sowas gibt es garnicht. Wegen der Nebenwirkungen haben meine Angehörigen die Medikamente immer wieder weggeworfen, haben mir gesagt, siehst du, das Zeug ist nicht gut für dich. Daher habe ich die Behandlung eben immer wieder unterbrochen, hat sich alles nur verschlimmert. Hätten die Ärzte frühzeitig Lepra festgestellt und mich ordentlich behandelt, wäre ich heute nicht so verkrüppelt.“

Ein öffentliches Hospital an Sao Paulos Peripherie, umgeben von Elendshütten und Katen. Die junge Ärztin Maria Paim diagnostiziert dort geradezu serienweise Lepra, startet deshalb aus eigener Initiative Aufklärungskampagnen, macht sich damit bei Kollegen und Vorgesetzten unbeliebt.

“Unser öffentliches Gesundheitswesen ist sehr schlecht, gegen die Lepra müßte viel mehr getan werden. Schließlich sind Millionen von Brasilianern betroffen. Wir haben mehr Fälle von Lepra als von Aids in Brasilien – nur werden die Leprafälle eben nicht korrekt registriert. All das ist eine Schande. Ich meine, die Lepra wird in Brasilien nie ausgerottet. Andernfalls müßte man ja die Slums beseitigen, die Lebensbedingungen der Armen und Verelendeten durchgreifend verbessern. Doch unsere Autoritäten wollen sich diesem sozialen Problem nicht stellen, das ist ihnen unbequem, lästig. Man denkt – sollen diese Leprakranken doch ruhig in den Slumsvor die Hunde gehen, sterben – denn dort sind sie ja eingesperrt. Menschen, die dringend behandelt werden müßten, werden aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Es gibt so viele arbeitslose Mediziner, die man zur Leprabekämpfung einsetzen könnte!“

Nach Ansicht der Ärztin fehlt schlichtweg politischer Wille, die Lepra auszurotten, fehlt es an Forschung sowie an Aufklärung schon in den Schulen. Probleme machen zudem die Sekten, aber auch das organisierte Verbrechen, das die Slums beherrscht.

„Lepra betrifft alle gesellschaftlichen Bereiche, selbst die Religion. Denn wir haben Infizierte, die sich nicht behandeln lassen, weil sie glauben, Lepra sei eine Strafe Gottes, die man eben aushalten müsse. Und in den Gangsterkommandos der Slums gibt es viele Banditen mit Lepra, die einer Therapie fernbleiben, weil sie nicht gesehen werden wollen. Auch dadurch wird die  Krankheit weiter übertragen. Ich arbeite in einer sehr gewalttätigen Stadtregion – in meinem Hospital wurden bereits fünf Raubüberfälle auf Ärzte verübt, wurde ein Kollege sogar entführt. Bei der Leprabekämpfung läuft wirklich alles falsch.“

Rosane Vieira ist Krankenpflegerin und Aktivistin des Lepraopferverbandes MORHAN – zum wöchentlichen Treffen ihrer Gruppe in Sao Paulo kommen auch viele Leprageschädigte.

“Nur durch gesellschaftlichen Druck wird sich die Lage ändern. Der Staat tut alles, um die Leprabekämpfung zu stören, zu erschweren. Man will möglichst niedrige Krankenzahlen. Ist der Bazillus bei den Infizierten nach kurzer Zeit abgetötet, fliegen sie aus der offiziellen Leprastatistik. Doch genau dann beginnen erst die schweren Gesundheitsprobleme. Wer mit offenen Wunden, mit deformierten Händen und Beinen zu einem Gesundheitsposten geht, wird dort nicht als Kranker registriert.“

MORHAN-Präsident Artur de Souza ist immer wieder in den rasch wachsenden Slums von Sao Paulo unterwegs.

“Dort ist das Lebensniveau am niedrigsten und deshalb Lepra am häufigsten. In Sao Paulo werden jährlich rund 6000 neue Leprafälle registriert, aber dennoch Behandlungsstellen geschlossen. Wir sind ein widersprüchliches Land. Wir haben die typischen Zivilisationskrankheiten, doch auch noch Krankheiten aus dem 17. Jahrhundert. Auf Brasilien entfallen 97 bs 98 Prozent aller Leprafälle Nord-und Südamerikas. Um die Lepra auszurotten, ist eine bessere Einkommensverteilung fundamental. Deshalb müssen wir weiterkämpfen, uns mit der Regierung, mit den Behörden anlegen. Ich mache das schon zwanzig Jahre.“

“A Guerra continua“ – der Krieg geht weiter

Die Macht des organisierten Verbrechens in Brasilien

Nach der Welle von Attentaten und Häftlingsrevolten in Brasilien hat sich die Lage bisher nur wenig beruhigt. „A guerra continua“, der Krieg geht weiter, kommentieren die Medien, es sei wie im Irak. Im ganzen Land brechen nach wie vor Gefangenenrebellionen aus, ermorden die Banditenmilizen Polizeibeamte und sogar Marineinfanteristen, legen den Verkehr lahm, stecken Busse in Brand.  Die Gangstersyndikate demonstrieren weiter ungebrochen ihre Macht, die Ursachen der Gewalt sind sehr komplex. Menschenrechtler warnen vor einem Rachefeldzug der Polizei. Jährlich werden in Lateinamerikas größter Demokratie über fünfzigtausend Menschen umgebracht, weit mehr als im Irakkrieg, wie die Presse betont. Brasiliens Kirche spricht seit langem von einem nicht erklärten Bürgerkrieg, dem „guerra civil nao-declarado“.

Lateinamerikas führende Wirtschaftsregion Sao Paulo, mit Multis wie Volkswagen, Siemens, Daimler-Chrysler, Bosch und BASF, wird derzeit von  Gouverneur Claudio Lembo regiert. Er gehört zur Rechtspartei PFL, in der es von Diktaturaktivisten und anderen archaischen Figuren wimmelt. Auf dem Höhepunkt der jüngsten Attentatswelle schickt der Gouverneur per Flugzeug eine Verhandlungsdelegation zum inhaftierten Gangsterboß Marcola, erreicht einen Stopp der Attentatswelle. Doch der dauert nicht einmal zwei Tage. Denn viele einfache Polizisten, die umgerechnet nur einige hundert Euro im Monat verdienen, wollen jetzt ihre ermordeten Kollegen rächen, töten serienweise tatsächliche oder vermeintliche Kriminelle. Brasiliens wichtigstes Verbrechersyndikat, das „Erste Kommando der Hauptstadt“, kurz PCC, reagiert mit neuen Anschlägen. Viele Polizisten fühlen sich als Kanonenfutter im „Guerra urbana“, dem Stadtkrieg.

“Ich habe nur den armseligen Revolver, doch die Banditen haben massenhaft Maschinenpistolen“, sagt dieser Polizeiwachtmeister. „Wenn die auf uns feuern, haben wir keine Chance zur Gegenwehr, dann sind wir geliefert.“

Staatschef Lula hat die Ausgaben für öffentliche Sicherheit in den letzten Jahren stark gekürzt. Gut für die Gangstersyndikate. Sie haben hunderttausende unter Waffen, auch Jugendliche, sogar Kinder. Ausgerüstet selbst mit NATO-Sturmgewehren und  Kalaschnikows, mit Raketenwerfern, mit Granaten. Die Gangsterbosse leben in den Nobelvierteln der Elite. Ihre Banditenmilizen herrschen neofeudal über den Parallelstaat der riesigen Slums, verteidigen ihn gegen rivalisierende Kommandos, aber auch gegen die Polizei.

Eine Afghanin, die größtenteils in Aachen aufgewachsene Maryam Alekozai, machte in den Slums von Sao Paulo ihr soziales Jahr.

“Tagsüber, nachts fallen Schüsse, immer wieder verlieren Kinder ihre Väter. Das ist hier gar nicht so anders wie damals in Afghanistan, als ich klein war. Der Unterschied zwischen einem fünfjährigen Mädchen hier und in Deutschland ist so unglaublich groß! In den Augen der brasilianischen Kinder sehe ich tiefen Haß und Wut. Man blickt nicht in Kinderaugen, sondern eigentlich in Augen von Erwachsenen, die voller Aggressionen sind. Gewalt und Ungerechtigkeit, die in diesem Land herrschen, spiegeln sich in deren Augen unübersehbar.“

Laut Marina Maggessi, Rio de Janeiros Chefinspektorin der Zivilpolizei, liquidieren die Banditen seit fünfzehn Jahren systematisch Polizisten, allein in Rio täglich drei bis vier Beamte, also rund 1500 im Jahr. Wie agieren die Banditen?

