Klaus Hart Brasilientexte

Aktuelle Berichte aus Brasilien – Politik, Kultur und Naturschutz

Brasilien – Kirche und Gesellschaft. Sammelband/Texte

Brasilien

Später Sieg der Arbeiterpastoral/2015

Zivilklage gegen VW do Brasil wegen Kooperation mit Folterdiktatur(1964-1985)/moralische und materielle Wiedergutmachung

Die katholischen Menschenrechtsaktivisten Brasiliens und ihre vielen Unterstützer beim Hilfswerk Misereor in Deutschland können es kaum fassen: Erstmals akzeptiert ein brasilianisches Bundesgericht die Klage gegen den Weltkonzern, untersuchen Staatsanwälte tiefgründig grauenhafte Vorgänge, die so lange zurückliegen und einem überdrehten Politkrimi zu enstammen scheinen. Ein Nazi-Massenmörder von Juden ist während Brasiliens Militärdiktatur ausgerechnet bei VW do Brasil dafür zuständig, Regimegegner unter den Arbeitern aufzuspüren, zu überwachen und dem Repressionsapparat der Foltergeneräle ans Messer zu liefern – soll das möglich sein? Doch genauso stehts im Abschlußbericht der Nationalen Wahrheitskommission über Diktaturverbrechen: VW stellt ausgerechnet Franz Stangl, Ex-Kommandant des KZ Treblinka, verantwortlich für den Mord an etwa neunhunderttausend Juden, in Brasilien ein, damit dieser in den riesigen Autofabriken bei Sao Paulo ein System zur Überwachung von Diktaturgegnern, von „subversiven“ gewerkschaftlichen Aktivitäten installiert. „Das gabs nicht nur bei Volkswagen, sondern auch bei Mercedes-Benz, Scania und anderen Automultis“, sagt Waldemar Rossi, Leiter der bischöflichen Arbeiterseelsorge in der Erzdiözese Sao Paulo.

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Rossi ist damals Metallarbeiter, kommt in den Multiunternehmen herum, wird schließlich vom Militärregime eingekerkert, gefoltert. Stundenlang Elektroschocks, Schläge, die auch von der SS benutzte Foltermethode der Papageienschaukel – das Opfer wird mit den Kniekehlen mit dem Kopf nach unten an einer Eisenstange aufgehängt,Handgelenke werden an den Fußgelenken oder der Stange befestigt. „Als besonders übel und hinterhältig haben wir empfunden, daß multinationale Unternehmen extra Spitzel anwarben, die für ein gutes Honorar die Regimegegner der Betriebe ausspionierten.“ Rossi weist auf seinen Freund Lucio Bellantani, der letztes Jahr vor der Nationalen Wahrheitskommission aussagt:“Ich arbeite 1972 grade in der VW-Fabrik von Sao Bernardo do Campo, als ich zwei Mpi-Läufe im Rücken spüre, in Handschellen gelegt, in die Überwachungsabteilung gebracht werde. Gleich dort ging das Foltern los, haben sie mich grauenhaft zusammengeschlagen, getreten.“

Bellantani ist 71, kämpft seit Jahrzehnten für die Aufklärung der Diktaturverbrechen, die Bestrafung der Schuldigen und ihrer Hintermänner:“Ich will, daß VW hier ein Memorial errichtet, das über die Rolle des Konzerns während des Militärregimes aufklärt. Uns geht es um moralische Wiedergutmachung. Schon die Kinder in den Schulen müssen von dieser Vergangenheit wissen, damit sie sich nie wiederholt.“

Die Beweislage für eine Zivilklage gegen VW scheint gut zu sein. Denn zahlreiche vor Vernichtung bewahrte Dokumente der Diktatur-Geheimpolizei DEOPS zeigen in der Tat eine Kollaboration des Konzerns. Das Militärregime endet 1985 – wenige Jahre später zitieren bereits brasilianische Medien aus solchen Geheimakten: So wurden bei VW und Mercedes-Benz Spitzel in die Versammlungen der Metallarbeiter und ihrer Gewerkschaften geschickt, die Spitzelberichte sofort  an die politische Polizei Deops weitergegeben. Gewerkschafter und andere „verdächtige“ Angestellte seien beim  Deops denunziert worden, auch Streikende.  Zudem sei angefragt worden, ob gegen Mitarbeiter, die eingestellt werden sollten,  „etwas vorliegt“. Unter dem deutschstämmigen Diktator Ernesto Geisel wird  VW do Brasil  um Angaben über oppositionelle Arbeiterinnen gebeten – und gibt derartige Daten  auch heraus, wie es hieß.

Andere Multis handeln genauso. Die Diktatur verhaftet daraufhin eine beträchtliche Zahl von Automobilarbeitern, läßt sie foltern.

1967 geschieht Unvorhergesehenes: Der jüdische Holocaust-Überlebende Simon Wiesenthal kann Stangl bei VW aufspüren und durch internationalen politischen Druck erreichen, daß der Kriegsverbrecher an Deutschland ausgeliefert, dort zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wird. Doch VW stellt als Stangls Nachfolger prompt den glühenden Diktaturaktivisten und Armeeobersten Adhemar Rudge ein, der ganz im Sinne des Vorgängers weiter Regimegegner verfolgt und mißhandelt.

Als Reaktion auf den Militärputsch von 1964 entsteht in Brasilien die katholische bischöfliche Arbeiter-Seelsorge, deren Aktivitäten größtenteils finanziell von Deutschlands katholischer Kirche über das Hilfswerk Misereor getragen werden.

Laut Nationaler Wahrheitskommission waren bereits im Putschjahr 1964 über 50000 Menschen verhaftet, teils in Fußballstadien und Frachtschiffe gepfercht worden. Folter, Mord, Verschwindenlassen und Entführung sind an der Tagesordnung, Regimegegner werden sogar lebendig den Haien zum Fraß vorgeworfen, über dem Amazonasurwald aus Flugzeugen und Helikoptern gestoßen.

Auf die Zivilklage gegen Volkswagen, so katholische Menschenrechtsaktivisten, werden Klagen gegen weitere deutsche Großunternehmen, darunter Mercedes-Benz, folgen.

Auffällig, daß die Bonner Politik während der Diktaturzeit gegen die Vorgänge bei VW nicht protestiert hat. Und hätte man nicht erwarten müssen, daß Ex-Gewerkschaftsführer Lula spätestens nach seinem Amtsantritt von 2003 als Staatspräsident auf derartige Zivilklagen dringt? Kirchliche Menschenrechtsaktivisten wie Waldemar Rossi betonen ironisch, Lula habe seit jeher ein enges persönliches Verhältnis zu Unternehmenschefs gepflegt – und sei bereits zur Diktaturzeit ein typischer „Pelego“, Arbeiterverräter gewesen. Inzwischen ist Lula Millionär und wohnt weiterhin im Sao Bernardo do Campo der großen VW-Autofabriken. Der Ex-Präsident steht übrigens derzeit  unter Anklage – wegen illegaler Lobbytätigkeit während seiner Amtszeit  für große Konzerne.

Papst Franziskus betet für Brasilien: „Volk derzeit in trister Lage“/Gravierende politisch-wirtschaftliche Krise/Täglich heftige Straßenproteste gegen unpopuläre Übergangsregierung
Sept. 2016
In den Vatikangärten weiht Papst Franziskus dieser Tage ein mehrere Meter hohes Monument für Brasiliens Schutzpatronin „Nossa Senhora da Aparecida“ – umgeben von einfachen Gläubigen und geistigen Würdenträgern des größten katholischen Landes der Welt. Der Zeitpunkt war nicht zufällig gewählt – Franziskus, der Argentinier, ist naturgemäß besonders sensibel für die Lage der mehr als 200 Millionen Brasilianer, kennt das Land sehr gut aus jahrelanger Seelsorge-Zusammenarbeit. „Laßt uns beten für das brasilianische Volk in diesem tristen Moment, für die Armen, Marginalisierten, für alle, die jetzt in der Hand von Ausbeutern jeden Schlages sind!“ Die deutliche Botschaft aus Rom wirkt auf den Straßen des Riesenlandes sofort – nie zuvor bei Massenprotesten soviele Spruchbänder mit Papstworten. „Franziskus ist mit uns, nicht mit den politischen Machthabern, weiß genau, was hier läuft“, verbreitet sich wie ein Lauffeuer am September-Nationalfeiertag, an dem der kirchliche „Aufschrei der Ausgeschlossenen“ landesweit seit Jahrzehnten bis in die entfernteste katholische Gemeinde unsoziale Regierungspolitik, gravierende Menschenrechtsverletzungen, wie Folter, Todesschwadronen und Sklavenarbeit, geißelt.

Gleich nach den Olympischen Sommerspielen wird im Kongreßsenat von Brasilia die gewählte Staatschefin Dilma Rousseff wegen angeblicher Haushaltstricks per fragwürdiger Mehrheitsabstimmung amtsenthoben – neuer Chef einer Übergangsregierung ist Rousseffs bisheriger Vize, der zwielichtige Michel Temer aus der von Rechten, sogar Diktaturaktivisten, dominierten Partei PMDB. Bezeichnend – Temer wurde wegen Wahlkorruption verurteilt, darf für das Präsidentenamt garnicht mehr kandidieren. Von Temer und seiner PMDB erwarten Brasiliens Machteliten gemäß Analysen aus der Kirche, daß er unsoziale neoliberale Reformen rascher durchpeitscht, als dies mit der Rousseff-Regierung möglich gewesen wäre.

Aber sind deshalb jetzt Unmassen aufgebrachter Brasilianer auf der Straße, ist mit noch größeren Protesten zu rechnen?
Dominikaner Frei Betto in Sao Paulo, wichtigster katholischer Befreiungstheologe des Landes, warnt vor Schwarz-Weiß-Malerei, grob vereinfachenden Sichtweisen, wirbt für Realismus. Die Amtsenthebung nennt er klar einen „Putsch“, „Golpe“ – doch jene vielen Millionen, die unter Rousseff und zuvor Lula als Nutznießer von Sozialprogrammen dem Elend entkommen konnten, feste Arbeit erhielten, sehe man derzeit als Putschgegner nicht auf den Straßen – Apathie, Passivität dominierten.
Das hat in Brasilien gewichtige Gründe: Wer den Mut aufbringt, zu einer Demo zu gehen, riskiert Leben und Gesundheit, Arbeitsstelle, Studienplatz, Karriere. Denn er ist sofort mit einem Relikt der Folter-Diktatur, der immer noch nicht abgeschafften Militärpolizei konfrontiert, die martialisch sogar mit Kavallerie vorgeht. Und derzeit, unter Temer, in den beiden größten Städten Sao Paulo und Rio de Janeiro die Protestierer so heftig mit Tränengasgranaten und Hartgummigeschossen unter Feuer nimmt wie selten zuvor.
Aber müßten nicht in den Großstädten die entrechteten Slumbewohnern millionenfach aus ihren Hütten zu den Protest-Avenidas ziehen? Für die „Favelados“ ist Aufbegehren am risikoreichsten, wie man sogar während der Olympischen Sommerspiele in Rio deutlich sieht: Das mit der Politik liierte organisierte Verbrechen nutzt die Slums als Parallelstaat, herrscht über die Bewohner neofeudal – Mißliebige werden sogar auf Scheiterhaufen lebendig verbrannt. Und wenn in den Stadtzentren spätnachmittags, abends protestiert wird, gilt in den Favelas nur zu oft die von den hochgerüsteten Banditenkommandos verhängte Ausgangssperre.
„Wir müssen wieder von vorne anfangen“, mahnt daher Frei Betto. „Jene Arbeiterpartei von Dilma Rousseff und Lula paktierte mit den Feinden der Arbeiter, der Armen, änderte die archaischen Gesellschaftsstrukturen nicht.“ Manche  werden sich erinnern – das war seit 2003, Jahr der Regierungsübernahme von Lula und seiner Chefministerin Rousseff, die Hauptkritik der brasilianischen Bischofskonferenz CNBB.
In Sao Paulo verbrennen Demonstranten einen Sarg – was eine abgeschaffte, gemordete Demokratie symbolisieren soll – und werden prompt von der Militärpolizei mit Tränengasgranaten beschossen – die ganze City stinkt noch tagelang danach. Das Land in tiefer Rezession, stark gesunkene Ausfuhren – doch die in Rio hergestellten Granaten besonders hoher Gaskonzentration sind ein krisenfester Exportschlager, verkaufen sich weiter wie warme Semmeln, besonders in Diktaturen wie Bahrein, Saudi-Arabien – und in die Türkei: Dort werden die Geschosse sogar gegen syrische Flüchtlinge in den grenznahen Auffanglagern eingesetzt – das Foto mit dem Jungen, der eine dort abgefeuerte Granate mit der Aufschrift „Made in Brazil“ hochhält, ging durch die brasilianische Presse.
Für den diesjährigen „Aufschrei der Ausgeschlossenen“ hat daher die Bischofskonferenz ein besonders eindrückliches Motto formuliert:„Leben als Priorität. Dieses System ist unerträglich. Es grenzt aus, degradiert, tötet(“Este sistema é insuportável: exclui, degrada, mata!“) – wir fordern Demokratie und soziale Gerechtigkeit.“

Auch Dom Walmor de Azevedo, Erzbischof der Millionenstadt Belo Horizonte, spricht ungezählten Brasilianern aus der Seele: „Was derzeit abläuft, macht die Leute perplex – abenteuerliche Politik wird von Figuren ohne Kompetenz und moralisch-ethische Seriosität durchgezogen – den Worten der sogenannten Volksvertreter fehlt jede Glaubwürdigkeit!“ Wie derzeit das Volk überfahren werde, um Privilegien der Oberschicht zu erhalten, sei regelrecht „pervers“. Brasilien, so betonen auch andere Geistliche, bleibe ein Land der Dauerkrisen und tief verwurzelter Staatskorruption.
Um so wichtiger sei daher, daß die Katholiken sich stärker in die Politik einmischen, dabei an Jesus, am Evangelium orientieren – und schon im kommenden Oktober Flagge zeigen. So fordern es Bischöfe und kirchliche Menschenrechtler – denn landesweite Kommunalwahlen stehen vor der Tür, bei denen die Möglichkeit besteht, den zahlreichen am „Putsch“ beteiligten Parteien einen Denkzettel zu verpassen. „Gebt die Hoffnung nicht auf!“
In einem Land wie Brasilien mit entsetzlich hoher Rate an funktionellen Analphabeten, entsprechend niedrigem Politisierungsgrad haben die Machteliten geschickt Hürden gebaut, die wohl auch in Deutschland viel politisches Chaos auslösen würden: Allein im Nationalkongreß agieren derzeit 32(!) zumeist auf Mauscheleien aller Art spezialisierte Parteien, die auch in den Teilstaaten häufig irrwitzigste, absurdeste Bündnisse eingehen.