“Das sind Tyrannen – sie verbrennen Menschen lebendig, zerstückeln Mißliebige, begehen Greueltaten jeder Art, herrschen über die Slums mit aller Brutalität.“

Staatschef Lulas Kulturminister Gilberto Gil, der als Musiker auch in Deutschland auftritt, wollte mit Arbeitsminister Ricardo Berzoini, heute Chef der Arbeiterpartei von Lula, einen Slum in Rio de Janeiro besuchen. Also wurde vorher, wie die Medien berichteten, mit den Gangsterbossen die Erlaubnis ausgehandelt – Gil und Berzoini fahren wie gefordert, ohne Bodyguards oder Polizeieskorte hinein.

“Das ist ein Skandal“, sagt Gewaltforscher Paulo Sergio Pinheiro in Sao Paulo. „Geschähe derartiges in Berlin, Paris oder London, würde das im Parlament debattiert, würde die Regierung stürzen!“

Aber warum haben die Gangstersyndikate so viel Zulauf, lassen sich so viele junge Menschen rekrutieren? Auch die Kirche weist auf die soziale Apartheid, die tiefverwurzelte Kultur der Gewalt und Korruption, auf die perversen Sozialkontraste in der immerhin dreizehnten Wirtschaftsnation. Doch auffällig ist, daß die vielen Millionen von Slumbewohnern Sao Paulos oder Rios sich nicht organisieren, nicht auf die Straße gehen, nennenswerter Protest ausbleibt. Bischöfe und Padres sagen, der Banditenterror verhindere politische Aktivitäten, mache apathisch. Ganz im Sinne der Eliten. Josè Murilo de Carvalho, einer der führenden Intellektuellen, dazu Mitglied der brasilianischen Dichterakademie, sieht es genauso:

“Die Existenz des organisierten Verbrechens in den Slums blockiert die Politisierung der Bewohner, hält sie ruhig, verhindert eine Rebellion, Protestaktionen jeder Art. Die Gangsterkommandos dienen damit der Aufrechterhaltung von politischer Stabilität im Lande – und das ist den Autoritäten sehr recht, ist gut für sie. Ohne Zweifel gehört zum strategischen Kalkül auch der jetzigen Regierung, daß es wegen der so hilfreichen Gangsterkommandos keine soziale Explosion geben wird – und das ist natürlich reiner Zynismus.“

Brasiliens Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“ analysiert, daß selbst Politiker, Richter und Polizisten zum organisierten Verbrechen gehören, es sogar Wahlkampagnen finanziere. Die Lula-Regierung steckt derzeit tief im Korruptionssumpf. Generalstaatsanwalt Antonio de Souza hat kürzlich gegen mehrere Dutzend enger Freunde und Mitarbeiter Lulas, die Minister-und Parteiämter bekleideten, Anzeige beim Obersten Gericht gestellt. Er definierte sie, so wörtlich, als „Mitglieder einer hochentwickelten kriminellen Organisation, einer Bande“.

„Es ist alles auf Lügen aufgebaut“

Brasiliens Militär realisiert derzeit mit Hochdruck ein gigantisches, milliardenteures Flußumleitungsprojekt am Rio Sao Francisco, demnächst stoßen Baukonzerne dazu. Die nationalen Umwelt-und Sozialbewegungen, große Teile der Kirche und selbst ausländische Experten laufen indessen gegen das Vorhaben Sturm, nennen es sinnlos, antidemokratisch und unethisch.

Am gewaltigen Nordoststrom Rio Sao Francisco legen Tausende von Soldaten derzeit mit schwerem Gerät zwei Kanäle an, die Flußwasser gleich in mehrere benachbarte Teilstaaten führen sollen. Die katholische Kirche spricht von einer Militarisierung der gesamten Region – die dortige Bevölkerung werde unter Druck gesetzt, das pharaonische, so heftig umstrittene Bauprojekt zu akzeptieren. Staatspräsident Luis Inacio Lula da Silva betont indessen immer wieder im Fernsehen, daß die Milliarden an Steuergeldern für einen guten Zweck eingesetzt würden.

“Zwölf Millionen Menschen in den Teilstaaten Rio Grande do Norte, Pernambuco, Paraiba und Ceará brauchen das Wasser zum Überleben. Und ich habe keinerlei Zweifel – ich stehe an der Seite der Armen dieses Landes. Dieses Projekt wird fortgeführt. Und ich will, bevor ich sterbe, daß diese Menschen, die das ganze Leben lang Wasser in Blechkanistern auf dem Kopfe nach Hause schleppten, endlich Trinkwasser nahe ihrer Behausung haben!“

Bischof Luiz Flavio Cappio, der am Ufer des Rio Sao Francisco gleich zweimal gegen die Flußumleitung in den Hungerstreik getreten war, wirft indessen Staatschef Lula und seiner Regierung vor, die Bevölkerung des Nordostens zu belügen. In Wahrheit begünstige das Projekt lediglich Baukonzerne, Industrie und Exportlandwirtschaft.  Mit „Industrie“ meint Bischof Cappio auch die sogenannte „Industria da Seca“, die Dürre-Industrie – in Brasilien ein geflügeltes Wort. Denn die archaischen Nordost-Eliten pressen der Zentralregierung, und somit dem Steuerzahler, seit vielen Jahrzehnten hohe Subventionen ab, um damit angeblich die Dürre und deren Folgen zu bekämpfen.

Der Schweizer René Schärer, der zu einem internationalen Netzwerk von Fischerei-und Wasserschutzexperten gehört, lehnt das Umleitungsprojekt ebenfalls scharf ab.

“Es ist alles auf Lügen aufgebaut.“

Schärer hat sein Büro im Teilstaat Ceará und weist auf den nahen, hoch subventionierten Hafen Pecem, nennt ihn eine von zahlreichen absurden Fehlplanungen.

“Dort, wo ein schöner Strand war, ist jetzt ein Hafen. Der Hafen ist heute dreißig Prozent ausgenützt. Da soll jetzt ein Stahlwerk gebaut werden, das Wasser braucht vom Rio Sao Francisco, Kohle aus China – und das Geld aus Korea und Italien.“

Brasiliens Nordosten zählt offiziell zu den sogenannten Trockenzonen. Im letzten Jahrhundert hatte man deshalb Wasserexperten aus Israel zu Hilfe gerufen, die jedoch überrascht feststellten, daß es in jenen „Trockengebieten“ weit mehr regnet als in ihrem Land, Ratschläge also gar nicht nötig seien. Wasser fehlt keineswegs – sagt auch der Schweizer René Schärer:

“Es ist genügend Wasser da – es ist nur falsch verteilt.“

Auch im Wasserbereich, so besagt eine neue seriöse Studie, sind Brasiliens Probleme hausgemacht, könnten mit sinnlos verschwendetem Trinkwasser, das beispielsweise aus löchrigen Leitungen ausläuft, zusätzlich 38 Millionen Brasilianer problemlos versorgt werden – also eine Bevölkerung von der Größe Argentiniens. Staatschef Lula sprach dagegen lediglich von 12 Millionen künftigen Trinkwasserempfängern. Laut René Schärer gibt es zahlreiche gute, effiziente und dazu billige Alternativen zur gigantischen Flußumleitung, darunter die von der katholischen Kirche, der brasilianischen Caritas geförderten Zisternen zum Auffangen von Regenwasser.

“Heute sind wir bei 220000 Zisternen – und das bewährt sich.“

Zudem wächst das Selbstbewußtsein der Menschen in den verarmten, verelendeten Projektgemeinden.

“Die kriegen das Material und machen die Zisternen. Dadurch werden sie organisiert. Die Zisternen sind nur der Anfang. Der zweite Schritt: Wie können wir mit dem wenigen Wasser etwas produzieren?“

In Brasilien entscheiden seit zehn Jahren öffentliche Verbraucherkomitees der Trinwasser-Einzugsgebiete laut Gesetz über Wasserprojekte. René Schärer nennt das „Demokratie in Reinkultur“ und erinnert daran, daß das Komitee vom Rio Sao Francisco gegen die Umleitung votiert hat.

“Also dürfte die eigentlich nicht passieren. Es ist gegen die Demokratie. Was es braucht, ist, die zu mobilisieren, die kein Wasser kriegen.“

Bossa Nova politisch – wie standen die Stars zu Hitler, zum zweiten Weltkrieg, zur brasilianischen Militärdiktatur?

Brasilien, die ganze Welt, feiern 50 Jahre Bossa Nova – erinnert wird an die Geburt eines neuen Musikstils, an jene Single mit den ersten beiden Bossa –Nova-Hits: Chega de Saudade, Schluß mit der Sehnsucht, jenes damals als „Samba-Cancao“, Samba-Lied, deklarierte Stück von Tom Jobim und Vinicíus de Morais, sowie an das schlichte „Bim-Bom“ von Joao Gilberto auf der Rückseite. Indessen wird gewöhnlich ausgeklammert, wo die Stars der Bossa Nova politisch standen, wie sie sich beispielsweise zu Hitler und dem zweiten Weltkrieg, zur 21 Jahre währenden Militärdiktatur Brasiliens sowie generell zur grauenhaften Menschenrechtslage in dem Tropenland, zu den entsetzlichen Sozialkontrasten, zum Massenelend verhielten. Da kommt Desillusionierendes zutage.

Tom Jobim am Flügel – mit dem berühmten “Girl from Ipanema”, in der portugiesischen Version. Die Worte sind von seinem engen Freund Vinicius de Morais – ein Karrierediplomat und Poet, wichtigster Texter der Bossa Nova. In den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zählt Morais zu den führenden Intellektuellen des Tropenlandes, gehört zur ultrarechten Partei der „Integralistas“, die Beziehungen zur NSDAP pflegt, ein totalitäres Brasilien anstrebt. „Integralistas“ gehen mit Gewalt gegen Juden, Schwarze, Ausländer vor. Der brasilianische Bossa-Nova-Experte Ruy Castro erinnert daran, daß Morais zu Beginn des zweiten Weltkrieges sogar auf Seiten der Wehrmacht, auf Seiten Hitlers und dessen Verbündeten stand.

“Das war damals überhaupt kein Geheimnis, alle wußten das. Vinicius de Morais und eine große Zahl von Intellektuellen hatten Sympathien für Mussolini und Hitler. Zu Kriegsbeginn trat Morais für Deutschland ein, wie zahlreiche andere Intellektuelle von den Integralistas, einer brasilianischen Version des Nazismus. Ja, der hatte Sympathien für das nazistische Deutschland, für das faschistische Italien – ließ sich später aber davon abbringen.“

Das war etwa 1942, als Brasiliens damaliger Diktator, der Hitler-Verehrer und Judenhasser Getulio Vargas, auch auf Druck der USA umschwenkt, um nicht auf der Verliererseite zu stehen. Deutschland wird noch der Krieg erklärt. Auch nach 1945 bleibt Brasilien ein Land mit Sklaverei, extrem archaischen Eliten und Massenelend, wüten auch in den Slums über der Copacabana und über Ipanema Lepra und Tuberkulose. Selbst manchen der betuchten, aus der Mittelschicht  stammenden Bossa-Nova-Musiker in Rios Nobel-Strandvierteln geht daher die strikt kultivierte, sentimentale und realitätsfremde Liebe-Blumen-Meer-Masche relativ rasch auf die Nerven, man vermißt schlichtweg Inhalte. Daher die Spaltung zwischen Politisierten, sozial Engagierten und politisch Indifferenten, zwischen Linken und Rechten. Ruy Castro:

„Zur Spaltung kam es, weil einige sich eben für Politik interessierten, und von den anderen, desinteressierten forderten, politisch Position zu beziehen. Doch die wollten weiter nur Musik machen, ihr Künstlerleben  fortsetzen – darunter Tom Jobim, Joao Gilberto, Roberto Menescal. Solche Musiker wurden dann eben als realitätsfremd, oder sogar als rechts eingestuft. Wer sich im Bossa-Nova-Spektrum mit Politik befaßte, waren doch nur zwei oder drei – wie Carlos Lyra, Sergio Ricardo, Geraldo Vandré. Tom Jobim sagte mal provozierend-spaßig, er gehöre zur Biertisch-Rechten. Texter Vinicius de Morais schuf zwar einige Poesien, die zu Klassikern der Linken wurden – aber Politik mochte er im Grunde garnicht.“

1964 putschen Brasiliens Militärs und bleiben bis 1985 an der Macht. Sie verhaften, foltern, lassen Ungezählte „verschwinden“. Bei Rio werden politische Häftlinge den Haien lebendig zum Fraß vorgeworfen. Wer es wissen will, erfährt es auch. Die Realitätsfremden, Apolitischen halten sich weiterhin heraus – wenigstens ein kleines Häuflein der Bossa-Nova-Szene komponiert Protestlieder, geht damit auf die Straße.

Joao Gilberto lebt inzwischen in den USA – ein Jahr nach dem Militärputsch besucht er Brasilien. Jene neue „Musica do Protesto“ interessiert ihn überhaupt nicht, er nennt sie „bobagem demagogico“, demagogische Dummheit. Experte Ruy Castro bestätigts:

“Ja, exakt so war das – und nicht nur er, viele Leute dachten so. Diese Protestmusik wirkte tatsächlich eher künstlich, die konnte man einfach nicht ernst nehmen. Joao Gilberto mochte sie überhaupt nicht.“

Den Gegenpol bildet Bossa-Nova-Star Carlos Lyra, Exponent des linken Lagers.

“In Wahrheit war ich der einzige Linke in der Bossa Nova – der Rest war garnichts, oder eben rechts. Ich hielt es für  Feigheit, keinerlei Position gegen das Militärregime zu beziehen. Diese Leute dachten, wenn ich mich engagiere, könnte ich ja bestraft werden – also halte ich mich lieber raus. Rios Strand-Südzone war die Region der Mittelschicht, die völlig mit der Diktatur übereinstimmte, war ein Bollwerk der Rechten oder der Realitätsfremden. Alle total zufrieden mit der Diktatur! Und in dieser Südzone lebten ja die großen Namen der Bossa Nova – alle entfremdet! Es gab die Biertisch-Linke, die nur vor den Frauen angeben wollte – aber nichts tat gegen das Regime, gar keine politischen Überzeugungen hatte. Ich gehörte damals zu den organisierten Diktaturgegnern, wir haben sogar die Guerillha unterstützt.“

Der brasilianische Musiker und Poet Marcelo Yuka – Zusammenarbeit mit Marisa Monte, Manu Chao, Paulo Lins, Landlosenführer Joao Pedro Stedile

Im Kulturleben Brasiliens zählt der Musiker und Poet Marcelo Yuka zu den erstaunlichsten Talenten. Vor sechs Jahren wurde er von neun Banditenkugeln getroffen, sitzt gelähmt im Rollstuhl. Doch Yuka gibt nicht auf, widmet sich seitdem noch intensiver den sozialen Widersprüchen des Tropenlandes, der komplexen Realität in den Ghettos der Millionenstädte wie Rio de Janeiro und Sao Paulo. Yukas neue CD „Sangueaudiencia“, Blutaudienz, herausgekommen bei Sony-BMG, ist die sozialkritischste der letzten Jahre.

Die CD „Sangueaudiencia“ von Marcelo Yuka provoziert, attackiert, zerstört sozialromantische Brasilienklischees und ist zudem ein Gemeinschaftswerk  von Künstlern verschiedenster Genres. Das Vorwort, eine Art politisches Manifest, stammt von keinem geringeren als Paulo Lins, Autor des Bestsellers „Cidade de Deus“, Gottesstadt, Co-Regisseur des Spielfilms „City of God“, der auch in den deutschen Kinos erfolgreich lief. Lins spricht von „grauenhafter sozialer Ungleichheit, geradezu krimineller Einkommensverteilung“, perversen Machteliten, geheimen Friedhöfen und den modernen Scheiterhaufen der Slums.

Zu hören sind Stars der Weltmusik wie Marisa Monte und Manu Chao – wie hier im Song über die längst nicht bewältigte Diktaturvergangenheit Lateinamerikas.