Olympische Sommerspiele 2016
Die kritische Bilanz der Kirche Brasiliens
„Sind die Spiele den Tod so vieler Armer wert?“(August 2016)

Desorganisation, Verkehrschaos, leere Zuschauertribünen, ermordete Polizeibeamte, brennende Busse, Terror der Banditenkommandos gegen die Slumbewohner, dazu grauenhafte Zustände in den Rio-Hospitälern während der Spiele, Athletenkritik an Dreck und fehlender Hygiene im Olympischen Dorf – Brasiliens Kirche sieht ihre Voraussagen bestätigt. Die Christen des Landes stimmen dem jüdischen Präsidenten des Olympischen Komitees von Brasilien, Carlos Arthur Nuzman zu:“Angesichts der Zustände wäre Rio heute nicht zum Austragungsort erwählt worden.“
Und selbst IOC-Vize John Coates konstatiert:“Das sind die bisher schwierigsten Spiele“.
Das überdrehte Geschrei internationaler Sportreporter von Radio und TV bei den Wettbewerben, Postkartenansichten der Zuckerhutstadt können nicht verdecken, daß Milliarden Steuergelder für Olympia die gravierenden sozialen Probleme keineswegs nur in
Rio weiter verschärft haben. Im Nordosten fordern eine Dürrekatastrophe und massive Gewaltausbrüche, Gefangenen-Rebellionen täglich Opfer. Sind Olympische Spiele den Tod sovieler Armer, vor allem Dunkelhäutiger wert? Das fragen katholische Menschenrechtsaktivisten, aber auch Priester, Mönche in den kirchlichen Medien des Landes. Weil der brasilianische Staat die Gangsterherrschaft über die Slums nicht bricht, kommen auch während der beiden Augustwochen in Rio sogar zahlreiche unbeteiligte Katenbewohner bei Feuergefechten rivalisierender Banditenkommandos ums Leben. Der Jeep einer militärischen Olympia-Spezialeinheit fährt versehentlich nahe dem Internationalen Flughafen in den berüchtigten Slum-Komplex „Maré“: Im Banditen-Kugelhagel stirbt ein Offizier per Kopfschuß, Soldaten werden verwundet. Jeder, der vom Airport nach Copacabana oder Ipanema fährt, muß an „Maré“ vorbei…
Die Maré-Kommandos haben laut Lokalmedien mindestens 500 MGs, dazu Handgranaten, Bazookas – machen hohe Profite mit Drogenhandel, Geiselnahmen, Auftragsmorden, Banküberfällen, Frachtraub. Slum-Priester Luis Antonio Lopes:“Für die kurzzeitigen Spiele werden Milliarden ausgegeben – aber nicht für die öffentliche Sicherheit, für menschenwürdige Behausungen, für die Hospitäler!“
Selbst Olympia-Teilnehmer, Besucher werden serienweise überfallen, ausgeraubt, bestohlen sogar im Olympischen Dorf – die Gewaltsituation ist nach wenigen Spiele-Tagen auch unter den europäischen Sportlern und angereisten Fans das Hauptgesprächsthema.
Rio-Bewohnerin Nilza Fernandes: „Christliche Werte wurden mit Füßen getreten – Proteste gegen die Spiele, gegen Menschenrechtsverletzungen hat der Staat unterdrückt. Ich spüre nur sehr wenig Olympia-Fieber, die meisten meiner Landsleute interessiert das Spektakel noch weniger als die Fußball-WM.“

Rios prekäre Krankenhäuser müssen viele Betten für Olympia reservieren – was die medizinische Versorgung der Einwohner zusätzlich verschlechtert. Hat es den Olympioniken, etwa dem bei einer Taxifahrt schwer verunglückten deutschen Kanuslalom-Trainer Stefan Henze, etwas genützt? Erst bringt man ihn in eine nahe Olympia-Referenzklinik, die sein schweres Schädel-Hirn-Trauma aber mangels Ärzten und Medizintechnik gar nicht behandeln kann – also weiter in ein rund zwanzig Kilometer entferntes Hospital – kostbare Zeit vergeht. Am Ende ist Henze tot. Auch während der Spiele sterben zahlreiche Rio-Bewohner mangels medizinischer Behandlung. „Wenn Betten, Ärzte, Material fehlen, heißt das: Im Gesundheitswesen haben wir eine Art Todesstrafe für Unterprivilegierte“,so der Dominikaner Marcos Sassatelli bitter. (A „pena de morte” na Saúde Pública é uma desumanidade gritante.“ – Die Todesstrafe im Gesundheitswesen ist eine grauenhafte Unmenschlichkeit)
„Sogar den Pferden der Springreiter da unten geht es viel besser als uns“, kommentieren Bewohner der Hangslums.
Über die Hälfte der Brasilianer ist laut Umfragen gegen die Spiele, für 63 % bringen sie mehr Schaden als Nutzen.
Scharfe Kritik kommt von den Bischöfen – auch sie setzen ganz andere Prioritäten:
„Brasilien steckt in einer tiefen politisch-wirtschaftlichen Krise“, so Dom Leonardo Steiner , Generalsekretär der katholischen Bischofskonferenz CNBB. „Parteiinteressen setzen sich über die Gesellschaft hinweg, Korruption grassiert, dazu die Kultur der Vergewaltigung. Die gängigen Auffassungen, Sichtweisen über menschliche Sexualität sind heutzutage dekadent – wir sind doch keine Tiere! Die Würde des Menschen muß stärker verteidigt werden.“ Kinderprostitution erwartungsgemäß während der Spiele in Rio auf Hochtouren…
Für Erzbischof Dom Jaime Spengler in der Millionenstadt Porto Alegre wurde in den Olympia-Wochen die erschreckende nationale Realität entlarvt und demaskiert, „die manche verstecken wollen.“ In einer Erklärung wiederholt er die Forderungen protestierender Polizeibeamter – weit über 70 wurden seit Jahresbeginn allein in Rio ermordet:“Wie kann eine Stadt, in der es keine öffentliche Sicherheit gibt, Olympische Spiele austragen? Für diese Spiele wird alles an Mitteln locker gemacht – doch für die Menschen nichts. Brasilien ist unter den gewaltgeprägtesten Ländern der Erde. Die Spiele machten den Kontrast zwischen Reich und Arm in Brasilien offenkundig, zwischen Legalität und Illegalität.“ Schöne Bilder über die Spiele würden von den Medien verbreitet – „doch danach bleiben die alten Fragen: Warum ist die Gewalt so hoch, das Bildungs-und Gesundheitswesen so schlecht, warum werden die Werte der Familie zerstört?“
2009, im Jahr der Spiele-Vergabe, behauptet der damalige Staatschef Lula gegen alle kirchlichen Argumente, Brasilien besitze Olympia-Kompetenz. Derzeit steht er wegen Korruptionsaffären unter Anklage, gegen seine enge Freundin und Amtsnachfolgerin Dilma Rousseff läuft auch während der Spiele ein Impeachment-Verfahren. Beide versprachen, zu möglichst vielen Rio-Wettbewerben in die Stadien zu kommen. Doch nicht einmal sieht man die hochrangigsten politisch Verantwortlichen des Desasters…

Brasilien ein Jahr vor den Olympischen Sommerspielen/August 2015

Der überfallene Kardinal, Rios giftige Gewässer, die Wirtschafts-und Regierungskrise

Katholische Kirche in Kritik an Regierung bestätigt

„Die Korruption stinkt zum Himmel!“ Deutschstämmiger Kardinal Odilo Scherer

Kardinal Orani Tempesta ist in Gedanken bei der eben zelebrierten Rio- Messe, als sein Fahrer jäh auf die Bremse tritt, um nicht den vor ihm stoppenden Wagen zu rammen. Was dann folgt, kennen sehr  viele Brasilianer aus eigener Erfahrung: Aus dem Wagen springen vier Gangster, richten ihre Revolver auf Kardinal Tempesta, den Fahrer, die drei Mitarbeiter. Dem Erzbischof Rio de Janeiros reißen sie ein silbernes Kruzifix vom Hals, Geschenk von Papst Franziskus, rauben ihm und den Mitarbeitern Uhren, Handys und  alle anderen Wertgegenstände, brausen mit dem Kardinalsauto und dessen Fahrer als Geisel davon. Eine Mitarbeiterin wird ohnmächtig, bricht an der Straße neben Tempesta zusammen.

Sieht so das hochgelobte Sicherheitskonzept der Regierung für die Olympischen Sommerspiele 2016 aus? Immerhin trainieren bereits viele ausländische Mannschaften unterm Zuckerhut – Überfälle auf Athleten häufen sich.

 

http://www.hart-brasilientexte.de/2015/04/29/ouro-preto-weltkulturerbestadt-in-brasilien-osterprozession-2015/

 

 

Kardinal Tempesta sitzt der Schreck noch in den Gliedern, als der Fahrer gerannt kommt – die Gangster sind nach zwei Kilometern sicher, nicht verfolgt zu werden, lassen ihn frei. Auch dies der übliche Ablauf – Tempesta kennt die Banditenpraktiken nur zu gut. Vergangenen September überfallen ihn drei  schwerbewaffnete Banditen nahe seiner Residenz. „All das hält mich nicht davon ab, weiter bei den Gläubigen in ganz Rio zu sein, vor allem in den Elends-und Armenvierteln. Überfälle dieser Art widerfahren derzeit ungezählten Bewohnern!“ In einem Land mit offiziell mehr als 60000 Mordtoten jährlich, bei hoher Dunkelziffer – unter den Opfern auch Deutsche, Franzosen, Schweizer, Spanier. Selbst bei ermordeten Umweltaktivisten steht Brasilien an der „Weltspitze“.

Nicht wenige Länder warnen bereits Olympia-Touristen vor den Gefahren für Leib und Leben, Australien beispielsweise stuft Rio de Janeiro ähnlich ein wie eine Region im Bürgerkrieg. Die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes ist ebenfalls nicht erbaulich: „ Grundsätzlich ist Vorsicht angebracht, auch in als sicher geltenden Landes- oder Stadtteilen. Besonders stark von Kriminalität und Gewalt betroffen sind Armensiedlungen (Favelas). Von Favela-Besuchen wird daher dringend abgeraten. Diese Gebiete werden teilweise von Kriminellen und Drogenbanden kontrolliert. Bewaffneten Auseinandersetzungen, auch mit der Polizei, fallen häufig auch Unbeteiligte zum Opfer.“

Täglich kommt Kardinal Tempesta an der Copacabana, dem Stadtsee Rodrigo de Freitas und der Rio-Bucht vorbei, hat den Gestank faulig-vergifteten Wassers in der Nase, schaut auf gigantische Olympia-Baustellen.

Rio kann kaum auf bestehende Sportanlagen zurückgreifen – fast alles ist daher noch im Bau: Die Kirche fragt wie bereits zur Fußball-WM:  Geht wieder alles zu Lasten der Armen und Verelendeten? Werden Korruption und Mittelabzweigungen wieder so gigantisch?

–Vorsicht – treibende Müllsäcke und Sofas!–

Olympia-Wasser-Wettbewerbe, also Segeln, Rudern, Schwimmen sind nicht sicher für die Athleten – wegen der geradezu barbarischen Wasserschmutzung. In Wasserproben wurden Grenzwerte stark überschritten. Gefährliche Viren und Bakterien sind häufig, Gelbsucht, Tuberkulose, Hautkrankheiten drohen. Denn Abwässer werden häufig pur eingeleitet. Ruderer ausländischer Teams sollen jeden Kontakt mit dem Wasser vermeiden. „Das Ansteckungsrisiko liegt bei 99 Prozent“, sagt ein Sportexperte aus den USA. Nach einem Vor-Wettkampf im August 2015 auf dem Stadtsee leiden gleich 13 US-Ruderer an Erbrechen und Durchfall.

Doch Medaillenhoffnungen könnten auch zerstieben, wenn Segelboote auf  treibende Sofas und große gutgefüllte Müllsäcke prallen. Ironische Kommentatoren-Tips  im nationalen Fernsehen: Während der Olympischen Spiele die Klospülung nicht betätigen – und das Hineinwerfen alter Möbel in Rio-Bucht sowie Zuflüsse per Sondererlaß verbieten.

Wegen WM und Olympia war Brasilien ein Boom vorausgesagt worden – doch stattdessen tiefe Rezession, Massenentlassungen, die schlimmste Krise seit 25 Jahren. Staatskorruption stranguliert das Wirtschaftsleben, der Stuhl von Präsidentin Dilma Rousseff wackelt gefährlich. “Ich fürchte, sie wird zurücktreten“, urteilt Brasiliens wichtigster katholischer Befreiungstheologe und Politikexperte Frei Betto.  “Brasilien durchlebt eine notorische Unzufriedenheit nicht nur mit der Regierung, sondern auch wegen fehlender Utopien, Perspektiven, Freiheiten.” Für deutsche Begriffe nahezu unvorstellbar – Rousseffs Regierungsbündnis gehören anfangs über 20(!) Kongreßparteien an, jetzt verweigern immer mehr der Staatschefin die Gefolgschaft.

“Die Korruption stinkt zum Himmel!”, analysiert jetzt der deutschstämmige Kardinal Odilo Scherer, Erzbischof der Diözese Sao Paulo. 2005 übt die Kirche Fundamentalkritik an der Regierungskorruption, erntet heftige Proteste – 2015 dagegen keinen einzigen. Damals gehört Rousseff als Ministerin der Regierung von Luiz Inacio Lula da Silva an, massiver Abgeordneten-und Parteienkauf wird enthüllt, zahlreiche Freunde von Lula werden verurteilt, landen gar im Gefängnis. Doch die Staatskorruption floriert weiter, Konzerne beschaffen sich üblicherweise lukrative Staatsaufträge durch Bestechung.

Wer hätte es gedacht – der zum Millionär aufgestiegene Ex-Staatschef Lula steht 2015  unter Anklage wegen illegaler Lobbytätigkeit für brasilianische Konzerne – brasilianische Medien hatten dies bereits zu Beginn seiner Amtszeit enthüllt.

Aber heißt es nicht immer, unter Lula sei das Hungerproblem beseitigt worden? Die katholische Kirche bestritt dies stets, weist derzeit auf das Heer verwahrloster Menschen in den Straßen der Millionenstädte. Wegen der Massenentlassungen werden es täglich mehr.

Waldemar Rossi, Leiter der Arbeiterseelsorge in der Erzdiözese Sao Paulo:“Der  Lebensstandard  der Arbeiter sinkt – das hinterhältige System der Subunternehmen und die Leiharbeit bewirken Lohnsenkungen. Es mag für Gläubige in Deutschland schockierend klingen – in Brasilien existiert bereits Barbarei.“ Übertreibt Rossi da nicht gewaltig? Die Kirche weist u.a. auf den Parallelstaat der Slums mit Scheiterhaufen, Paralleljustiz des organisierten Verbrechens, verbreiteter Lynchpraxis.  Arbeitslosigkeit treibt mehr junge Menschen in die Arme der Gangsterkommandos – selbst Kinder können für das Ausführen von Verbrechen bereits umgerechnet bis zu 300 Euro die Woche verdienen. Und damit eine ganze Großfamilie über Wasser halten.

Nicht einmal der Olympia-Austragungsort ist davon ausgenommen. Sogar  gemäß amtlichen Angaben leben im Teilstaat Rio de Janeiro über 565000 Bewohner in extremer Armut, das Pro-Kopf-Einkommen der betroffenen Familien liegt danach bei umgerechnet rd. 37 Euro monatlich. Diese Familien litten Hunger.

Aufmerksame Brasilien-Touristen stoßen auf bedrückende Verwahrlosung: Hochschwangere Mädchen, nicht mal 13,  konsumieren ganz offen Rauschgift – Gruppen junger Menschen schlafen direkt an Avenida-Kreuzungen, atmen zwangsläufig hochgiftige Abgase von LKW und Bussen ein.