Außergewöhnlich zudem, wie Joao Pedro Stedile, Führer der auch von den deutschen Kirchen unterstützten Landlosenbewegung, in einem Song minutenlang die Eliten Brasilien, die Sklavenhalter von heute mit ihren Riesenfazendas kritisiert.

Just wegen des sozialkritischen Inhalts, so Marcelo Yuka, ist die CD jedoch in Brasilien kaum bekannt, keineswegs ein Erfolg.

“Wenige Leute wagen sich heute in Brasilien so weit vor, schildern die Zustände so schonungslos. Deshalb wird so eine CD eben nicht in den Radios gespielt, werde ich mit solchen Ausdrucksformen im Ausland mehr verstanden als hier.“

Der Fotograf Rogerio Reis, ein enger Freund von Yuka, stellt derzeit in Paris eine aufsehenerregende Fotoinstallation namens Microonda, Mikrowelle aus, die jene Scheiterhaufen aus Autoreifen zeigt, auf denen die Kommandos des organisierten Verbrechens in den Slums regelmäßig Mißliebige, darunter Bürgerrechtler, lebendig verbrennen. Ein Teil der Fotos ist im Beiheft der CD abgebildet, die jenen Scheiterhaufen und dem neofeudalen Normendiktat der Gangstersyndikate einen Titel gewidmet hat. Im Refrain immer wieder eindrücklich die Zeile: „Mas ha um cheiro de pneu queimado no ar“ – Aber es ist doch Geruch brennender Autoreifen in der Luft…“

“Mit dieser Musik zeige ich Paradoxes, Absurdes, nicht nur die Parallelregierungen der Slums. Wir leben hier alle ganz in der Nähe bizarrer, unglaublicher Vorgänge wie das Verbrennen von Menschen, was beinahe alltäglich ist – ebenso wie obskure Folterpraktiken oder das Zerstückeln von Menschen. Und ich schildere in dieser Musik jemandem, der nicht mehr in seine Schule gehen, nicht mehr seine Angehörigen treffen kann. Weil die Schule eben im Machtbereich eines anderen Verbrechersyndikats liegt, in dem auch dessen Angehörige wohnen. Betrete ich einen Slum und benutze von den Banditenkommandos verbotene Begriffe, verbotene Kleidung, kann ich ermordet werden. Die Regierung hat zugelassen, daß das organisierte Verbrechen in diesen Zonen so stark wurde.“

Marcelo Yuka empört die Indifferenz der Bessergestellten, auch der allermeisten Intellektuellen und Künstler, angesichts der gravierenden Menschenrechtverletzungen. Im Titel „Ego-City“ attackiert er die Indifferenz jener, die nur in gepanzerten Limousinen fahren – und deren Gesichter man hinter den abgedunkelten Autoscheiben nie erkennen kann.

Aber in Rio de Janeiro beispielsweise leben doch als sozialkritisch geltende Künstler wie Chico Buarque oder Caetano Veloso, dazu eine große Zahl von Intellektuellen – begehren sie nicht ernsthaft gegen diese Zustände auf?

“Das gibt es nicht. Und Künstler wie Chico Buarque oder Caetano Veloso, die während der Militärdiktatur im Kampf für Bürgerrechte so wichtig waren, pflegen heute doch nur ihr Image, ihre Marktposition. Diese Künstler wollen einfach nicht sehen, daß heute in einem Jahr mehr Menschen umgebracht werden als in all den Jahrzehnten der Militärdiktatur. Und daß die arme Bevölkerungsmehrheit in diesen Slumregionen keinerlei Recht auf Meinungsfreiheit hat, ist für unsere (ironisch) Idole der Nationalkultur völlig unwichtig. Die wollen mehr CDs verkaufen, ihre Auslandstourneen machen. Um hinterher sagen zu können – seht, ich habe die Carnegie Hall in New York vollgekriegt! Über diese Künstler und Intellektuellen sagt man eben, es seien Komplizen der Macht. Ich jedenfalls gebe nicht auf. Aber Künstler mit kritischem Bewußtsein, solche wie Paulo Lins oder Rogerio Reis – mit denen arbeite ich natürlich zusammen.“

Ney Matogrosso

Der Sänger, Schauspieler, Schwulenaktivist und Naturschützer Ney Matogrosso zählt zu den markantesten Künstlerpersönlichkeiten Brasiliens – mit einer der schönsten, sensibelsten Stimmen der Populärmusik.  Nicht nur wegen seiner erfolgreichen Konzerte, sondern auch wegen scharfer, treffender Kritik an der politischen, sozialen und kulturellen Situation des Tropenlandes ist Ney Matogrosso häufiger als jeder andere Künstlerkollege in den Medien, in den Feuilletons. Seine neueste Tournee heißt „Inclassificaveis“ – unklassifizierbar, wie er selbst.

Drehstart für einen weiteren sozialkritischen, apokalyptischen Spielfilm mit Ney Matogrosso in der Hauptrolle, diesmal als ein hochintelligenter Krimíneller. Das neue Jahr beginnt für den Ex-Hippie, der zu den Symbolfiguren der sexuellen Befreiung Brasiliens zählt, so erfolgreich, wie das alte endete. 2008 nur ausverkaufte Konzerte, 17 seiner besten CDs kommen erstmals in attraktiver  Box auf den Musikmarkt. In zwei Dokumentarfilmen macht er auf dem nationalen Filmfestival in Brasilia Furore. In dem einen spielt er mit einem Freund ein homosexuelles Liebespaar – denn Ney Matogrosso ist auch eine Ikone der brasilianischen Gay-Kultur.

Über die Musikbühnen wirbelt er gertenschlank, sinnlich-lasziv, karnevalesk wie eh und je. Verkleidet als Wildkatze, Paradiesvogel oder Glittertransvestit provoziert er das Publikum, läßt es aufschreien. Der Mann ist immerhin 68.

Außergewöhnlich sensible Liebes-Balladen oder Protest-Rock – auch das ist Ney Matogrosso. Daß er sich so gerne als Tier verkleidet, kommt nicht von ungefähr. Als Kind streift er am liebsten durch den Urwald, entwickelt ein inniges Verhältnis zur Natur, lauscht ihren Geräuschen, baut sie später in seine Shows ein.

“Den Urwald meiner Kindheit gibts nicht mehr – alles abgeholzt, abgebrannt. Ich habe deshalb bei Rio de Janeiro ein Stück Rest-Urwald mit Flüssen und Seen gekauft, in ein Schutzgebiet verwandelt, staatlich anerkannt. Dort leben vom Aussterben bedrohte Tiere, entdecke ich Vogelarten, pflanze ich Bäume – und lasse dort nur Forscher für wissenschaftliche Studien hinein. Wir haben keinen ernstzunehmenden Naturschutz!“

Ebenso empört ihn, daß in Brasilien immer noch die mittelalterliche Lepra grassiert, mit der weltweit höchsten Rate. Jährlich über 50000 neue Lepra-Fälle bei hoher Dunkelziffer, Millionen von Brasilianern mit entsetzlichen Verstümmelungen.  Deshalb nutzt Ney Matogrosso seine Popularität, um an der Spitze des nationalen Lepraopfer-Verbandes MORHAN Staat und Regierung unter Druck zu setzen. Er traf sich immer wieder mit den brasilianischen Gesundheitsministern, dreimal sogar mit dem jetzigen Staatschef Lula, erreichte unter anderem, daß lokal und regional begrenzte Anti-Lepra-Kampagnen gestartet wurden.

“Total verrückt und absurd, daß es von meiner Präsenz abhängt, damit die Autoritäten längst überfällige Maßnahmen ergreifen. Doch Anti-Lepra-Kampagnen dürfen eben nicht nur fünfzehn Tage dauern, die muß es ständig und landesweit geben, um alle Kranken zu finden. Unglaublich viele Kinder haben fürchterliche Lepraschäden!  Lepra ist eine Schande für Brasilien und nimmt sogar zu, ebenso wie die Obdachlosigkeit. Menschen liegen wie Dreck, wie Müll auf der Straße. Weil die Mittel eben nicht dem Volk zugutekommen, sondern in den Taschen korrupter Politiker landen. Manchmal hätte ich Lust, deshalb wild zu werden, Bomben zu werfen – aber das bringt ja nichts.“

Und die Kulturszene? Ney Matogrosso prägte eine ganze Generation von Musikern, er entdeckt und fördert Talente. Seinem großen Musikerkollegen Gilberto Gil wirft er vor, in den rund sechs Jahren als Kulturminister nichts zuwege gebracht, nichts verbessert zu haben.