Wie Papst Franziskus die Annäherung zwischen Kuba und den USA ins Rollen bringt(2015)

Die kuriose Situation der katholischen Kirche auf der „chinesischen“ Karibikinsel

Nach den bombastischen Ankündigungen von Barack Obama und Raul Castro letzten Dezember erwarten manche einen regelrechten Ansturm neugieriger nordamerikanischer Touristen auf Havanna. In den famosen Salsa-Bars statt deutschen und kanadischen Lauten nun vor allem der Slang von New York, Detroit oder San Francisco – „Yankees“  zudem scharenweise in den vielen prachtvollen katholischen Kirchen aus der spanischen Kolonialzeit? Nichts davon bisher – US-Amerikaner sind weiterhin seltenste Exemplare auf Kuba. „Die Annäherung wird ein sehr langer Prozeß, noch fehlen sämtliche Grundvoraussetzungen“, sagt Brasiliens führender katholischer Befreiungstheologe und Dominikaner-Ordensbruder Frei Betto, der sich jetzt auf der Insel umsah.

Daß da was im Schwange ist zwischen Obama und den Castros, weiß Frei Betto, bester Kuba-Kenner in der gesamten katholischen Kirche, aus seinen Vatikankontakten seit dem Amtsantritt des Papstes vom März 2013. „Noch im selben Monat spricht er Obama in Rom auf eine Beendigung der Kuba-Blockade, auf die Freilassung von fünf unrechtmäßig in den USA gefangen gehaltenen Kubanern an“, verrät Frei Betto. „Zuvor hatten dem Papst kubanische Bischöfe noch einmal verdeutlicht, welche Schwierigkeiten das kubanische Volk wegen der Blockade erleidet – und daß die fünf Gefangenen endlich freikommen müssen. Das alles hat funktioniert, die fünf sind frei, Obama und Castro verhandeln – unser Papst ist wirklich ein großer Staatsmann!

Doch dann nennt Frei Betto die ungelösten Knackpunkte: Der US-Kongreß muß die Blockade nebst den entsprechenden Embargo-Richtlinien außer Kraft setzen, Kuba von der US-Liste jener Staaten streichen, die angeblich den Terrorismus unterstützen.

Kuba stellt als Vorbedingung zudem Schließung und Rückgabe des wegen Folter an Gefangenen berüchtigten Militärstützpunktes Guantanamo. Statt armseliger seltener Charterflüge müsse zudem regulärer Linien-Flugverkehr zwischen den USA und Kuba her. Dann allerdings könnten rosige Zeiten anbrechen. Kuba – rund elf Millionen Einwohner –  registrierte 2014 erstmals mehr als drei Millionen Touristen vor allem aus Kanada und Deutschland – weitere drei Millionen könnten laut Prognosen künftig pro Jahr allein aus den USA kommen.

Marktwirtschaftlich denkende US-Unternehmer und Investoren ärgert seit Jahren, daß vor allem China bisher den großen Reibach auf Kuba macht, allererster wirtschaftlich-politischer Partner ist. Und womöglich auch noch US-Branchen das große Geschäft mit jenen drei Millionen US-Touristen wegschnappt. Denn für die gibt es die nötige Fremdenverkehrsstruktur noch garnicht – doch China finanziert neue Hotels und Ferienanlagen, liefert alles Nötige zum Bau, schickt Fachkräfte. Nicht zufällig tragen viele auf der Insel T-Shirts mit der Aufschrift „Cuba-China“. Besonders ärgerlich: 40 Kilometer von Havanna entfernt entstand besonders  mit chinesischer Hilfe der Hafen Mariel, mit Abstand größter der Karibik – angeschlossen eine Sonderwirtschaftszone, in der vor allem chinesische Fabriken preisgünstig für den Export nach Nord-und Südamerika produzieren. „Die Sache mit dem Hafen Mariel hat US-Unternehmer zusätzlich überzeugt, daß die Kuba-Annäherung her muß“, so Frei Betto. „Denn Mariel, gleich vor Florida,  wäre auch für die US-Wirtschaft eine große Chance.“

Ein brasilianischer Dominikaner als Kuba-Insider – wieso denn das? Frei Betto geht wie jedes Jahr auch 2015 einfach bei Raul und Fidel Castro vorbei, debattiert mit ihnen stundenlang die neuesten Entwicklungen. Frei Betto hat direkten Zugang zur kubanischen Führung – Fidel Castro hatte er schließlich bereits in den achtziger Jahren in nächtelangen Gesprächen davon überzeugt, sein Verhältnis zur Religion und zu den Kirchen der Insel grundlegend zu bessern, den kubanischen Staat und die kommunistische Partei nicht länger als atheistisch zu definieren. Kaum zu glauben – Verfassung und Parteistatut wurden daraufhin entsprechend geändert. Frei Bettos Buch über diese Nachtgespräche wurde unter dem Titel „Fidel und die Religion“ ein Weltbestseller in 23 Sprachen, verkaufte sich in 32 Ländern, darunter Deutschland, über dreimillionenmal.

„Das Buch hat bewirkt, daß die Vorurteile der Kommunisten gegenüber der Religion sowie die Angst der Christen beseitigt wurden.“  Ab 1987 durften sich daher erstmals auch Gläubige der KP anschließen. „Ich fragte später einen Parteiführer, ob denn viele Christen eingetreten seien. Er sagte mir, nicht gerade viele – aber es ist etwas Unerwartetes passiert. Viele Kommunisten haben bekannt, schon immer an Gott zu glauben. Zuvor sei es nicht empfehlenswert gewesen, das offen zu sagen.“

Und auch das noch: Frei Betto gab Parteiführung und Regierung anfangs sogar Kurse über Religion und Christianismus. 1996 empfängt  Papst Johannes Paul II. just Fidel Castro in Privataudienz, besucht zwei Jahre später die Insel.

Und, Frei Betto, ist Castro jetzt etwa euphorisch über Obama?

„Keineswegs – Fidel sieht bisher nur einen Schritt hin zu Frieden mit den USA, die weiter als Feindstaat angesehen werden. Es gab einfach zuviele  Attentate, Terroranschläge gegen Kuba, zuviele bestrafte Firmen, die mit Kuba Geschäfte machen wollten. Castro sagte mir,  die USA wollten weiter den Systemwechsel auf Kuba, die Kolonisierung der Insel. Washington müsse dieses Ziel aufgeben. Laut  Castro ist in den bilateralen Gesprächen von gleicher Wellenlänge noch überhaupt nichts zu spüren.“

Doch in der Kirche, unter den Gläubigen sei man erleichtert, daß die Wirtschaftsblockade nach immerhin 53 Jahren enden könnte. Kaum zu glauben – die kubanische Vertretung in den USA, womöglich jetzt vor der Umwandlung in eine Botschaft,  darf nicht einmal ein Konto eröffnen, muß alles in bar bezahlen.

Beim Gang durch Havanna, Städte wie Trinidad, Santiago de Cuba oder Santa Clara fallen nicht nur wohlrestaurierte katholische Kirchen aus der spanischen Kolonialzeit ins Auge, sondern auch viele Zeichen von Volksfrömmigkeit, darunter Heiligenstatuen verschiedenster Größe selbst  in den Wohnhäusern.

„Die Mehrheit der Kubaner ist religiös, spirituell“, so Frei Betto. Aber nicht vorrangig katholisch, sondern durch afrikanische Wurzeln geprägt. Es habe eine Religionsvermischung stattgefunden, die man als afro-christlich charakterisieren könne. Zu der  kubanischen Hauptreligion namens Santeria gehörten viele katholische Elemente, darunter die Heiligen . „Nur etwa fünf Prozent der echten Katholiken gehen zur Kirche – doch größte öffentliche Manifestation ganz Kubas ist das Fest des Heiligen Lazarus am 17. Dezember. In Havanna gehen zur Prozession praktisch sämtliche Bewohner.“ Und Kubas katholische Schutzheilige, die Barmherzige Jungfrau von El Cobre? „Die beten sogar jene an, die zu anderen Religionen gehören.“

Damit nicht genug der teils verzwickten religiös-politischen  Unterschiede etwa zu Deutschland. Wie Frei Betto erläutert, pflegt Kubas  katholische Kirche zwar inzwischen gute Beziehungen zu Staat und Regierung, hält indessen etwas Abstand zu den staatlichen Strukturen, Institutionen. „Die aus den USA stammenden protestantischen Kirchen jedoch, etwa die Baptisten, hatten stets exzellente Beziehungen zur kubanischen Revolution. Ein Baptistenpastor war mehrmals Parlamentsabgeordneter. Protestantische Kirchen in den USA gründeten gar die Bewegung  ` Pastoren für den Frieden`, durchbrachen die Wirtschaftsblockade, schafften Spendengüter,  sogar LKW, über Mexiko nach Kuba.“

Frei Betto bringt dies in eine kuriose Situation: Der ökumenische Rat kubanischer Kirchen, dem die Katholiken nicht angehören, hält enge Kontakte  zu ihm, dem Dominikaner, lädt ihn auch dieses Jahr zu gemeinsamer Pastoralarbeit auf die Insel ein.

Indessen fällt die Präsenz der katholischen Kirche im Gesundheitswesen Kubas auf. Staatliche Hospitäler werden häufig von Katholiken geleitet, betont Frei Betto.

„Fidel Castro sagte mir mal, Kliniken mit einer  Ordensschwester als Chef funktionierten viel besser als die anderen.“

Davon haben, wer weiß, vielleicht sogar manche unterentwickelten Länder was. Denn wichtigste Einnahmequelle Kubas ist nicht etwa der Tourismus, sondern der Export von Experten, zumeist Ärzte, nach Afrika und Lateinamerika. In Kuba trifft man Mediziner beim Heimaturlaub, sieht, wie sich Ärzte in Kliniken gerade von ihren Kollegen verabschieden – vor der Entsendung nach Brasilien. Denn in den dortigen Slums arbeiten bereits über 14000 kubanische Mediziner. Devisen nach Kuba bringen zudem immer mehr Brasilianer, die die sauberen, gepflegten und vor allem sicheren Strände Kubas etwa der dreckigen, überfüllten und hochgefährlichen Copacabana vorziehen. Fragt man Frei Betto, warum viel mehr Europäer im kleinen Kuba statt im riesigen Brasilien mit seinen über 200 Millionen Einwohnern Urlaub machen, weist der Dominikaner gewöhnlich auf den UNO-Index für menschliche Entwicklung. Da liegt Kuba auf Platz 44, Brasilien nur  auf Platz 79.

 

„Brasiliens evangelikale Sektenkirchen – größte Bedrohung für die Demokratie des Landes“.(2014)

Renommierter Schriftsteller Bernardo Carvalho warnt vor Sekteneinfluß in Staat und Regierung

Vor der Fußball-WM trainiert die US-Mannschaft unter Jürgen Klinsmann in der Megacity Sao Paulo – rund 23 Millionen Bewohner – und wird durch MG-Scharfschützen, Militärhelikopter bewacht. Auf den Straßen unweit des US-Camps protestieren fast täglich Tausende gegen Milliarden-Mittelvergeudung für neue Stadien angesichts von Massenelend und Slums, fehlenden Geldern für grauenhafte öffentliche Krankenhäuser und Schulen.

Mitten unter den Demonstranten ist Bernardo Carvalho, dessen Romane auch in deutschen Buchhandlungen stehen –  und schaut mit den Augen des erfahrenen früheren Auslandskorrespondenten genau hin, wer da gegen die Regierung protestiert – und wer nicht. „Die evangelikalen Sektenkirchen machen nicht mit – die brauchen das nicht, haben keinen Grund zur  Klage, haben in Staat und Regierung bereits vieles in der Hand, erobern clever immer mehr wichtige Positionen in der Politik.“

 Aber ist in Brasilien mit Staatschefin Dilma Rousseff nicht eine enge Vertraute von Amtsvorgänger Lula und seiner Arbeiterpartei PT an der Macht, die den Sekten entsprechend Paroli bietet? Carvalho pariert mit Fakten: „Die Evangelikalen haben sogar eigene politische Parteien im Nationalkongreß, haben ihre Leute in vielen anderen Parteien, sind eine starke politische Kraft, regelrecht vermischt mit der Macht.“

Man müßte sich einfach mal folgendes für den deutschen Bundestag vorstellen: Die Arbeiterpartei von Lula und Rousseff hat im Abgeordnetenhaus der Hauptstadt Brasilia nur 88 von 513 Sitzen, im Kongreßsenat nur 15 von 81, führt eine instabile Regierungskoalition von derzeit sage und schreibe 14 Parteien, ist auf Parteien und Wähler der wie Wirtschaftsunternehmen funktionierenden evangelikalen Sektenkirchen dringend angewiesen – bereits Lula wäre ohne die Evangelikalen nie Staatspräsident geworden. Unterstützung gibts nur für Gegenleistungen, darunter Minister-und Staatssekretärsposten, aber auch für Bares, wie zahlreiche Korruptionsskandale zeigten. „Die Evangelikalen sind überall im Staatsapparat, haben hohe Ämter sogar im Bildungs-und Gesundheitswesen!“  

  Im Oktober 2014 sind Präsidenten-und Kongreßwahlen – allein im Abgeordnetenhaus von Brasilia rechnen die Sektenkirchen durchaus realistisch mit einem Zuwachs an Sitzen von 30 Prozent. Schriftsteller Carvalho: „Deshalb sehe ich die Evangelikalen als größte Bedrohung unserer Demokratie – was in Deutschland wohl schwerlich jemand nachvollziehen kann. Rousseffs Arbeiterpartei schanzte den Sekten sogar den außerordentlich wichtigen Kongreß-Menschenrechtsausschuß zu – absurder gehts nimmer!“

Präsident der Menschenrechtskommission war noch unlängst Pastor Marco Feliciano von der Wunderheiler-Sektenkirche „Assembleia de Deus“, der vor seiner Ernennung den jubelnden Evangelikalen- Massen erklärte, daß der Beatle John Lennon durch Gott getötet worden sei.

Sektenpastor Feliciano, ein Rhetorik-und Marketingtalent erster Güte, übersteht in einem Land sehr niedrigen Bildungsgrads zur Überraschung vieler politischer Beobachter massive Kritik des In-und Auslands keineswegs nur, geht vielmehr daraus gestärkt hervor. Beinahe nach dem Motto „Viel Feind, viel Ehr“ wird Feliciano zum neuen Helden und Idol der Sektenkirchen, steuert für 2014 einen Senatssitz an – und damit noch mehr politischen Einfluß. Vize von Feliciano in der Menschenrechtskommission ist ausgerechnet der Diktatur-und Folter-Befürworter Jair Bolsonaro, bekannteste Figur des rechtsextremen Spektrums in Brasilien – und Teil der Regierungskoalition. Verständlich, daß Schriftsteller Bernardo Carvalho angesichts des niedrigen  Politisierungsgrades der Brasilianer daher unruhig wird, ihn auch eine gewisse Oberflächlichkeit vieler Protestler entsetzt: „Ein Großteil unserer Jugend identifiziert sich ausgerechnet mit Lulas Ex-Umweltministerin Marina Silva, die sich als Ökologin verkauft. Übersehen wird, daß sie just zur „Assembleia de Deus“ von Pastor Feliciano zählt, eine Sektenpredigerin ist.  Bei den Präsidentschaftswahlen 2014  holt sich Marina Silva daher die Stimmen der Evangelikalen und vieler sich progressiv einstufender junger Menschen – das ist doch grauenhaft!“

Brasiliens Qualitätsmedien, die nur von einem Bruchteil der Landesbewohner wahrgenommen werden, berichten die letzten Monate bedenklich Negatives über die Evangelikalen: Pastor Marcos Pereira aus Rio de Janeiro, bislang geradezu ein Star der Sektenkirchen, sitzt  wegen Vergewaltigung von Gläubigen für 15 Jahre hinter Gittern, wegen Umweltverbrechen drohen ihm weitere fünf Jahre. Valdemiro Santiago, zweitreichster Sektenchef Brasiliens, sieht sein Wirtschaftsimperium wegen hoher Schulden, Gerichtsprozesse wanken – korrupt-kriminelle „Bischöfe“ und Pastoren zweigen, wie aus seiner  „Weltkirche der Macht Gottes“ verlautet, monatlich 30 % aller Einnahmen, darunter Kollekten und Spenden, ab. 