“Für ihn privat war das Ministeramt wunderbar – denn seine Gage hat sich verdreifacht. Diese Regierung tut nichts für die brasilianische Musik, macht sich auch international für unsere Kultur nicht stark. Brasiliens kulturelles Ambiente hat sich gravierend verschlechtert.  Wir erleben allgemeine Dekadenz – nicht nur in Brasilien. Das Fest ist aus, rette sich, wer kann. Wir sehen technologische Evolution, aber keine spirituelle, geistige. Ich habe die sexuelle Befreiung miterlebt – aber wo ist die heute? Überall Pornographie. Haben wir dafür gekämpft, ist das denn Freiheit? Ich bin nicht pessimistisch, sondern realistisch! Da bleibt uns nur, weiterzukämpfen, Bäume zu pflanzen, solange es geht. Und die Ausdrucks-und Gedankenfreiheit zu wahren.“

Vergessen und verdrängen – Brasiliens problematische Erinnerungskultur

Nicht wenige Brasilianer tragen den amtlichen Vornamen Hitler, Diktaturaktivisten und sadistische Folterknechte der nazistisch inspirierten Militärdiktatur gehören zur derzeitigen Regierungsallianz von Staatschef Lula, ohne daß dies eine kritische öffentliche Diskussion auslöst. Nur eine geringe Zahl von Intellektuellen, Juristen und Diktaturgegnern nennt Brasiliens unterentwickelte Erinnerungskultur verhängnisvoll für die Demokratie.

1985 endet nach 21 Jahren Brasiliens Militärdiktatur, doch erst jetzt, 2009, gelingt es politischen Gefangenen von einst nach langem Kampf, daß in Sao Paulos früherem Folterzentrum, einem  fünfstöckigen Gebäude, wenigstens vier Häftlingszellen in ein „Memorial des Widerstands“  verwandelt werden. Bei der Einweihung erinnert sich Francisca Soares in einer der Zellen an den Horror von damals, die erlittenen Torturen.

Francisca Soares: „Ja, ich wurde gefoltert – zu uns wurden sogar Verwundete, Angeschossene reingeworfen, die schleifte man über die Korridore.“

Francisca Soares erinnert sich gut an den damaligen Chef des Folterzentrums, an Romeu Tuma. Heute ist er Kongreßsenator einer Rechtspartei, nennt sich einen Freund von Staatschef Lula, dem früheren Gewerkschaftsführer, trifft ihn öfters im Präsidentenpalast von Brasilia.

“Wir sind darüber empört und traurig– es ist sehr eigenartig, daß sich unsere linken Politiker so gut mit Romeu Tuma verstehen. Aber man kann nichts dagegen machen – so ist nun einmal Demokratie. Und da muß man eben ertragen, daß Romeu Tuma und andere solcher Figuren immer wiedergewählt werden.“

Elektroschocks, Kopf in den Wassereimer, Aufhängen an den Füßen –  Francisco Prado erlitt sieben Jahre lang so ziemlich alle gängigen Foltermethoden, erinnert sich ebenfalls gut an Romeu Tuma.

Francisco Prado:“Tuma war ein sadistischer Folterer. Am Diktaturende säuberte er hier die Archive, nahm die Hälfte der Dokumente mit. Wir wissen, wo sie sind, aber man kommt nicht ran. Als Lula zum Staatschef gewählt wurde, dachten wir, er öffnet die Geheimarchive der Diktaturzeit – doch er tut es eben nicht. Heute werden auf allen Polizeiwachen Brasiliens die Festgenommenen, die Häftlinge gefoltert.“

Alle früheren Widerstandskämpfer entsetzt, daß Romeu Tumas damaliger Parteichef der Regimepartei ARENA, José Sarney,  mit Unterstützung Lulas jetzt zum Präsidenten des Nationalkongresses gewählt wurde. Marcelo Araujo, Leiter des Widerstandsmemorials, vereinbarte daher mit Jana Binder vom Goetheinstitut Sao Paulo eine Serie von Veranstaltungen über die so grundsätzlich verschiedene Erinnerungskultur beider Länder.

“Marcelo Araujo kaum auf uns zu, sagte, daß Deutschland ja eine sehr, sehr starke Tradition hat, sich mit der eigenen Geschichte zu beschäftigen, was ja in Brasilien ganz anders ist. Die Eröffnung von diesem Memorial, dieser Erinnerungsstätte ist ja für die Brasilianer was relativ Neues. Wir müssen quasi erinnern, nur wenn sich alle daran erinnern, wird es nicht noch einmal passieren – das ist ja der deutsche Zugang zu dem Thema. Und in Brasilien ist ja eher, wir vergessen das, wir lassen das Alte hinter uns, wir fangen neu an und gucken garnicht zurück.“

Daß ausgerechnet jemand wie Romeu Tuma heute ein hoher, einflußreicher Politiker ist, nennt Jana Binder daher aus deutscher Sicht eine „total verrückte Situation“.

Brasiliens deutschstämmiger Bundes-Staatsanwalt Marlon Weichert aus Sao Paulo klagte in Washington vor der Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten seine eigene Regierung an, Diktaturverbrecher unter Berufung auf ein Amnestiegesetz nicht zu bestrafen – und damit gegen internationale Menschenrechtsabkommen zu verstoßen. Straffreiheit für Diktaturverbrecher sporne die Folterer von heute regelrecht an:

Marlon Weichert: „Viele wollen über ihre Mitwirkung bei Diktaturverbrechen nicht aussagen – denn käme die Wahrheit heraus, müßten Biographien völlig umgeschrieben werden. Doch es gibt eben die Überzeugung, daß man die Wahrheit vertuschen müsse, daß es vorteilhafter sei, über all diese Probleme nicht zu reden. Das ist eine Frage der Werte und der Kultur.“

In der Diktaturzeit hatte der heutige Staatschef Lula 1979 in einem Interview auch seine Sicht zu Adolf Hitler klargestellt: „Hitler irrte zwar, hatte aber etwas, das ich an einem Manne bewundere – dieses Feuer, sich einzubringen, um etwas zu erreichen. Was ich bewundere, ist die Veranlagung, die Bereitschaft, die Kraft, die Hingabe.“

Widersprüchliche Glücksstudie in Brasilien

Viele Deutsche empfinden die Brasilianer, überhaupt die Lateinamerikaner, als bewunderns-und beneidenswert glücklich. Eine neue brasilianische Meinungsumfrage bekräftigt diesen Eindruck. Nimmt man für bare Münze, heißt es in der Studie, was die Brasilianer über sich selbst sagen, dann leben sie in einem Land der Glücklichen, hat dort die „Felicidade“ die letzten zehn Jahre gar um elf Prozent zugenommen.  Nicht wenige brasilianische Fachleute, darunter Psychologen und Therapeuten, halten indessen diese und ähnliche Umfragen zum Thema Glück angesichts der gravierenden sozialen Probleme für unglaubwürdig, sprechen zudem von einem sehr verengten, widersprüchlichen und fatalistischen Glücksbegriff in dem Tropenland.

Das renommierte Meinungsforschungsinstitut Datafolha in Sao Paulo scheint mit der neuen Studie zahlreiche Brasilienklischees vollauf zu bestätigen. Denn immerhin 76 Prozent der rund 185 Millionen Brasilianer bezeichnen sich als glücklich, weitere 22 Prozent als mehr oder weniger glücklich und nur zwei Prozent als unglücklich. Bei den Anhängern der rasch wachsenden evangelikalen Wunderheilerkirchen ist die Glückseligkeit offenbar am allergrößten – nannten sich gar 83 Prozent „feliz“. Stutzig und skeptisch macht indessen, daß nur 28 Prozent der Befragten die anderen Landsleute, also Nachbarn, Bekannte, Freunde, ganz allgemein den Brasilianer, als glücklich einschätzten. Der 35-jährige  Luiz Alves beispielsweise haust provisorisch in einer extrem gewaltgeprägten Slumregion der Megacity Sao Paulo, macht schwere, schlechtbezahlte Gelegenheitsarbeit, mußte Frau und Kinder mehrere tausend Kilometer entfernt in einem Elendsviertel des Nordostens zurücklassen und kann sie höchstens ein bis zweimal im Jahr besuchen. Wie fühlt er sich?

“Ich bin mit Sicherheit sehr glücklich. Zwar zähle ich zu denen mit wenig Einkommen, doch ich bin gesund, daher gegenüber anderen direkt privilegiert und deshalb sehr glücklich. Dafür danke ich jeden Tag meinem guten Gott.“

Sonia Ramos, vierzig, lebt ebenfalls an der Slumperipherie, hat einen kleinen Sohn. Sie und ihr Mann gingen nur wenige Jahre zur Schule, haben keinerlei Berufsausbildung, machen Gelegenheitsarbeit und gehören ebenso wie Luiz Alves zur armen Bevölkerungsmehrheit. Nennt sich die strenggläubige Sonia Ramos deshalb unglücklich?

“Ich lebe in Frieden, habe die Familie, Gesundheit, und ich habe Gott. In Brasilien ist die Lage schlecht, doch trotz aller Probleme, trotz Gewalt und Arbeitslosigkeit bin ich glücklich.“

Psychologen bezweifeln, daß solche Aussagen ehrlich sind, manche empfehlen gar, den Zahlen der Glücksumfrage keinen Glauben zu schenken. Denn Sao Paulo wird derzeit besonders an der Peripherie auch noch von Terroranschlägen des organisierten Verbrechens heimgesucht, ganz Brasilien zählt jährlich über fünfzigtausend Gewalttote.  Das Hungerproblem ist längst nicht ausgetilgt. Auch die Kirche beklagt fehlende Solidarität in der Gesellschaft. Die renommierte Therapeutin und Buchautorin Anna Veronika Mautner aus Sao Paulo weist auf einen verengten Glücksbegriff im soziokulturellen Kontext Brasiliens. Ihr Urteil über die jüngste Umfrage ist vernichtend.

“Das ist dummes Zeug, das sind Dummheiten. Glück hat zu tun mit Genuß und Zukunftsaussichten. Wenn ich meine Zukunft nicht kenne, fühle ich Unsicherheit. Doch wir in Brasilien wissen nie, wie sich die Organisation der Gesellschaft gestaltet, man hat hier als Person keine Autonomie. Heute ist heute, morgen ist morgen. So gesehen, sind wir nicht verantwortlich für die eigene Zukunft – und können deshalb glücklich sein, falls uns nicht gerade körperliche Schmerzen plagen.  Das Potential zum Glücklichsein haben wohl alle hier. Aber diese Fähigkeit auch wirklich auszuleben, ist natürlich etwas ganz anderes. Und fragt mich jemand, ob ich glücklich bin – wieso muß ich dem die Wahrheit sagen?“

Studenten an der Bundesuniversität von Sao Paulo halten die neueste Glücksumfrage ebenfalls für unglaubwürdig. Zudem herrsche in Brasilien ein regelrechter sozialer Druck, glücklich zu wirken, persönliche Probleme nicht zu zeigen. Philosophiestudent Danilo Mendes Frei:

“Die Leute sagen tatsächlich, sie seien glücklich, werden selbst in Unglück und Elend immer antworten – alles okay. Doch echtes, wahres Glück ist natürlich etwas ganz anderes. Bei diesen sozialen Kontrasten trifft man sehr häufig unglückliche Menschen. Will man wissen, wie es den Brasilianern wirklich geht, muß man deren Lebensverhältnisse konkret studieren. Brasilianische Fröhlichkeit verkaufen wir ja sogar im Ausland als nationalen Charakterzug – das gehört zur Tourismuswerbung, obwohl es eine Lüge ist.“

Brasiliens erfolgreiche asiatische Minderheit/Kultur, Wissensdrang als Faktor des Erfolgs

In  Brasilien, einem klassischen Einwandererland,  genießen die Asiaten eine absolute Sonderstellung. Sie sind die dynamischste, erfolgreichste Bevölkerungsgruppe. Ihr wirtschaftlicher und sozialer Aufstieg in einem Land der Massenarmut ist frappierend, ihr Lebensstandard ist überdurchschnittlich hoch. In neuen Studien, die im Vorfeld des hundertsten Jahrestags der japanischen Einwanderung erscheinen, wird dies auf kulturelle Faktoren, besonders die hohe Wertschätzung für Bildung zurückgeführt. Darin unterscheidet sich die asiatische Minderheit deutlich vom Rest der Brasilianer.

 

Lateinamerikas wirtschaftliche Führungsmacht hat rund 185 Millionen Einwohner – doch nicht einmal ein halbes Prozent davon sind Asiaten, zu über 95 Prozent Japaner, gefolgt von Chinesen und Südkoreanern. In den Slums, überhaupt in der Unterschicht, im Heer der Bettler, Obdachlosen  und Straßenkinder wird man sie vergeblich suchen – in den begehrtesten, bestbezahlten Berufen, in den Chefetagen trifft man sie jedoch geradezu häufig.

Besonders frappierend ist: Gerade Brasiliens Japaner haben durchweg kleinbäuerliche Vorfahren aus ärmsten Verhältnissen. 1908 kamen die ersten ins Tropenland – Kaizo Beltrao vom staatlichen Forschungsinstitut Ipea in Rio de Janeiro hat ausführlich untersucht, was sie bis heute von den anderen Bevölkerungsgruppen unterscheidet.

 

“Ich denke, es ist vor allem die Bildung, die Ausbildung, der die Japaner hier besonders hohen Wert beimessen. Durch Lernen, durch Studieren im Leben voranzukommen – diese Denkweise haben die Einwanderer aus Japan mitgebracht. Sie waren Kleinbauern und haben im brasilianischen Hinterland sofort ordentliche Schulen für ihre Kinder gegründet, haben diese später zum Studieren in die Stadt geschickt. Jede japanische Gemeinde in Brasilien hat sich dafür zusammengetan, Geld gesammelt – es war eine kollektive Anstrengung, aus Gemeinschaftssinn. Soviel Zusammenhalt, solche Werte gab es im Rest der Bevölkerung nicht.  Die Japaner waren eine homogenere Gruppe als Weiße, Schwarze und Mischlinge.“

 

Ein brasilianischer Durchschnittsschüler verbringt pro Tag etwa fünf Stunden mit Unterricht und Hausaufgaben, der japanische Schüler indessen etwa doppelt so viel. Ein beträchtlicher Teil der Heranwachsenden Brasiliens bleibt häufig sitzen, verläßt die Schule vor der achten Klasse. Oft schlichtweg aus mangelnder Lust am Lernen, wie eine neue Studie ergab. Nur 26 Prozent der Brasilianer können ausreichend lesen und schreiben. Für die kleine asiatische Minderheit gilt das natürlich nicht, für die ist Wissensdrang, Ehrgeiz, Denkfähigkeit typisch. Wie in der Einwanderergeneration tun die Eltern alles, damit ihre Kinder stets zu den besten Schülern und Studenten gehören. Beste Ergebnisse zu erreichen, ist eine Frage der Ehre. Kaizo Beltrao:

 

“In keiner anderen Bevölkerungsgruppe macht ein so hoher Anteil der Heranwachsenden sämtliche Schulabschlüsse, selbst das Gymnasium – und zwar weit früher als im Landesdurchschnitt. Die übrigen Brasilianer sind da deutlich im Rückstand. 37 Prozent aller asiatischen Schüler absolvieren später erfolgreich die Universität.  Das sind viereinhalbmal so viel wie im Durchschnitt der anderen Bevölkerungsgruppen. Ja, auch an den Universitäten hat sich der Vorsprung der Asiaten stetig vergrößert.“

 

An Brasiliens bester Bundesuniversität in der Megacity Sao Paulo belegen Asiaten alleine in besonders umkämpften Fächern wie Medizin und Ingenieurwesen fast zwanzig Prozent der Studienplätze.