Nicht zufällig erhalten Brasiliens Sektenkirchen ebenso wie die Evangelikale Marina Silva daher vom deutschsprachigen Mainstream seit Jahren sehr viel Lob.

 Brasiliens Trinkwasserkrise(2014)

Weihnachten ohne Wasser/landesweit Tankwagen-Flotten im Einsatz

Kirche warnte vor gravierendem Wassermangel seit Jahrzehnten

Kommt er oder kommt er nicht? Jeden Tag dasselbe in über 30 von Wasserrationierung betroffenen Städten um die südliche Megacity Sao Paulo, Lateinamerikas Wirtschaftshauptstadt. Alles hält Ausschau nach dem Wasser-LKW – und wenn er endlich um die Ecke biegt, rennen die Leute los, mit Eimern, Plastekanistern, bilden lange Schlangen. Wer leer ausgeht, kann sich ausgerechnet in der heißesten Jahreszeit nicht waschen, vom fehlenden Wasser für WC, Kochen, Aufwasch ganz zu schweigen. Familien mit Kranken, Behinderten sind besonders betroffen. In den zahllosen Elendsvierteln ist das Wasser-Drama schier unbeschreiblich – zumal wegen fehlenden Regens die Abwasserkloake an den Katen noch barbarischer stinkt als in „normalen“ Zeiten, Fäkalien nicht mehr weggespült werden.

 Mehre tausend Kilometer nordöstlich, die Atlantikküste hinauf, erleben Millionen von Menschen wegen der anhaltenden Dürre all dies nun schon das dritte Jahr, sind komplett vom „Carro-Pipa“, wie man die Tanklastwagen nennt, abhängig.  Bundesregierung und Gouverneure von neun Teilstaaten halten über 8000 Wasser-Laster rund um die Uhr im Einsatz, um etwa 900 Städte und Gemeinden des Nordostens einigermaßen zu versorgen – Unternehmen holen sich mit einer weit größeren Carro-Pipa-Flotte teuer-preistreibend das nötige Naß, um die Produktion aufrechtzuerhalten. Viele Fabriken machten indessen bereits dicht. Tanklasterfahrer werden zu  neuen Helden –  sie müssen halsbrecherisch über Stock und Stein, denn die allermeisten Zufahrtsstraßen sind unbefestigte Erdwege. Man erlebt es als Reporter selber: Morgens nach dem Aufstehen bei der Tropenhitze erst mal duschen, Zähne putzen, rasieren? Fehlanzeige. „Wasser kommt hier erst so ab elf aus der Leitung, für einige Stunden vom Hochbehälter“, hört man zur Erklärung.

Viele fangen inzwischen kostbares Regenwasser in Plastikzisternen auf – nach Tagen, Wochen, Monaten ist es wie Brackwasser, fürchterlich. Wasser für das Vieh? Hunderttausende Rinder verendeten oder wurden notgeschlachtet.

Aber hatte nicht der damalige Staatschef Lula versprochen, 2010 ein gigantisches Flußumleitungsprojekt einzuweihen und damit ein für alle Mal die Trinkwasserversorgung seiner Nordost-Heimat zu garantieren? Und gab es da nicht einen vielbelachten Franziskanerbischof, der gegen Lulas Wasserprojekt auch noch Sturm lief, gleich zweimal – 2005 und 2007 –  in wochenlangen Hungerstreik trat? Die Faktenlage ist schmerzhaft: Lula weiht  das Wasserprojekt 2010 nicht ein, und auch auch nicht, wie danach versprochen, 2012 – wegen zahlreicher Baufehler, enormer Kostensteigerungen ist jetzt offiziell eine Fertigstellung nicht vor 2017 angepeilt. Der Bau von 700 km Wasserkanälen und Pumpstationen sollte umgerechnet rund 1,5 Milliarden Euro kosten – schon jetzt wurde indessen mehr als das Doppelte an Steuermitteln vergeudet.

Unten, im relativ hochentwickelten Süden des Landes, ist das Wasserdrama des Nordostens den meisten viel zu weit weg, als Bischof Luiz Cappio in den Hungerstreik tritt – in der Megacity Sao Paulo mit seinen über 20 Millionen Einwohnern, und auch in Rio de Janeiro geht man geradezu verschwenderisch mit Trinkwasser um. 2014 trifft es den Süden jedoch weit härter: Rasch fortschreitende Abholzung nicht nur Amazoniens, so ermittelten die Wissenschaftler, bewirkt immer weniger Regen – die Wasservorräte in den Staubecken und Seen für den Großraum Sao Paulo sind auf sage und schreibe nur noch etwa 5 Prozent geschrumpft. Man ahnt es schon: Wasser plätschert daher nur noch dort wie bisher aus dem Hahn, wo Mittel-und Oberschicht wohnen.

Wasser fehlt zudem für die Stromerzeugung, Dürre bringt auch der Landwirtschaft Milliardenverluste. In Staubecken, Seen und Flüssen lebten Fische, gab es eine entwickelte Fischwirtschaft – die ganze Region war ein beliebtes Touristenziel. Vorbei, Boote liegen seit langem auf dem Trockenen – nicht zufällig rutscht Brasilien 2014 sogar in die Rezession, wird die Stromerzeugung aus Kohle statt aus Wasserkraft immer teurer, verpestet die Luft zusätzlich. Brasilien registriert derzeit das massivste Artensterben aller Zeiten.

 In den Blättern von Sao Paulo und Rio erscheinen seit Monaten täglich Sonderseiten über die Wasserkrise – ist da Franziskanerbischof Cappio jetzt etwa der neue Medienheld, weil er all dies bereits vor über einem Jahrzehnt ganz detalliert vorhersagte – er und seine Umwelt-Mitstreiter der katholischen Kirche? Ganz im Gegenteil – jene zumeist von Regierungsanzeigen abhängigen Privat-Medien, die ihn damals als völlig realitätsfremd und wirtschaftsfeindlich verleumdeten, verschweigen ihn derzeit komplett: Cappio 2014:“Die Deutschen sollten wissen, daß das brasilianische Volk von seinen Regierenden im Stich gelassen wird, die niemals die Wahrheit über unsere Realität sagen. Mit den Milliarden für das gescheiterte Flußumleitungsprojekt hätte man Fernwasserleitungen bis ins entlegenste Dorf bauen können. Tatsächlich dient das Projekt lediglich großen Baukonzernen, soll Wasser nicht zu den Menschen, sondern zu Industrien und Bewässerungsfeldern der Export-Landwirtschaft bringen.“

Zwei Hungerstreiks, viel Dresche der Gegner eingesteckt – doch jetzt die barbarische Wasserkrise sogar in Südbrasilien – wie fühlt man sich da als Bischof in einer entlegenen Diözese am einst so mächtigen Strom „Rio Sao Francisco“? Cappio mit etwas Galgenhumor und Ironie in der Stimme:“Ich war wie ein Prediger in der Wüste, es war mein Aufschrei gegen die Verhältnisse. Heute redet die ganze Welt über die Trinkwasserkrise – was ich voraussagte, ist exakt so eingetroffen. Leben wir in einer Diktatur?“

2014 fällt erstmals in der Geschichte das Quellgebiet des über 2800 Kilometer langen „Rio Sao Francisco“ trocken, wird der niedrigste Pegelstand gemessen.  „Und aus diesem Rio Sao Francisco, der nur zeitweise einigermaßen Wasser führt, will man 700 Kilometer lange Kanäle füllen? Völlig unlogisch!“

Mitstreiter Roberto Malvezzi, bekanntester Umweltexperte der Bischofskonferenz, erinnert an die katholische Brüderlichkeitskampagne  von 2004 zur Wasserkrise:“Viele dachten, wir übertreiben, setzen auf Schlechtmacherei, Katastrophismus – doch heute haben die Bewohner in und um Sao Paulo pro Kopf weniger Wasser zur Verfügung als die Leute im dürregeplagten Nordosten!“ Was ihn besonders aufbringt – die an massenhafter Abholzung – und damit regionaler Klimaveränderung hauptschuldigen Großgrundbesitzer des Agrobusiness forsten einfach nicht auf, werden vom Staat dazu auch nicht gezwungen. „Lula, Amtsnachfolgerin Dilma Rousseff, die Opposition im Nationalkongreß betonen alle gleichlautend: Man darf das Wirtschaftswachstum nicht opfern wegen Umweltproblemen. In Brasilien fehlt leider eine Umweltschutz-Mentalität – jetzt ernten wir die Resultate jahrhundertelanger Naturvernichtung.“

 

Preise für Öko-Bischof Cappio: Katholische Menschenrechtsorganisation „Pax Christi“ zeichnete ihn 2008 mit Friedenspreis aus

Deutscher Kant-Weltbürger-Preis 2009

 

 

 Der falsche Kardinal aus Deutschland – zum fünften Mal in Brasilien festgenommen

Bombastische Erklärungen:“Ich löse den Kardinal von Sao Paulo ab, bin in ständigem Kontakt mit Papst Franziskus.“

Kaum zu fassen – Sao Paulos deutschstämmiger Kardinal Odilo Scherer warnt seit Wochen in Rundschreiben an Diözesen und Gemeinden vor ihm, aktiviert die Polizei – und dann kommt der Gesuchte in Sao Paulo  mitten in einer Schwarzen-Kundgebung auf einen zugeschritten! Den anderen Deutschen unter den Protestlern hat er rasch erblickt, stellt sich höflich vor:“Kardinal Andreas von Hohenzollern-Siegmaringen – in den nächsten Tagen löse ich hier Scherer ab, Sie werdens in der Zeitung lesen.“ In vorgetäuschter weißer Vatikan-Tunika, Bibel und andere Werke in der Hand, sucht und findet er leicht Kontakt zu den am Nationalfeiertag des schwarzen Bewußtseins versammelten Dunkelhäutigen, spricht ihnen leutselig Mut zu, äußert tiefstes Verständnis für deren politische Anliegen, den Kampf gegen Rassismus. Er spart nicht mit Staunenswertem, das zuvor bei Gläubigen in katholischen Kirchen des Teilstaates seine Wirkung nicht verfehlte:“Ich kenne Brasilien sehr gut, habe zusammen mit der jetzigen Staatspräsidentin Dilma Rousseff während der Militärdiktatur vier Jahre im Gefängnis gesessen, das hat mich geprägt.“ Aber es kommt noch besser:“Papst Franziskus hat mich jetzt hierhergesandt, mir den jüngsten Bischof unserer Kirche, einen 33-jährigen Haitianer, als Assistenten  zur Seite gestellt. Er soll mir in der Erzdiözese Sao Paulo bei meinen Kardinalsaufgaben helfen.“Dann folgt ein bizarrer Diskurs über Geschichte und aktuelle Lage von Haiti, das er sehr gut kenne. Wie stets bei jedem Thema – eine schockierend-bestürzende Pointe:“Die Haitianer sind Kannibalen!“

„Kardinal Andreas von Hohenzollern-Siegmaringen“ hat an diesem Nationalfeiertag schon einiges hinter sich. Am frühen Morgen zirkuliert er am famosen Morumbi-Fußballstadion Sao Paulos unter Menschenmassen, wird von Polizisten erkannt, festgenommen, auf einer Wache vernommen. Die Beamten sind kurioserweise nicht in der Lage, in den dreisten Lügen und Vortäuschungen ein Delikt zu erkennen, lassen ihn bald wieder laufen. Doch am zweiten Auftrittsort, der Schwarzenkundgebung, geht es schief – einige aufgeweckte, kräftig politisierte Menschenrechtsaktivisten durchschauen den Schwindel, rufen Polizisten. Bei der folgenden Vernehmung ist auch Presse dabei – warum immer andere Namen, will man wissen. Vor Jahren Wolfgang Schuler, jetzt gemäß vorgelegten Dokumenten Christian Limley – doch in Wahrheit, darauf besteht der „Kardinal“, sei er tatsächlich Andreas von Hohenzollern-Siegmaringen. Brasiliens Geheimdienst ABIN kenne alle Zusammenhänge. Mit Freilassung ist diesmal nichts – nun ist er im Gewahrsam der Bundespolizei – nicht zum ersten Mal. Besonders lang ist sein Sündenregister im nordöstlichen Teilstaat Bahia. Dort stellt er sich als polnischer Erzbischof vor,  zelebriert sogar Gottesdienste, logiert sich erfolgreich in Klöstern ein – bis er 2004 enttarnt, festgenommen, nach Deutschland abgeschoben wird. Doch 2007 ist er wieder da, trinkt gar Kaffee mit Ordensschwestern Bahias – erst drei Jahre später wird er erneut geschnappt, deportiert. Ob damals oder jetzt – stets bekommt man von Gläubigen, die mit ihm beteten, ihn gar Gottesdienste zelebrieren sahen, zur Antwort:“Der schien so einfühlsam, wir haben ihm geglaubt, gar Widmungen in religiöse Werke schreiben lassen.“

Sao Paulos Kardinal Erzbischof Odilo Scherer kommt aus dem Staunen nicht heraus:“Dieser Mann gab sich hier in der Region zuletzt sogar als Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode aus, zudem als Mönch, als Vatikan-Abgesandter!“

Laut Bundespolizei wird er  nach Deutschland deportiert.