 

Fallen die Japaner auf dem Arbeitsmarkt durch aggressives Wettbewerbsverhalten, Konkurrenzdenken, Ellenbogenmentalität auf? Kaizo Beltrao verneint dies:

 

“Ich sehe nach wie vor eher Gemeinschaftssinn, den Geist der Kooperation in der japanischen Gemeinde. Die Japaner Brasiliens sind materiell besser gestellt als der Durchschnitt, zählen aber nicht zur reichsten Schicht.“

 

 

 

“Pressefreiheit“ in Brasilien: Journalisten arbeiten unter hohem Lebensrisiko

Durch Morde an Journalisten sowie Morddrohungen wird in Brasilien gemäß einer neuen Studie die Pressefreiheit deutlich eingeschränkt. Letztes Jahr wurden zwei Reporter getötet, seit dem Ende der Militärdiktatur in den achtziger Jahren mindestens 42. Hinzu kommt, daß das organisierte Verbrechen neofeudal und diktatorisch über die meisten Großstadtslums herrscht, Journalisten dort überhaupt nicht recherchieren dürfen. Und Ghettobewohner, die Interviews geben, müssen mit Racheaktionen der Banditenkommandos rechnen. 2002 hatten diese in Rio de Janeiro den bekannten Fernsehreporter Tim Lopes bestialisch liquidiert, auf einem Scheiterhaufen aus Autoreifen verbrannt. Das Problem des hohen Lebensrisikos bereitet den brasilianischen Journalisten enormen psychischen Druck. Nicht zufällig bekam daher die  Kollegin des ermordeten Tim Lopes, die investigative Journalistin Carla Rocha, für eine Serie über die Slum-Diktatur den wichtigsten brasilianischen Menschenrechts-und Medienpreis. Auch ausländische Korrespondenten in Brasilien haben offenbar wegen kritischer Berichterstattung wiederholt Morddrohungen erhalten. 1985 war der ARD-Korrespondent Karl Brugger in Rio de Janeiro bei einem Attentat erschossen worden.

 

In Brasilien sind Journalisten regelmäßig Ziel von Anschlägen – und auch für die vierzigjährige Carla Rocha aus Rio de Janeiro, eine der wichtigsten investigativen Reporterinnen Brasiliens, erschweren derartige Gefahren den beruflichen Alltag enorm. Wer beispielsweise über die Zustände in den Ghettos, über die empörende Rechtlosigkeit der Slumbewohner schreibe, trage ein hohes Lebensrisiko.

 

“In Rio de Janeiro herrscht eine Kriegssituation – in den Slums gelten weder Gesetz noch Verfassung, nur das Diktat schwerbewaffneter Gruppen. Der Staat ist nicht präsent und läßt zu, daß dort Verbrecherorganisationen, Gangsterbosse, paramilitärische Milizen die Regeln bestimmen. Wer sich deren Normen widersetzt, wird sogar mit dem Tode bestraft, zerstückelt und sogar lebendig verbrannt. Mein Kollege Tim Lopes wurde Opfer einer solchen mittelalterlichen Barbarei. Seitdem gehen wir nicht mehr in die Slums hinein, ist die Recherche sehr schwierig geworden. Da wir Journalisten gegen die Interessen der Verbrechersyndikate handeln, sind wir von Ermordung bedroht, müssen ständig bestimmte Sicherheitsregeln einhalten, beispielsweise aufpassen, ob wir verfolgt werden.“

 

Carla Rocha betont, daß Gewalt heute in Brasilien viel mehr Menschen trifft als unter der Militärdiktatur, daß die Zahl der Verschwundenen viel höher ist als in den 21 Diktaturjahren. Die Journalistin berichtete über den Präsidenten einer Bürgerinitiative von Slumbewohnern – daraufhin wurde er ermordet.

Carla Rocha ist bedrückt, daß die genau dokumentierten Menschenrechtsverletzungen im Ausland keinerlei Echo fanden.

 

“Bis sich diese Zustände in den brasilianischen Slums ändern, wird noch sehr viel Zeit vergehen, werden noch sehr viele Menschen getötet. In Rio de Janeiro ist es unmöglich, die Realität der Ghettos nicht wahrzunehmen. Daher finde ich es traurig, daß es dafür kein internationales Interesse gibt. Denn internationaler Druck ist am wichtigsten, damit die Diktatur über die Slums beseitigt wird. Im Ausland denken eben noch viele, Brasilien sei das Land des Samba, des Fußball und der fröhlichen, sonnengebräunten Leute.“

 

Eine neue Studie der führenden brasilianischen Medienzeitschrift „Imprensa“ schlußfolgert, daß die Mehrheit der investigativen Journalisten des Landes durch Morde und Morddrohungen mundtot gemacht worden sei. Nur noch wenige riskierten daher, die ganze Wahrheit über die Realitäten des Tropenlandes zu zeigen, Mißstände aufzudecken. Eine Meinungsumfrage unter Journalistikstudenten ergab, daß niemand von diesen die Karriere des investigativen Reporters anstrebt. Motiv sei die Angst vor Ermordung und anderen Repressalien.

Carla Rochas Kollege, der mehrfach preisgekrönte Pressefotograf Rogerio Reis, läßt sich jedenfalls nicht einschüchtern, beweist weiter Mut. In Paris hatte er jetzt eine schockierende Bildserie über jene modernen Scheiterhaufen Rio de Janeiros ausgestellt, mit denen auch Millionen von Slumbewohnern eingeschüchtert werden sollen.

 

“Daß da willkürlich Menschen gefoltert, außergerichtlich zum Tode verurteilt und schließlich verbrannt werden – das darf man doch nicht hinnehmen. Der Journalist Tim Lopes, der dieses Schicksal erlitt, war mein enger Freund. Der brasilianische Staat hat sämtliche Machtmittel, um diese Barbarei sofort zu beenden – doch dafür fehlt politischer Wille.“

 

“Fehlen zivilisatorischer Werte” kritisiert. ** 

Die größte Qualitätszeitung “Folha de Sao Paulo” nennt  als “gravierenden Mangel” das “Fehlen zivilisatorischer Werte” – es gebe auf mittlere Frist keinen Hinweis für eine Verbesserung. Wie lange werde es dauern, bis sich die Leute in der Öffentlichkeit gebildeter und zivilisierter benähmen? “Es fehlen Werte und gute Umgangsformen. Und nicht nur bei denen, die arm sind.”

http://www.hart-brasilientexte.de/2008/10/22/die-finanzkrise-und-der-schweizer-soziologe-jean-ziegler/

Fehlende Bildung manifestiert sich in nahezu allen Bereichen des öffentlichen Lebens teils dramatisch – auch im Haifischbecken des Arbeitslebens,  des keineswegs menschlichen, respektvollen Umgangs, darunter in den Etagen des Managements, wo sich Neid, Haß, Respektlosigkeit oft auf bizarrste, infantilste Weise austoben. Zu einer “normalen” beruflichen Karriere gehört heute, so muß man in Brasilien sehr häufig den Eindruck gewinnen, die Fähigkeit, zwecks Aufstieg zielgerichtet und systematisch andere Mitarbeiter auf jede nur erdenkliche, gemeine und gerissene Art fertigzumachen, bis hin zur Entlassung. Entsprechend verbreitet ist ein Arbeitsklima grotesker Scheinheiligkeit. 

In anderen Analysen wird auf das niedrige Bildungsniveau, die Einkommenskonzentration, Elendsregionen, das Defizit an Wohnraum, die hohe Kriminalitätsrate, die prekäre Infrastruktur, Korruption, Bürokratie etc. verwiesen.

http://www.hart-brasilientexte.de/2014/07/07/brasilien-verstos-gegen-gesetze-nimmt-zu-laut-studie-bruch-von-normen-und-regeln-immer-leichter/

“Wir tolerieren Dinge, die eigentlich unerträglich sind.” Interview mit Soziologe Sergio Abranches, DER SPIEGEL

“Wie konnte es zu der Brandkatastrophe in einer Disco in Brasilien kommen? Steckt auch ein kulturelles Problem dahinter? Der Soziologe Sérgio Abranches spricht im Interview über eine hypermobile, geschichtslose Gesellschaft, die Unangenehmes verdrängt.”