 Lateinamerikas Landplage – die falschen Padres

Raub, Überfälle, Betrug

Brasilien und Mexiko besonders betroffen

Falsche Sektenpastoren sogar wegen Vergewaltigung in Haft

In lateinamerikanischen Ländern wird jährlich die Glaubwürdigkeitsrate von Institutionen des Staates und der Gesellschaft ermittelt – sehr häufig erringt die katholische Kirche den Spitzenplatz. Das machen sich besonders in den von hoher Gewaltkriminalität und tiefverwurzelter Korruption gezeichneten Staaten wie Brasilien und Mexiko zigtausende Gauner und Gangster zunutze, um als „Scharlatane der Religion“ sogar schwerste Straftaten zu begehen. Als hätten Bischofskonferenz, Diözesen und Gemeinden nichts besseres zu tun, müssen sie die Öffentlichkeit permanent vor ganzen Banden falscher Priester und deren neuesten Tricks warnen. Als kürzlich der falsche Kardinal „Andreas von Hohenzollern-Sigmaringen“ aus Deutschland just in Sao Paulo festgenommen wird, erinnern sich ungezählte Brasilianer eigener Erlebnisse:  In der Stadt Tieté bei Sao Paulo läßt die 83-jährige Irene Simonetti erst kürzlich im November einen vermeintlichen Priester ins Haus, damit er ihre Habseligkeiten segne, darunter den Familienschmuck. Der als höchst vertrauenerweckend beschriebene Mann bittet um ein Glas Wasser – als Senhora Simonetti es ihm im Wohnzimmer dankbar kredenzen will, sind Scharlatan und Schmuck weg – in mindestens 30 Städten des Teilstaats verlieren Gläubige auf ähnliche Weise, teils sogar durch brutale Gewalt, zudem erkleckliche Geldsummen und Wertgegenstände. Die selben Tricks funktionieren im tiefen Süden Brasiliens ebenso wie in den nördlichen Weiten Amazoniens, sogar im von deutschen Einwanderern geprägten Blumenau – gerade jetzt, vor Weihnachten, bitten „falsos padres“ zudem um möglichst üppige Spenden für Altenheime, die ganze kirchliche Sozialarbeit, stellen sich nur zu oft äußerst geschickt an:“Er muß unsere Familie monatelang studiert, ausgeforscht  haben, wußte von unserer tiefen Religiosität, allen Details unseres kirchlichen Engagements – wir haben ihn hereingelassen, alles Geld und Schmuck sind futsch! Wie konnten wir nur so blöd sein“, klagt Marcos Santini in Manaus. Meister-Scharlatane nehmen sogar die Beichte ab, zelebrieren Gottesdienste, Hochzeiten und Taufen. Nicht wenige Brasilianer der betuchten Schichten finden es schick, wenn ein Padre die Trauung zuhause in der Villa oder im luxuriösen Landhaus des Großgrundbesitzes vollzieht – böses Erwachen, wenn der Dreh herauskommt und zum Gespött der Leute sozusagen zum zweitenmal geheiratet werden muß. Wird ein Scharlatan gefaßt, sind ihm gewöhnlich um die drei Jahre Haft sicher.

In Mexiko die ähnliche Landplage – von der Bischofskonferenz wird die Zahl herumziehender falscher Priester auf bis zu 10000 geschätzt.

Viel übler betroffen sind indessen die evangelikalen Sektenkirchen Lateinamerikas – neben Raub fällt die hohe Zahl von Vergewaltigungen ins Auge. 2014 wird bei Rio de Janeiro „Pastor“ Edilson Ferreira von der „Universalkirche“ gefaßt – in seinem Haus hatte er Raubgut im Wert von umgerechnet fast einer Million Euro versteckt, sein Vorstrafenregister ist lang. „Pastor“ Reginaldo dos Santos verging sich in Rio de Janeiro an mindestens 14 Mädchen sexuell – worauf das Gericht ihn zu 78 Jahren verurteilte.

Fußball-WM in Brasilien – Schokoladenseite und schmerzhafte Widersprüche

Katholische Kirche prangert staatliche Repression an

„Verheerende Szenarien“

Die TV-Bilder lassen scheinbar keinen Zweifel – ganz Brasilien im Fußballrausch,  Tanzen und Feiern bis zum Morgengrauen. Die WM funktioniert viel besser als vorausgesagt, ist ein Riesenerfolg – und Straßenproteste gibt es kaum. Rio de Janeiro – einfach wunderbar, Fans hüpfen begeistert vor den TV-Kameras. Wer will wohl solchen Berichten widersprechen, um sofort als mieser Spielverderber abgestempelt zu werden? Doch der Schein trügt, heißt es im Volksmund – und beinahe jeder, vor allem Christen,  wissen aus eigener Erfahrung: Mit der Wahrnehmungsfähigkeit ist das so eine Sache.

Stutzig macht lange vor dem Anpfiff, daß die Kirche des größten katholischen Landes nicht  in verordnete WM-Euphorie einstimmt, den ausländischen Fans rät, ruhig auch kritisch hinter die tropisch-bunt-exotische Spiele-Kulisse zu schauen.

Oft nur Schritte von Stadien und Fanmeilen entfernt keine Spur von Fußball-Euphorie. Dafür  etwa in  Sao Paulo beunruhigende Sprechchöre:“Laßt die politischen Gefangenen frei!“

Überraschend viele Brasilianer, laut Umfragen immerhin sogar 23 Prozent der Männer,  schauen sich die Spielübertragungen garnicht an. Die übergroße Mehrheit im Lande muß auch während der WM einen meist lebensgefährlichen und sehr stressig-chaotischen Alltag bewältigen. Just während der Stadionspiele protestiert die nationale Bewegung wohnungsloser Arbeiter/MTST lautstark vor dem Stadtparlament Sao Paulos gegen Wohnungselend. Lateinamerikas reichste Großstadt hat immerhin über 2600 Slums, ständig entstehen neue. Und auch auf der noblen Flaniermeile Avenida Paulista der Banken, Geschäftshäuser, Shopping Center und Restaurants wird täglich protestiert. Dazu gehört viel Mut und Courage – öffentliche,  private Firmen feuern Protestierer immer häufiger fristlos. Mitten in der WM ein grotesk-bizarrer Anblick zum Fürchten. Rund  200 Demonstranten, unter ihnen katholische Menschenrechtsaktivisten, der landesweit bekannte Menschenrechtspriester Julio Lancelotti,  werden von über 700 teils sogar mit Maschinenpistolen bewaffneten Militärpolizisten in Robocop-Uniform, dazu Kavallerie eingekesselt. Und immer wieder Festnahmen auch in anderen Spielorten, gleich in der ersten WM-Woche über 170  – wegen Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung, Tragens von Explosivstoffen, heißt es offiziell. Anwälte der Protestbewegung und auch der Kirche nennen das frei erfunden, stufen die Betroffenen als politische Gefangene ein.

 Doch siehe da – Fernsehreportagen über die erschreckende Kehrseite der WM fehlen in Mitteleuropa. Adveniat, das Lateinamerika-Hilfswerk der deutschen Katholiken,  kritisiert nicht zufällig, die soziale Lage Brasiliens sei praktisch kaum Thema, wegen massiver Polizei-und Militärpräsenz komme es kaum zu Protesten.

In der Tat – die allermeisten Medien lassen gravierende Menschenrechtsverletzungen, darunter systematische Folter, Todesschwadronen, die Verfolgung und Ermordung systemkritischer Journalisten, von Umweltaktivisten und Bürgerrechtlern unter den Tisch fallen. In keinem Land der Welt ist die Zahl der Morde höher, werden soviele Homosexuelle liquidiert wie in Brasilien.

Ist das schon wieder Miesmacherei, die man wenigstens während der WM mal vergessen sollte? Wer in Brasilien direkt betroffen ist, gar in absolutem Elend lebt, sieht das anders.

In einer ironischen brasilianischen Zeitungskarikatur ruft ein Fan dem nationalen Superstürmer Neymar zu:“Du mußt heute gewinnen!“ Worauf Neymar unter Anspielung auf seine Maxi-Honorare zurückgibt:“Ich gewinne immer!“

Neymar „verdient“ normalerweise monatlich umgerechnet rund 3 Millionen Euro, hat einen „Stundenlohn“ von über 4000 Euro – im WM-Jahr indessen als Werbeträger für Unterhosen, Autos, Kosmetik ein Mehrfaches. Brasiliens Brutto-Arbeitereinkommen liegt offiziell bei durchschnittlich  rund  590 Euro, der Mindestlohn bei 240 Euro. Den kriegt aber nur ein Bruchteil der Berechtigten.

Aber heißt es nicht auch  in WM-Jubelberichten, Millionen Brasilianer seien die letzten Jahre dank staatlicher Hilfen der Armut entkommen, gar in die Mittelschicht aufgestiegen? Da rät die katholische Kirche, sich  Bemessungsgrenzen und Preisniveau, bei vielen Produkten über dem deutschen, genauer anzuschauen. Denn  mit nur 25 Euro „Monatseinkünften“ ist man schon angeblich der extremen Armut entkommen. Und das vielgelobte Anti-Hunger-Programm „Bolsa Familia“? Bedürftige Familien, meist kinderreich,  kriegen monatlich im Durchschnitt umgerechnet 55 Euro, die in extremer Armut rund 80 Euro.

Laut Regierung erhalten derzeit rund 14 Millionen Familien diese  „Bolsa Familia“ dies seien etwa 50 Millionen Menschen.  Bei weitem nicht alle Anspruchsberechtigten, sagt die Kirche, spricht von Almosen.

Auch das  Heer der obdachlosen Straßenbewohner bekommt keinerlei Zahlungen. Da hält sich  WM-Begeisterung in sehr engen Grenzen.

Auch brasilianische Universitätsabsolventen verdienen nach mehreren Jahren als Angestellte in Privatunternehmen monatlich  nur umgerechnet brutto zwischen 800 und 900 Euro.

Aber wer jubelte, kreischte, sang dann in den WM-Stadien?  

Die katholische Kirche, darunter Franziskaner David Santos in Sao Paulo, der die Schwarzen-Bildungsorganisation EDUCAFRO leitet, weisen auf  absurde Sozialkontraste, schmerzhaften Rassismus:“Über die Hälfte der rund 200 Millionen Brasilianer sind dunkelhäutig – doch in den Stadien sieht man nur Weiße!“ Die FIFA habe auf EDUCAFRO-Kritik  geantwortet, Weiße, Schwarze, Indios und Migranten hätten die gleichen Möglichkeiten, an der WM teilzunehmen. Franziskaner Santos: „Davon kann keine Rede sein.“ Umfragen geben ihm Recht: In den Stadien sitzen fast durchweg Mittel-und Oberschichtler aus der absoluten Minderheit der Gutbetuchten. Die können nicht klagen, sehen Privilegien gewahrt, keinerlei Grund für Protest.

Der kommt auch von Kardinälen, Bischöfen des Tropenlandes, darunter dem aus Österreich stammenden Erwin Kräutler, der in Amazonien gegen den Bau des Megastaudamms „Belo Monte“ kämpft. Was sich in Brasilien abspielt, ist für Kräutler „Zivildiktatur“ – Lula und die jetzige Staatschefin Dilma Rousseff würden als Zerstörer des Regenwalds in die Geschichte eingehen: “Solange es für die Kinder nicht einmal anständige Schulbänke gibt, Kranke in Krankenhausfluren auf dem Boden liegen oder in langen Warteschlangen vor einem Gesundheitsamt tot umfallen, Arbeiter und Angestellte täglich stundenlang in Bussen wie in Sardinendosen eingepfercht zum Arbeitsplatz fahren müssen, ist es ein Skandal, Milliarden für Fußballstadien hinauszuschmeißen.”

Auch Walmor Oliveira de Azevedo, Erzbischof im WM-Spielort Belo Horizonte, spricht von “verheerenden, niederschmetternden  Szenarien”:“Das Gesellschaftssystem hier ist ungerecht bis an die Wurzeln –  Arme zu mißhandeln und auszugrenzen,  ist eine Schande“. Wichtiger als der Weltmeistertitel wäre, die Konzentration von Reichtum und Geld in den Händen einer Minderheit abzuschaffen, die Epidemie der Korruption zu besiegen. Brasiliens Caritas: „Ein Großteil ist  grauenhafter Realität“ ausgeliefert“.  Die WM verliere jedesmal mehr von Schönheit und Sinn – zugunsten von  „Geld und Spekulation, Ausbeutung sowie Mißachtung der Bürgerrechte gerade der ärmsten Schichten“.

Wirklich nur wenige kleinere Proteste während der WM? Laut Kirche und Sozialbewegungen ist nur zu oft  bei Demonstrationsbeginn die Militärpolizei massiv zur Stelle und droht,  jeden festzunehmen, der auch nur ein Protestplakat zeige. Fast alle geplanten Manifestationen seien verhindert worden – was Verfassungsrechte verletze. Hunderte von bekannten Menschenrechtsaktivisten habe die Militärpolizei landesweit zuhause „besucht“ –  und bedroht, eingeschüchtert. In allen zwölf Spielorten hatte die Regierung zudem Spezialteams stationiert, die sich gezielt mit Protestorganisatoren befassen sollten.

In der Erzdiözese Sao Paulo, drittgrößte der Erde,  wird Menschenrechtspriester Julio Lancelotti unbeabsichtigt Experte für zivilen Widerstand, kämpft für die Freilassung der politischen Gefangenen. „Der Staat will mit aller Macht Proteste verhindern, ein falsches Landesimage erzeugen – doch das gelingt nicht. Die Repression fällt jedermann auf. Nicht einmal während der Militärdiktatur wurde die Repressionsmacht des Staates so massiv betont, so gut sichtbar herausgestellt. Bischof Kräutler hat Recht – das ist hier eine Zivildiktatur!“

Lancelotti leitet das Obdachlosenvikariat der Erzdiözese – merkwürdig, von vielen Stellen der Megacity sind die Straßenbewohner verschwunden. „Kein Wunder, die werden bedroht: Besser für dich, du verschwindest von hier! Doch Militärpolizei geht auch mit Blendgranaten und Tränengas gegen Obdachlose vor – wir haben beim Innenministerium Anzeige erstattet.“

 Brasiliens Protestbewegung hätte sich über mehr Solidarität aus Deutschland gefreut – doch die bleibt größtenteils aus.

Als gar eine öffentliche Protestversammlung massiv von Militärpolizei und Kavallerie eingekesselt wird, sich am Podium ein Filmteam der Polizei postiert und provozierend alle Teilnehmer registriert, platzt Lancelotti der Kragen, wendet er sich direkt an die Spezialeinheiten: „Ich bin Zeuge der brutalen Gewalt – und sehe jetzt erneut diese imperiale Armee, die uns den Krieg erklärt. Ich habe in diesen Tagen eine Jugend erlebt, die widersteht, die Übergriffe der Macht nicht akzeptiert. Wenn man die Gefangenen zu gefährlichen Individuen erklärt, dann sind wir alle hier es auch! Dann könnt ihr uns alle hier genauso gefangennehmen!  Zeigt Courage, legt uns genauso Handschellen an wie jenen Gefangenen!  Ich habe keine Furcht, bin in meinem Leben oft den Spezialeinheiten der Militärpolizei entgegengetreten. Ihr könnt nicht verhindern, daß ich euch zurufe – ihr seid niederträchtig!” 

Aus Sicht brasilianischer Menschenrechtsaktivisten sendet der Staat diese Botschaft an Protestierwillige: Wir haben keine Skrupel, Menschen unter erfundenen Beschuldigungen einzusperren – jeder kann der nächste sein.  

„Faschistisch“ nennt das Waldemar Rossi, der in der Erzdiözese die Arbeiterseelsorge leitet: “Brasilien ist nur angeblich demokratisch. Die Regierung ergriff zur WM alle repressiven Maßnahmen –  – und investierte gleichzeitig immens in Medienpropaganda-Trommelfeuer, damit TV, Radio, Zeitungen eine WM-Euphorie stimulieren. Psychologisch sehr geschickt gemacht!“

Rossi wird einst just von dieser  weiter existierenden Militärpolizei als Regimegegner während der Diktatur grauenhaft gefoltert. Nicht wenige Brasilianer erinnert daher diese WM an  1978,  als man den World Cup in der blutigen, barbarischen Militärdiktatur Argentiniens stattfinden ließ.

Aber heißt es nicht, gerade in Rio habe sich das Gastgeberland Brasilien von seiner besten Seite gezeigt, herrsche überall fabelhafte, ansteckende Lebensfreude?

Auch da widerspricht die Kirche, sieht ihre Voraussagen bestätigt. In den allermeisten der über 1000 Elends-und Armenviertel  weiter brutale Unterwerfung der  Bewohner durch hochgerüstete Banditenkommandos des organisierten Verbrechens.  So wird Protestpotential  effizient paralysiert, wie eh und jeh.

Dazu fast täglich Schießereien, gar Feuergefechte zwischen Gangsterkommandos und der Polizei selbst  in angeblich befriedeten Slums, genaue Opferzahlen werden nicht bekannt. Ein dreijähriger Junge wird erschossen, ein anderes Mal ein Achtjähriger. Nicht zufällig sind nur wenige Slumbewohner bei den Straßenprotesten.

Geistliche, doch auch ganz normale Brasilianer beobachten, daß entgegen den bunten Fernsehbildern der Enthusiasmus im Lande viel geringer ist als bei vorangegangenen WM. Kaum Feuerwerk – Viertel, Straßen, Häuser wenig geschmückt. Feste nach Siegen des Neymar-Teams verebben meist rasch. Ganze Firmenbelegschaften arbeiteten früher im Trikot der Nationalelf – zur WM 2014 kommt niemand auf diese Idee. Hinweis auf den Pessimismus wegen der sozialen und wirtschaftlichen Lage, hört man von allen Seiten.

Aber war nicht sogar das befürchtete Chaos auf den Flughäfen ausgeblieben? Genauer hinschauen, hatte die Kirche geraten: Wegen der unerwartet geringen Zahl in-und ausländischer Touristen an den Spielorten waren Inlandsflüge im Durchschnitt nicht einmal zu 40 Prozent besetzt, auch Hotels bei weitem nicht voll belegt – hatte die Verkehrsinfrastruktur viel weniger zu verkraften als sonst.

Der neue Riesentempel von Sao Paulo – „Shopping Center des Glaubens“?

Nachbildung des Tempels von König Salomon fast fertig

Wunderheilersekte investiert über 100 Millionen Euro             

Peinigen den katholischen Padre Marcelo Monge jetzt schmerzhafte Minderwertigkeitskomplexe, wenn er aus seiner vergleichsweise winzigen Kirche tritt und auf den gigantischen Tempel der anderen Straßenseite schaut? Kann sich Monge ausmalen, daß seine Gemeindemitglieder schon in Kürze „rübermachen“ und er vor leerer Kirche predigt?

Komisch, Monge wirkt nicht ein bißchen nervös, nimmt es mit Humor und Sarkasmus, wohl weltweit als einziger katholischer Geistlicher in einer so bizarr-exotischen Lage zu sein. Nicht auszuschließen, daß er schon demnächst auch für deutsche Religionstouristen den Fremdenführer spielen muß, die sich das neue Postkartenmotiv der Megacity Sao Paulo unbedingt mal anschauen wollen. Lohnen wird es sich auf jeden Fall. Wo kriegt man in Deutschland schon mal verrückteste Wunderheilungen, Teufelsaustreibungen vor Massenpublikum zu sehen?

In der Megacity mit den über 23 Millionen Einwohnern  errichtet die evangelikale „Universalkirche vom Reich Gottes“ eine Nachbildung des berühmten Tempels von König Salomon in Jerusalem aus dem zehnten Jahrhundert – gigantisch, 55 Meter hoch.

“Die Idee zu dem Tempelbau  kam uns, als wir vor Jahren von Jerusalem zum Berge Sinai fuhren“, so  der selbsternannte Bischof, Multimillionär und Sektenchef Edir Macedo.  „Im Tempel von Sao Paulo werden wir die Vereinigung von Christentum und  Judaismus erleben. Wir versprechen uns eine Belebung des Glaubens – Millionen und Abermillionen aus aller Welt werden hierherkommen, die Größe Gottes bewundern.“

Der Tempel ist deutlich größer als die Kathedrale von Sao Paulo, doppelt so groß wie der Präsidentenpalast in der Hauptstadt Brasilia. Steine für die Tempelfassade wurden sogar aus einen Steinbruch von Hebron herangeschafft.

Doch siehe da – gehässige Kritik kommt ausgerechnet von anderen evangelikalen Sektenkirchen. Denn diese  konkurrieren untereinander, jagen sich Gläubige und Pastoren. Valdemiro Santiago beispielsweise, der nach Bischof Edir Macedo zweitreichste Sektenführer Brasiliens, lernte 18 Jahre lang an der Seite Macedos alle Tricks zum Reichwerden, darunter spektakuläre Teufelsaustreibungen – und machte dann seine eigene Kirche, die „Weltkirche der Macht Gottes auf“, ernannte sich zum Apostel. Sein Haupttempel, eine riesige ehemalige Fabrikhalle, steht ebenfalls im Stadtteil Bras von Sao Paulo, nur ein paar Fußminuten vom neuen „Templo do Salomao“ entfernt.

Santiago beschimpft Bischof Macedo öffentlich sogar als Säufer und Verrückten: “Wozu so ein teurer Tempel, wo doch unser Volk so leidet. Und König Salomon, der ist doch schon lange tot. Ich will als Prediger Seelen gewinnen – doch nicht mit Salomon-Tempeln und Cherubim. Nötig ist, das Evangelium über das Fernsehen zu den Menschen zu bringen – und das ist teuer!“

Apostel Valdemiro kauft Sendezeit in brasilianischen TV- Privatkanälen und ist dort jeden Abend stundenlang live im Haupttempel Sao Paulos mit Wunderheilungen zu sehen.

Grotesker kann es daher für die katholische Gemeinde „Sao Joao Batista do Bras“ nicht laufen – zumal gleich neben ihrer Kirche allen Ernstes noch ein gewaltiger Sektentempel mit Stahl-und Glasfront steht – von der evangelikalen „Gottesversammlung“(Assembleia de Deus).

Padre Marcelo Monge, 45, zugleich Direktor der Caritas in der Erzdiözese Sao Paulo, fragt sich jedenfalls, ob die Universalkirche den neuen Salomon-Tempel vollkriegt, denn derzeit verliere Sektenchef Macedo sehr viele Gläubige. Das mag ihm auf den Magen geschlagen sein – Brasiliens erster Teufelsaustreiber, einst recht füllig,  ist auf einmal richtig dürre geworden.

Padre Monge: “Für mich ist dieser Tempel ein Shopping Center zur Ausbeutung des Glaubens der einfachen Leute – da werden Illusionen verkauft. Uns nennen Evangelikale die Kirche des Teufels, des Antichrist. Bischof Macedo sagt sogar: Gib den Zehnten – denn damit verpflichtest du Gott, dir zu geben was du willst – denn du hast ja schon bezahlt!“

Sowas, meint Monge,  sei eine grobe Verzerrung des Glaubens. „Für unsere katholische Kirchengemeinde ist der Salomon-Tempel keine Konkurrenz – Gläubige sollen den anderen evangelikalen Kirchen hier abgeworben werden.“

Vor der Fußball-WM sind Monge und seine Gemeinde natürlich bei den Straßenprotesten gegen Korruption, Mittelvergeudung, das schlechte Gesundheits-und Bildungswesen, dabei, fordern Bürgerrechte. Leute aus den evangelikalen Sektenkirchen trifft Monge dort nicht:“Die gehen nicht zu Demos, sehen das als Zeit-und Kraftverschwendung an – die sind Individualisten, Sekten denken permanent nur an Profit.“

-Sklavenarbeit und Fußball-WM-

Gleich hinter der Gemeindekirche passiert kürzlich Unglaubliches: Ein Mann bietet auf dem Straßenmarkt lautstark zwei Bolivianer zum Verkauf an – jeden für umgerechnet 320 Euro. Kann denn das wahr sein? Padre Monge nickt:“Genauso wars, unglücklicherweise passiert das sogar häufig – meine Gemeinde liegt auch noch mitten in einem Viertel massiver Sklavenarbeit!“ Die Evangelikalen verteilen bestenfalls mal Lebensmittelpakete, wie Almosen – Monges Gemeinde kämpft gleich mit mehreren Pastoralen und der Caritas darum, möglichst viele Bolivianer, Peruaner aus dem Joch der Sklavenarbeit zu befreien. Gerissene Anwerber haben sie mit attraktiven Lohn-Versprechen illegal über die Grenze nach Sao Paulo geholt – jetzt ackern die allermeisten bis zu 18 Stunden täglich in Hinterhoffabriken,  nähen Kleidung selbst für große multinationale Textilketten. Laut amtlicher Statistik sind inzwischen  70 % der Bewohner des Viertels Bolivianer. Das Verrückte ist – nur selten kriegt man mal einige zu sehen – just wegen der Sklavenarbeit. „Viele haben keine Papiere, sind Analphabeten bzw. haben nur sehr geringe Bildung – also drohen die Arbeitgeber: Du wirst verhaftet, deportiert, wenn dich die Polizei sieht!“ Die katholische Migrantenseelsorge macht deshalb Sklavenarbeiter ausfindig, schaltet daraufhin die Regierungsbehörden, das Arbeitsministerium ein, die dann Besitzer von Hinterhoffabriken  zwingen, mit den Bolivianern feste, ständig kontrollierte Arbeitsverträge abzuschließen. Das klingt recht einfach, ist indessen eine äußerst knifflige, zudem nicht ungefährliche Aufgabe. Entsetzlich viele Bolivianer sind immer noch Sklavenarbeiter – weil der Staat seinen gesetzlichen Pflichten nicht nachkommt.

Das gab es noch nie: Auf einem Gottesdienst in Sao Paulos Kathedrale nähte jetzt ein Bolivianer direkt vor dem Altar an der Maschine – die Protestaktion richtete sich auch gegen die Fußball-WM.

Brasilien vorm WM-Start 2014 – katholische Kirche und Proteste

“Fußball-WM ist ein Unglück für Brasilien.”(auflagenstärkste Qualitätszeitung Folha de Sao Paulo)

Anpfiff ist am 12. Juni in der Megacity São Paulo, drittgrößte Erzdiözese der Welt. Von prima Klima, gar Vorfreude  keine Spur – stattdessen tagtäglich Straßenproteste. Menschenrechtspriester Julio Lancelotti ist stets dabei. Militärpolizei feuert   eine Tränengas-Blendgranate genau in seine Richtung – die Explosion reißt ihm das Bein auf, Blut fließt auf den Asphalt, doch er schleppt sich weiter, solange es geht. Den Menschen, die trotz der Polizeiübermacht, darunter Kavallerie mit schweren Säbeln, immer wieder zu Anti-WM-Demonstrationen gehen, ist der geistliche Beistand durch Lancelotti, die Hilfe von Aktivisten der Sozialpastoralen enorm wichtig.

In der Hauptstadt Brasilia gehen sogar protestierende Indianer mit Pfeil und Bogen auf berittene Polizei los.

Weniger als die Hälfte der rund 200 Millionen Brasilianer, so seriöse Umfragen, sind noch einverstanden, daß die „Copa“, wie man hier sagt, in ihrem Land stattfindet. Eine wachsende Mehrheit lehnt das FIFA-Spektakel vehement ab, weist auf gravierende soziale Probleme.

Deutschland, Ausrichter von 2006, liegt auf dem UNO-Index für menschliche Entwicklung auf Platz 5 – Brasilien jedoch nur weit abgeschlagen auf Platz 85. Padre Lancelotti, Bischöfe, ungezählte katholische Menschenrechtsaktivisten, doch auch professionelle Fußballexperten halten 2006 daher bereits die WM-Bewerbung durch Brasilia für absurd, sozial unvertretbar, für Idiotie und einen schlechten Witz – und haben Recht behalten. Bis letztes Jahr werden sie oft ausgelacht. Selbst in Deutschland heißt es, die WM werde dem Tropenland mehr Wohlstand, wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg bescheren. Doch nun sind die Fakten nicht mehr zu übersehen – Stagnation statt Konjunktur und Wachstum, dazu Hochinflation und Entlassungen .

Die eigens für die WM auch mit Hilfe deutscher Firmen, deutscher Sponsoren errichteten Stadien sind inzwischen dreimal teurer als geplant – während oft ganz in deren Nähe neue Elendsviertel entstehen. Selbst in Sao Paulo, der reichsten Stadt ganz Lateinamerikas  mit weit über 2600 Slums, hat die Bewegung der wohnungslosen Arbeiter(MTST) nur zwei Kilometer vom nagelneuen Itaquerao-Stadion auf besetztem Gelände mehrere Tausend Hütten und Baracken errichtet, wird beim WM-Eröffnungsspiel für Protest-Überraschungen sorgen.

Auch in Sao Paulo brechen Kranke in der Warteschlange vor öffentlichen Hospitälern tot zusammen, sterben andere auf dem harten Boden von Klinikkorridoren, weil Ärzte und Pfleger,  Medikamente und Krankenbetten fehlen. Bei jedem Gottesdienst in Sao Paulos Kathedrale werden solche skandalösen Kontraste angeprangert: „Diese milliardenteuren Stadien sind eine Beleidigung der Menschenwürde, da es den einfachen Brasilianern an Wohnung fehlt, unser  Gesundheits-und Bildungswesen unzumutbar schlecht ist wie der öffentliche Nahverkehr“, sagt Padre Tarcisio Mesquita. „Laßt uns beten für alle, die auf den WM-Baustellen umkamen, Opfer gefährlicher und armselig bezahlter Arbeit wurden.“

Und dann nennt er einen weiteren Skandal: Jene WM-Trikots, die jetzt überall im Lande zu teils gepfefferten Preisen auch an ausländische Touristen verkauft werden, fertigen häufig  Sklavenarbeiter aus Bolivien in dunklen, stickigen Hinterhoffabriken Sao Paulos. „Das ist eine Schande!“

Ob dem deutschen Team auffällt, daß sich ihr luxuriöses WM-Quartier just im nordöstlichen Teilstaat Bahia befindet, der für systematische Folter, Todesschwadronen, Gefängnis-Horror und Lynchjustiz berüchtigt ist?

Vor der „Copa“ hat Brasiliens Bischofskonferenz erneut die gravierenden Menschenrechtsverletzungen im Lande verurteilt, darunter das „Klima des Terrors“ in ganzen Regionen. Die Gesellschaft werde als Resultat des wirtschaftlich-sozialen Modells immer gewalttätiger, was zu mehr extremer Ausbeutung, darunter sexueller, sowie Selbstzerstörung durch Drogen führe.

Auch Padre Lancelotti widmet in der Kathedrale von Sao Paulo ein Gebet all jenen, „die Opfer von Repression und Folter sind.“ Soetwas im Land der Fußball-Weltmeisterschaft?  Die bischöfliche Gefangenenseelsorge, doch auch Soziologen und Historiker haben vor der WM betont, daß die während des Militärregimes angewandte Folter weiterhin allgemeine Praxis ist. Brasilien sei sogar das einzige Land Lateinamerikas, in dem die Folter nach der Militärdiktatur zugenommen habe.

Padre Lancelotti:”Während der Fußball-WM wird die Repression zunehmen.”