“Wir lernen nicht aus einem Unglück, um zukünftige Katastrophen zu vermeiden.”

http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/brandkatastrophe-in-brasilien-der-soziologe-sergio-abranches-im-interview-a-880862.html

“Kultur der Verantwortungslosigkeit, mörderische Kultur – das menschliche Leben hat unter uns wenig Wert – Geldgier charakterisiert unsere Gesellschaft” – Rosiska Darcy de Oliveira in O Globo 2013

In der deutschen Parteipropaganda wird die brasilianische Regierung als progressiv eingestuft.

In offiziellen deutsch-brasilianischen Verlautbarungen ist kurioserweise immer von “gemeinsamen Werten” die Rede.

http://www.hart-brasilientexte.de/2013/02/01/brasilien-nachtclub-tragodie-soziokulturelle-faktoren-therapeut-jorge-forbes-analysiert-bereits-2008-politisch-unkorrekte-mentalitatsaspekte-der-spiegel-2013/

http://www.hart-brasilientexte.de/2012/11/29/brasilien-massenleiden-depression-und-ubliches-gruppendruck-zwangsgrinsen-gewalt-und-psyche/

http://www.hart-brasilientexte.de/2008/04/08/lateinamerikas-katholische-nachrichtenagentur-adital-der-individualistische-und-wenig-solidarische-charakter-des-brasilianers/

GeoSpecial1988Estudantina

Ausriß. Geo Special Brasilien 1988. 

Samba und Paartanz in Brasilien:http://www.hart-brasilientexte.de/2013/10/21/brasilien-und-samba/

http://www.tango-ericandjeusa.ch/pdfs/NZZ.pdf

Brasilien-Karneval:http://www.hart-brasilientexte.de/2016/01/31/teatro-oficina-sao-paulo-bloco-pau-brasil-im-karneval-2016-die-raritaet/

GeoSpecial1988Inflation

Ausriß. Geo Special Brasilien 1988. „Die Inflation ist Feuer für das Heer der Armen.“

Brasilien – das Gewalt-Gesellschaftsmodell und die wichtige Rolle der Slums/Favelas. Hintergrundtexte:http://www.hart-brasilientexte.de/2017/01/01/brasilien-das-gewalt-gesellschaftsmodell-und-die-wichtige-rolle-der-slumsfavelas-hintergrundtexte-warum-brasilien-strategischer-partner-der-merkel-gabriel-regierung-ist-von-der-deutschen-regieru/

Lula – Hintergrundtexte:http://www.hart-brasilientexte.de/2016/07/30/brasilien-2016-lula-von-westlichen-regierungen-eu-westlichem-mainstreamlula-superstar-jahrelang-bejubelt-wird-vor-gericht-gestelltpetrobras-affaere-die-ur/

Brasilien und Drogen – Hintergrundtexte:http://www.hart-brasilientexte.de/2017/01/18/aus-brasilien-nichts-neues-2017-drogensuechtige-die-in-grosser-zahl-crack-konsumieren-blockieren-in-der-city-von-sao-paulo-immer-wieder-sogar-strassenkreuzungen-vertreibt-die-polizei-diese-crack-h/

Kirche in Brasilien – Hintergrundtexte:http://www.hart-brasilientexte.de/2013/11/05/brasilien-%E2%80%93-kirche-und-gesellschaft-sammelbandtexte/

Juden in Brasilien, Lateinamerika – Hintergrundtexte:http://www.hart-brasilientexte.de/2008/11/05/juden-in-brasilien-hintergrundtexte-der-letzten-jahre-mit-dem-arsch-zum-publikum/

Österreichs katholischer Priester Günther Zgubic – unter den besten Kennern Brasiliens. Hintergrundtexte:http://www.hart-brasilientexte.de/2016/12/27/oesterreichs-katholischer-priester-guenther-zgubic-unter-den-besten-kennern-brasiliens/

Gefängnisse in Brasilien – Hintergrundtexte:http://www.hart-brasilientexte.de/2017/01/02/aus-brasilien-nichts-neues-gefaengnis-rebellion-zu-jahresbeginn-2017-mit-offiziell-60-toten-in-amazonas-millionenstadt-manaus-schauplatz-vieler-aehnlicher-gewaltausbrueche-warum-brasilien-strateg/#more-86916

Brasilien – Kultur, Mentalität, soziokulturelle Faktoren. Hintergrundtexte:http://www.hart-brasilientexte.de/2013/11/08/brasilien-kultur-und-gesellschaft-sammelbandtexte/

BrasilienZeitgefühl1

Ausriß.

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Ausriß. “Gerhard Wisnewski. ungeklärt – unheimlich – unfassbar. Die spektakulärsten Kriminalfälle 2013. KNAUR

“Moderne Scheiterhaufen aus Autoreifen”:

-http://www.deutschlandradiokultur.de/moderne-scheiterhaufen-aus-autoreifen.1013.de.html?dram:article_id=167263

Wisnewski1

…auch die “Stadt der Scheiterhaufen”….

Wisnewski2extra

 

Wisnewski3

 

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Ausriß.

Unter dem Zuckerhut

Rio de JaneiroZwölf Jahre lebte Klaus Hart in Rio de Janeiro als freier Korrespondent für diverse Magazine und Tageszeitungen und studierte dabei ausgiebig den Alltag seiner heißblütigen Mitmenschen. Er mischte sich unter entfesselte Karnevalstruppen, hatte es mit charismatischen Tanzlehrern und lebte die Erotik des Alltags aus, ebenso wie er die Anatomie eines Slums charakterisiert. Natürlich nimmt er auch das Thema Nazis unterm Zuckerhut ins Visier, gleichzeitig mit seinen Betrachtungen, die Juden unterm Zuckerhut betreffend. Und auch die Umweltsheriffs von Santarém, die auf verlorenem Posten gegen Wilderer, Dynamitfischer und Urwaldvernichter kämpfen. Aber dann wieder die Erotik im Alltag – intensiv wie eine Tropengewitter, wie Hart das nennt und seine Betrachtungen in diesem sehr langen Kapitel von allen Seiten schildert.

Dieses Buch als Einstieg zu der ersten Brasilienreise zu lesen, wäre zwar nicht fatal, aber auch nicht angenehm. Denn die Folgen wären unerreichbare Erwartungen. Klingt doch in jedem Kapitel, in jedem Thema die enorme Erfahrung des Brasilienkorrespondenten an. Das gereicht zu einem phantastischen Einstieg in die Seele des Landes, die uns so fremd ist, denen unsere Kultur aber noch fremder erscheint. Das lernt man bei Hart, auf stellenweise recht direkte, andererseits wundervoll einfühlsame Weise.

usch@saw

 

http://www.hart-brasilientexte.de/2011/01/18/sao-paulo-fotoserie-uber-brasiliens-megacity/

http://www.hart-brasilientexte.de/2016/03/28/ouro-preto-2016-ostern-in-der-weltkulturerbe-barockstadt-brasiliens-fotoserie/

Indianer in Brasilien – Hintergrundtexte:http://www.hart-brasilientexte.de/2015/11/25/indianer-lateinamerikas-moegen-politisch-unkorrekt-coca-cola-diabetes-rate-etc-entsprechend-hoch/

 

Obdachlose, Straßenbewohner in Brasilien – Hintergrundtexte:http://www.hart-brasilientexte.de/2016/02/12/mensch-und-muell-2016-die-verelendete-sklavennachfahrin-von-sao-paulo-muelltueten-muellsaecke-als-einzige-kleidung-vergebliches-betteln-um-ein-paar-muenzen-keinerlei-zeichen-von-solidaritaet-mi/

Wirtschaft in Brasilien – Hintergrundtexte:

http://www.hart-brasilientexte.de/2008/02/11/deutsche-firmen-und-wirtschaftskriminalitat-in-brasilien1/

Brasiliens grotesk-bizarre Alltagszenen: Laut Passanten in Sao Paulo versuchen evangelikale Prediger eine Wunderheilung an einer von sehr viel Zuckerrohrschnaps sturzbetrunkenen Frau. “Verschwinde aus diesem Körper, Satan!” Alles vor der Kathedrale von Sao Paulo…

betrunkenespsai.jpg

 

BrasilStudentenUnehrlichkeit

Ausriß. Brasilien – Heranwachsende und Unehrlichkeit.

Dieser Beitrag wurde am Freitag, 08. November 2013 um 20:26 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Kultur, Politik abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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