Auch ein ganz Prominenter, der in Deutschland vielgelesene brasilianische Bestsellerautor Paulo Coelho, erhebt seine Stimme: „Die derzeitige Regierung ist ein Desaster – die Proteste sind absolut gerechtfertigt. Ich kriege alle WM-Eintrittskarten gratis – doch ich nutze sie nicht, gehe zu keinem einzigen Spiel. Ich kann doch nicht in einem Stadion sitzen und wissen, was draußen in den Krankenhäusern passiert, mit der Schulbildung – all das, was die Vetternwirtschaft der Arbeiterpartei von Lula bewirkt hat!“

Rodrigo Bueno aus Sao Paulo zählt zu den führenden brasilianischen Fußballexperten, hat während der WM in Deutschland für die auflagenstärkste Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“ sowie für einen TV-Sportkanal die Spiele kommentiert. Nach der Rückkehr trifft ihn wie üblich der Kulturschock – Bueno sieht die Slums, das Massenelend, Desorganisation und Gewalt, die ganze geballte Häßlichkeit des abgasvergifteten Betonmeers von Sao Paulo. Der Entwicklungsabstand zu Europa wird ständig und deutlich spürbar größer. “Wie die Brasilianer leiden, was sie tagtäglich ertragen müssen, macht mich traurig und unzufrieden.”

 Ein landesweit zu hörender Protest-Sprechchor – an Staatschefin Dilma Rousseff gerichtet: „Dilma, escuta, na Copa vai ter luta!“ („Dilma, hör zu, während der WM wird es Kampf geben!“)

Aufrechte Katholiken als „Terroristen“

Fünfzig Jahre nach dem Militärputsch vom 31. März 1964 in Brasilien

 Brasiliens katholische Kirche gedenkt der zahlreichen ermordeten oder totgefolterten Geistlichen, Ordensbrüder und Pastoralmitarbeiter. Sogar oppositionelle Dominikaner als „gefährliche Terroristen“ gejagt.

Diesen Tag vergessen sie nie: Gestern noch Demokratie, verkündete Reformen gegen Massenelend und archaische Strukturen teils noch aus der Sklavenzeit – heute seit dem Morgengrauen rollende Panzer der Putschisten in Rio de Janeiro und Sao Paulo auf Geheiß reaktionärer Eliten.  Massenverhaftungen, erste Konzentrationslager, der gewählte Präsident  Joao Goulart zur Flucht nach Uruguay gezwungen. Fünfzig Jahre später sind die Dokumente, Erinnerungen, Erfahrungen Tausender katholischer Regimegegner von damals der neuen Regierungs- Wahrheitskommission über Diktaturverbrechen geradezu Gold wert: Bereits 1964, betonen namhafte Historiker und Intellektuelle wie der Dominikaner Frei Betto, werden 50000 Menschen eingekerkert, sogar in Fußballstadion, umfunktionierte Frachtschiffe gesperrt, wird die Folter eingeführt, dazu Mord, Verschwindenlassen und Entführung.

“Gemäß dem biblischen Prinzip, niemandem Asyl zu verweigern, der es wirklich braucht, haben wir Dominikaner während der Diktaturjahre zahlreiche Verfolgte der verschiedensten ideologischen Richtungen aufgenommen und unterstützt“, sagt Frei Betto im Dominikanerkloster von Sao Paulo.  Erstmals in der brasilianischen Geschichte seien so viele Christen eingesperrt und fast ausnahmslos gefoltert worden. „Wir Ordensbrüder haben damals nicht zu den Waffen gegriffen – das hat auch niemand von uns erwartet. Aber wir stellten Widerstandsorganisationen die nötige Infrastruktur, organisierten an der Grenze zu Argentinien und Uruguay jenen Diktaturgegnern, deren Leben in höchster Gefahr war, die Flucht, hatten ein Netz von Verstecken für Verfolgte aufgebaut.“

Bescheiden, wie er ist, mag Frei Betto da nicht Klartext reden: Der Dominikaner hat damals unter Einsatz seines Lebens einer Unzahl von Menschen schlichtweg das Leben gerettet. Viele andere Ordensbrüder handelten genauso. 

Kuriose Szenen zuhauf: Ein verfolgter Widerstandsführer sieht exakt so aus, wie man sich gemeinhin einen seriösen katholischen Padre vorstellt. Also kleiden ihn Geistliche wie einen der ihren, gehen mit ihm in einer Gruppe über den Grenzübergang nach Uruguay. „Wirklich, ein perfekter Padre“, lachen alle hinterher.

Doch der Repressionsapparat verfeinert seine Fahndungsmethoden, überwacht die Kirche als  führende Oppositionskraft immer besser, kommt schließlich auch Frei Betto auf die Spur: “Als mir die Verhaftung droht, springe ich, als vorne schon die Repressionspolizei steht, hinten über die Klostermauer in den Wald, verstecke mich in einem südbrasilianischen Konvent, sitze  abends mit den Ordensschwestern, die nicht wußten, wer ich wirklich war, vor der brasilianischen Tagesschau. Gleich am Beginn hält  der Sprecher mein Fahndungsfoto hoch und beschreibt  mich als gefährlichen Terroristen. Die Ordensschwestern lassen vor Schreck ihr Strickzeug fallen, drehten sich nach mir um, vergleichen mein Gesicht mit dem in der Tagesschau. Bereits am nächsten Tag hatte mich die politische Polizei auf einem Bauernhof gestellt.“

Frei Betto wird vier Jahre eingekerkert – verarbeitet das Erlebte, die Gräuel der Militärdiktatur in seinem Roman „Batismo de Sangue“, Bluttaufe – auch als Film sehr erfolgreich und 50 Jahre nach dem Putsch wieder in vielen Kinos.

„Niemand wird  so sadistisch gefoltert wie mein Ordensbruder Frei Tito. Im Austausch gegen den entführten Schweizer Botschafter Giovanni Bucher kommt Tito 1970 zusammen mit 69 anderen politischen Gefangenen frei, verliert  jedoch als Folge der Torturen den Verstand, begeht  1984 mit 28 Jahren in einem französischen Kloster Selbstmord.“

Dominikaner Ivo Lesbaupin, Soziologe und Assessor der brasilianischen Bischofskonferenz, ist ebenfalls noch von den Torturen gezeichnet.

“Die Offiziere wendeten die sadistischsten Techniken an – und hatten als Methode, andere Gefangene aus nächster Nähe zusehen zu lassen – sogar bei Ehepaaren, stets beide nackt. Später, in der Zelle, baten die Gefolterten, darunter auch Atheisten, uns Dominikaner  als seelische Stärkung gregorianische Lieder,  fast immer das „Salve Regina“ zu singen.

Sein Mitbruder Fernando de Brito: „Als ich in die Folterkammer geführt werde, habe ich die dort auf dem Boden Liegenden gar nicht erkannt – Lesbaupin und die anderen waren von den Torturen ganz entsetzlich deformiert.“

Historikerin Marina Aquino in Sao Paulo:“Die Folter vergißt keiner, der sie erlebte, die ist stets präsent und weiter destruktiv.“

Brasiliens tonangebende Medien hetzen nach dem Militärputsch permanent gegen katholische Regimegegner, darunter die Dominikaner. Castello Branco, erster Militärdiktator(1964-1967) will den Orden bereits 1965 ganz aus Brasilien vertreiben, läßt es wegen vorhersehbarer internationaler Reaktionen lieber. Stattdessen ein besonders infamer Dreh: Landesweit wird in Zeitungen, Radio, TV verbreitet, just die Dominikaner hätten den meistgesuchten Guerillha-Führer Carlos Marighella dem Repressionsapparat ans Messer geliefert, ihn  und andere Widerständler verraten…

Eine der wichtigsten Autobahnen Brasiliens trägt den Namen jenes Diktators Castello Branco, die mehr als 13 Kilometer lange Brücke über die Bucht von Rio de Janeiro heißt nach dem berüchtigten Diktator Castello Branco, gleich mehrere Fußball-WM-Spiele werden 2014 in einem Stadion der Millionenstadt Belo Horizonte ausgetragen, das nach dem führenden Putschorganisator Magalhaes Pinto benannt ist, verantwortlich für ein Massaker an Arbeitern.

Was ist da los?

Brasiliens katholische Kirche erinnert seit Januar nicht nur in Medien, auf Konferenzen und in öffentlichen Debatten an den Putsch, sondern klärt auf, informiert nach Kräften. Deutschland liegt in der UNO-Statistik für menschliche Entwicklung auf Platz 5 – Brasilien indessen nur auf Platz 85, Hinweis auch auf das sehr niedrige Bildungsniveau im Land. In Deutschland wohl schwerlich vorstellbar –  Millionen von verelendeten brasilianischen Analphabeten kapierten Putsch und Diktatur garnicht. Und heute haben wegen des prekären Schulsystems die meisten jungen Brasilianer kaum Kenntnisse über die Folterdiktatur, verbinden mit Diktatoren-Namen für Autobahnen, Brücken, ungezählte Schulen und sogar ganze Städte, etwa Presidente Figueiredo in Amazonien,  nichts…Daß in Lateinamerikas größter Demokratie immer noch eines der übelsten Regime-Relikte, nämlich die Militärpolizei des Repressionsapparats, für öffentliche Sicherheit sorgt, und nicht die Zivilpolizei wie in Mitteleuropa – auch das ist den meisten Brasilianern garnicht bewußt. „Das organisierte Verbrechen wurde in der Diktatur geboren, die Promiskuität zwischen Polizei und Banditen konsolidierte sich“, sagt Schriftsteller Rubens Paiva, dessen Vater, ein Kongreßabgeordneter, totgefoltert, in Stücke gehackt ins Meer geworfen wurde.

Sehr bedenklich: Heute paralysieren die Banditenkommandos des organisierten Verbrechens das Protestpotential der brasilianischen Slums.

Waldemar Rossi, Leiter der Arbeiterseelsorge in der Erzdiözese Sao Paulo, drittgrößte der Welt, wird ebenfalls damals grauenhaft gefoltert.

“Nach der Militärdiktatur wurde die Politik des gesellschaftlichen Ausschlusses fortgesetzt – was stets mit der Absenkung des Bildungsniveaus beginnt. Heute wird eine halbalphabetisierte Jugend fabriziert, die sich den Interessen des Systems unterwirft.

Aber was machte eigentlich der große Gewerkschaftsführer und spätere zivile Präsident Lula damals?

Siehe da, gemäß einem neuen, gut recherchierten brasilianischen Sachbuch war Lula Informant der Diktatur-Geheimpolizei Dops.

Kenner, Insidern der Regime-Geschichte sagen. „Es gibt keinen Zweifel, daß Lula Informationen geliefert hat – er wollte sich als Mann des Vertrauens der Rechten legitimieren“, lauten Bewertungen. Daß Lula selbst noch als Regierungschef enge Freundschaft zum ehemaligen Dops-Chef Romeu Tuma pflegt, ist allgemein bekannt. 

Weihnachtswünsche aus dem Elend: Überleben, nicht lebendig verbrannt werden, keine Vertreibung aus dem Slum…(2013)

Oben, an der üppig geschmückten Flanier-Avenida Paulista von Lateinamerikas reichster Megacity Sao Paulo zücken Betuchte in Kaufpalästen und Luxusboutiquen ihre Kreditkarten, erfüllen sich nahezu jeden materiellen Wunsch. Mit dem Fahrrad ist man über abschüssige Straßen rasch bei jenen, die nahe der Kloakeflüsse schon froh sind, wenn sie das Weihnachtsfest lebend überstehen. „Gott möge uns vor Feuer bewahren“, sagt Aline Campos in der Favela Heliopolis – eines von über 30 Elendsvierteln, deren eng aneinander geklebteHütten und Katen aus Abfallholz und Pappe 2013 niederbrannten, nur teilweise wieder aufgebaut werden konnten. Auch die Hütte ihrer Schwester zerfiel zu Asche. „Mein größter Wunsch ist, daß ich sie doch noch lebend wiedertreffe, in so vielen Hospitälern habe ich schon nach ihr gefragt.“

Unter der nahen Straßenbrücke nächtigen Dutzende von Obdachlosen, wie fast überall in Sao Paulo, auch direkt an der Kathedrale. Kurz vor Weihnachten sind wieder mehrere von ihnen im Schlaf erschossen worden – „soziale Säuberung“ heißt das zynisch. In der Nordoststadt Caruaru wird einer mit Benzin übergossen, verbrennt  lebendig. In Rio de Janeiro und Belo Horizonte, Spielorten der Fußball-WM, geschah dies ebenfalls.

 

„Der neue Bürgermeister Eduardo Haddad hat auch uns Obdachlosen  Sao Paulos  im Wahlkampf viel versprochen – könnte er uns nicht wenigstens durch seine Polizei vor solchen Sadisten schützen lassen, gerade in der Weihnachtszeit?“, fragt Antonio Soares.

 In der Favela Cachoeirinha zieht der zehnjährige Pedro dos Santos 2012  den künftigen Bürgermeister am Ärmel ins Hüttenlabyrinth, bittet ihn darum, einen schlammigen vermüllten Platz für die Kinder zum Spielen herzurichten. „Das ist der schlechteste, grauenhafteste Ort ganz Sao Paulos“, entfährt Haddad über die Favela. Den Platz kennt man in Deutschland – 2011 feiert dort Adveniat mit den Slumbewohnern einen Gottesdienst, live übertragen vom ZDF. „Wir leben hier ohne Hoffnung in die Politik“, sagt Gemeindepriester Bernardo Daly. „Klar – mein Wunsch wäre, daß sich die Politiker dafür interessieren, wie es dem Volk tatsächlich geht. Doch Bürgermeister Haddad ist vollauf mit Korruptionsskandalen seiner Präfektur beschäftigt – hier bessert sich nichts.“ Größter Wunsch der Slumbewohner, keineswegs nur zu Weihnachten, so Padre Daly, wäre eine sichere, feste Behausung. Denn hier, am stinkenden Abwässerbach, haben sie illegal ihre Katen errichtet, in ständiger Angst, morgen schon, etwa wegen eines Autobahnbaus, von der Präfektur vertrieben zu werden, dann obdachlos auf der Straße zu liegen. „Auch diese Ungewißheit  macht die Leute fertig – wir von der Kirche kämpfen dafür, daß sie Besitztitel bekommen.“ Einigermaßen gesund bleiben – noch so ein Weihnachtswunsch der „Favelados“. Denn bei heftigen Tropengewittern steigt der Abwässerbach rasch über die Ufer, steht die üble Brühe dann in den Hütten, krachen manche zusammen, werden weggespült. „Ratten, Schlangen, Stechfliegen übertragen viele Krankheiten.“

In der nordöstlichen Küstenstadt Fortaleza, mit etwa soviel Einwohnern wie Berlin, beten Arleane und Silvio zu Gott, nicht entdeckt zu werden, Weihnachten sicher zu überstehen. Ihr Bruder Felipe, 17, wird dieses Jahr von 15 Revolverkugeln durchsiebt. Mit 13, 14 ist er noch ein richtig netter Junge, doch Analphabet, fast nie in der Schule, der Staat kommt seiner Kontrollpflicht nicht nach. Felipe wird  von einem Banditenkommando angeworben, macht eine steile Verbrecherkarriere, ist gefürchtet, wird mehrfach von rivalisierenden Gangstersyndikaten verwundet. Nach dem jähen Tod erschießt seine Gang sofort zwei jugendliche Gegner,  Arleane und Silvio flüchten und verstecken sich aus Angst vor üblicher Rache in einem anderen Slum. „Hier werden auch regelmäßig  Jugendliche abgeknallt, die ihre Drogenschulden nicht bezahlten.“

„Wie halten die Menschen das in diesen Slums nur aus“, hört man oft von deutschen Christen, die Brasilien besuchen. Schlecht, bzw. garnicht, möchte man antworten. Ana, 15, hochsensibel und sehr aufgeweckt, sieht in ihrer Favela von Fortaleza mehrere Morde, dreht dieses Jahr regelrecht durch, wird zum Pflegefall, hockt jetzt vor Weihnachten in einem dunklen Verschlag der Kate, von starken Psychopharmaka halb betäubt. „Ana war die Beste in der Klasse, hätte den Absprung aus dem Slum schaffen können“, sagt die kirchliche Sozialarbeiterin Benedita Graziano. „Alle in ihrer Familie sind Voll-oder Halbanalphabeten, verstehen das Mädchen garnicht. Unser sehnlichster Wunsch ist, daß sie wieder gesund wird.“ Gewalt und Verbrechen machen psychisch krank, konstatiert auch die Weltgesundheitsorganisation. Brasilien ist das Land mit den meisten Morden. Über 20 Prozent sind dort laut Expertenstudien körperlich oder geistig behindert, in Ländern wie Deutschland ist es nur etwa ein Prozent.

„Ohne Bürgerrechte keine WM!“(2014)

Brasiliens Protestbewegung „probt“ für die Fußball-Weltmeisterschaft

Zwei Schüsse in die Brust, einen in den Unterleib – für Fabricio Chaves in Sao Paulo endet die neueste landesweite Protestwelle tragisch. Militärpolizisten feuern auf ihn spätnachts – glücklicherweise gibt es viele Zeugen, darunter Juristen. Die Protestbewegung ist entsetzt, Voraussagen bestätigen sich. Seit Monaten, so betonen Organisatoren, zieht die Militärpolizei, Relikt des Militärregimes, alle Register, um die brasilianischen Menschenrechtsaktivisten, darunter aus der katholischen Kirche,  einzuschüchtern. Nicht zufällig haben immer mehr Brasilianer Angst, sich an den Protesten gegen immense Steuermittelverschwendung für die WM zu beteiligen. In der Hauptstadt Brasilia entfallen auf jeden Demonstranten bereits mindestens drei Militärpolizisten, in Rio de Janeiro, Sao Paulo und den anderen mehr als dreißig Protest-Städten ist es nicht anders. Am Marsch in Sao Paulo beteiligt sich der populäre Menschenrechtspriester Julio Lancelotti, Leiter der Obdachlosenseelsorge: „Diese Proteste sind wie ein Aufschrei – eine Fußball-Weltmeisterschaft darf doch nicht wichtiger sein als die Grundbedürfnisse unseres Volkes!“

In Lateinamerikas Kulturhauptstadt Sao Paulo steht das moderne Kunstmuseum MASP auf zwei Betonstelzen – bereits die traditionelle Auftaktkundgebung genau darunter ist von Spezialeinheiten umzingelt. „Milliarden werden für neue Fußballstadien verpulvert – wodurch sich das ohnehin prekäre Bildungs-und Gesundheitswesen, der öffentliche Verkehr, die Kindergärten weiter verschlechtern“, so Marcela Carboni, Schauspielstudentin an der Bundesuniversität von Sao Paulo. „Ohne Proteste ändert sich nichts, deshalb bin ich hier.“ Sehr lautstark, unüberhörbar, mit einem Megaphon, hinter ihr eine Trommlergruppe: „Präsidentin Dilma Rousseff, hör zu – während der WM gibt es Kampf und Zoff!“

Jene mit dem Protestschild:“Fußball-WM – für wen?“ machen ebenfalls ihrem Ärger Luft:“Unsere Regierung bevorzugt Baukonzerne und Großunternehmen, die wichtige Wahlkampffinanzierer sind – doch öffentliche Aufgaben, darunter die Schaffung von Arbeitsplätzen,  geraten ins Hintertreffen. Staatskorruption und Raub von Steuermitteln sind unerträglich.“  Weit  weniger Demonstranten und Bürgerrechtler als noch vor einem halben Jahr Interviews geben – befragte brasilianische Journalisten haben das gleiche Problem:“Die Situation ist gravierend anders – viele Teilnehmer befürchten Repressalien, Entlassung, Schikanen – wollen auf keinen Fall mit Foto und Namen in den Medien erscheinen.“ Schon fällt unter den Demonstranten das böse Wort „Diktatur“ – zumal jedermann auch in Sao Paulo während der neuen Protestwelle pausenlos von Kamerateams der Militärpolizei gefilmt und fotografiert wird. „Ohne Bürgerrechte keine WM“, tönt den Beamten in Sprechchören entgegen. „“Die Regierung macht aus dem Land des Fußballs ein Land der Repression!“

„Ich hause in einem Armenviertel Sao Paulos – kein Gesundheitsposten,  keinerlei Kultureinrichtung – wir fühlen uns dort vom Staat aufgegeben und vergessen“, sagt Piaui, der auch bei jeder kirchlichen Protestkundgebung vor der Kathedrale dabei ist. „Ich stamme aus einem archaischen Nordost-Teilstaat mit Hunger und Elend. Wer dort aufbegehrt, den legen sie um. Deshalb bin ich nach Sao Paulo migriert – hier kann ich mich wenigstens engagieren.“

Ihn freut die ganz neue Protestform „Rolezinho“ der brasilianischen Unterschichts-Jugend: Tausende Dunkelhäutige aus den Slums strömen Handstreich-artig in die Luxus-Shopping Center der fast durchweg hellhäutigen Ober-und Mittelschicht, besetzen für Stunden dort Boutiquen und schicke Freß-Tempel, setzen ein Zeichen gegen Brasiliens soziale Apartheid, die die Bischofskonferenz seit Jahrzehnten anprangert.  In den Shopping Centers kann die Militärpolizei schwerlich mit Tränengasgranaten und Hartgummigeschossen herumballern, wie sonst üblich. Also reicht inzwischen in Rio, Brasilia oder Sao Paulo bereits die Ankündigung eines neuen „Rolezinho“ – und schon macht das betreffende Kaufhaus morgens erst garnicht auf, nimmt den wirtschaftlichen Schaden in Kauf.

Brüderlichkeitskampagne der Bischofskonferenz und Fußball-WM

Fußball-WM, katholische Kirche, empörender Menschenhandel

„Als wir in der Wohnung ankommen, verschließt mein Anwerber hinter mir rasch die Tür, zieht einen Revolver, nimmt mir den Ausweis ab, schlägt und vergewaltigt mich. So beginnt meine Sklavenarbeit als Zwangsprostituierte.“

Keineswegs ein Einzelfall, wie Brasiliens katholische Kirche in ihrer jährlichen Brüderlichkeitskampagne – dieses Jahr dem wachsenden Menschenhandel gewidmet –  bereits Monate vor der Fußball-WM landesweit detailliert in den Gemeinden, doch auch den Medien erläutert. Denn der illegale Kommerz mit Menschen hat wegen des Sportevents Hochkonjunktur: Am sichtbarsten ist die sexuelle Ausbeutung von Frauen und sogar Kindern, gefolgt vom Handel mit illegalen Arbeitskräften im Bereich der WM-Spielorte. Brasilien ist berüchtigt als Land der Sklavenarbeit – ein ganzer Stab von Anwälten und anderen Spezialisten der Bischofskonferenz ermittelt landesweit gegen die heutigen Sklavenhalter, riskiert dabei sein Leben. Wegen der sehr hohen Rate an funktionellen Analphabeten sowie Massenarmut und Elend haben kriminelle Menschenhändler des organisierten  Verbrechens relativ leichtes Spiel: In einem Land von der 24-fachen Größe Deutschlands versprechen gerissene Anwerber vor allem in Amazonien und Nordostbrasilien ihren Opfern  beispielsweise jetzt, vor der WM, eine interessante Arbeit und guten Verdienst in den Spielorten, durchweg Millionenstädte mit Slumperipherien, die von Verbrechersyndikaten beherrscht werden. Gewöhnlich über mehrere tausend Kilometer werden die Angeworbenen nur zu oft aus Dörfern des Hinterlands über spezielle Routen transportiert, bemerken mit Schrecken erst bei der Ankunft in illegalen Bordellen, auf Baustellen und in gut getarnten  Fabriken, daß sie in der Falle sind: Was für Deutsche schwer vorstellbar ist, erläutert Sao Paulos deutschstämmiger Kardinal: Die Opfer können nicht einfach zur nächsten Polizeiwache gehen, um Hilfe bitten und Anzeige stellen – schon der Versuch würde mit Gewalt und sogar Mord bestraft, zudem droht man mit Rache an den Familien der Opfer. Zwangsprostituierte hausen auch an Staudamm-Baustellen wie Belo Monte in regelrechten Privatkerkern.

Ausweise, sonstige Papiere hat man den Angeworbenen abgenommen – Brasiliens organisiertes Verbrechen  hat überall seine Aufpasser und Mitarbeiter, selbst in der Justiz, im Polizeiapparat. Die ausführliche Studie zur diesjährigen Brüderlichkeitskampagne  – Motto:“Christus hat uns befreit, damit wir wirklich frei sind“ – nennt allein für Menschenhandel zwecks sexueller Ausbeutung 241 nationale Routen – 131 davon führen auch ins Ausland, darunter nach Europa, Länder wie Italien.

Eine Brasilianerin schildert den Mitarbeitern der Brüderlichkeitskampagne ihre Rom-Erfahrungen: „Wir mußten uns in einer Reihe hinsetzen, die Freier wählten uns per Guckloch-Blick aus, machten dann auf dem Fußboden heruntergekommener Zimmer mit uns Sex – ich mußte den anderen Brasilianerinnen Drogen injizieren, damit sie diesen Horror aushielten. Mehrere sah ich sterben.“Durch einen glücklichen Umstand gelang ihr die Flucht – in eine nahe katholische Kirche, der Padre organisierte die Rückkehr nach Brasilien.

Brasiliens Caritas-Präsident, Bischof  Flavio Giovenale: Wir sind in einer komplizierten Situation, die uns ängstigt. Als Kirche leisten wir Präventionsarbeit, vermitteln christliche Werte – haben aber nicht die Macht, diese Probleme allein zu lösen – der Staat muss aktiv gegen das Verbrechen vorgehen, was aber nicht geschieht.“

Die diesjährige Brüderlichkeitskampagne macht den Gläubigen daher zahlreiche konkrete Vorschläge für den Kampf gegen den Menschenhandel. „Wir müssen den Armen und Verelendeten, die bevorzugtes Opfer der Anwerber sind, eine Stimme geben – doch auch Anzeige erstatten, Druck auf Staat und Regierung ausüben – darüber alle Schichten der Bevölkerung informieren. „Die Kirche leistet den Opfern Seelsorge und juristischen Beistand,   arbeitet für deren Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Laßt uns sein wie der gute Samariter.“

Brasiliens bischöfliche Gefangenenseelsorge und der Horror in den Haftanstalten(2013)

Folter, Vergewaltigungen, Massaker, Herrschaft von Verbrecherkommandos,  Sklavenhaltermentalität

„Politik und organisiertes Verbrechen sind liiert “

Mehr als 50 Männer bei 45 Grad schwüler Tropenhitze eingepfercht in eine stockdunkle Zelle für höchstens 10 Häftlinge – nur eine  Kloschüssel,  barbarischer Fäkaliengestank, Hautkrankheiten, offene Wunden, Lepra, Tuberkulose.

In anderen Gefängnissen Nordbrasiliens sind die Frauen direkt neben den Männern untergebracht, wegen offener Zellentüren der Gewalt von machistischen Schwerverbrechern ausgeliefert. „Folter durch  Militärpolizisten oder Wärter ist üblich – Verbrennen der Haut, Kopf ins Wasser oder Plastiksack übergestülpt – Erstickungsanfälle bis zur Ohnmacht.“

Soll das alles wahr sein, was der katholische Padre Valdir Joao Silveira von jüngsten Seelsorgebesuchen berichtet? Das Bizarre – sogar hohe Regierungspolitiker geben ihm Recht. Wegen seines Kampfes gegen die Folter zeichnet ihn 2010 der damalige Staatschef Lula mit dem nationalen Menschenrechtspreis aus – doch heute sitzen  zahlreiche enge prominente Freunde Lulas wegen aktiver Korruption und Bandenbildung im Gefängnis. Sie genießen Vorzugsbehandlung, viele Privilegien – was Padre Silveira wie die allermeisten Brasilianer empört, die die Kerkerrealität kennen.

 „Ich würde lieber sterben, als in solchen mittelalterlichen Strafanstalten eingesperrt zu sein“, gesteht 2012 sogar Justizminister José Cardozo ein. „Unsere Gefängnisse sind wahre Schulen des Verbrechens, unmenschlich, ermöglichen keine Reintegration, stärken die Gangstersyndikate. Wer im Knast überleben will, muß sich ihnen anschließen.“

Der Justizminister bestätigt damit die jahrzehntelange detaillierte Kritik der bischöflichen katholischen Gefangenenseelsorge sowie zahlreicher brasilianischer Menschenrechtsexperten.  Nur – den Worten des Ministers folgen keine Taten –  jährlich  kommen Zehntausenden in diesen Kerkern um, durch Mord, Seuchen, Krankheiten.

 Unermüdlich sind daher Padre Silveira und seine Stellvertreterin, die Deutsche Petra Pfaller, fast das ganze Jahr in dem Riesenland unterwegs, besuchen mit den lokalen Pastoralgruppen eine Haftanstalt nach der anderen. „Wir ermitteln, sammeln Beweise – und gehen dann direkt zu den politisch Verantwortlichen, stellen Anzeige, fordern Sofortmaßnahmen – von lokalen Behörden bis hinauf zum Innen-und Justizministerium, dem  Palast von Staatspräsidentin Dilma Rousseff – natürlich schalten wir auch Amnesty International ein.“ Diese Zähigkeit führt zum Erfolg, leider nicht immer. „Im Teilstaat Amazonas mußten jetzt 20 Prozent aller Gefangenen entlassen werden – die waren alle illegal eingesperrt! Doch in anderen Teilstaaten sind 60 Prozent der Häftlinge garnicht abgeurteilt – warten viele bis zu vier Jahre auf einen Prozeß – wo man nur zu oft deren Unschuld feststellt. Unvorstellbare menschliche Dramen – Menschen vertieren und verfaulen da drinnen regelrecht!“

Gegessen wird mit der Hand, ohne Bestecke – Wäschewechsel etwa einmal im Monat.

 „Eine normale Person hält das nicht aus – also setzt man die Häftlinge unter harte Drogen.“ Ebenfalls kaum zu fassen: De facto dienen Brasiliens Gefängnisse heute dem Rauschgifthandel, werden vom organisierten Verbrechen administriert, das von Häftlingsangehörigen Gelder erpreßt –  alles geduldet vom Staat, „der sich den Gangsterorganisationen landesweit unterwirft.“ Haarsträubend, daß immer mehr Gefängnisse privatisiert werden. In „normalen“ Anstalten kostet ein Häftling den Steuerzahler monatlich umgerechnet rund 430 Euro, in privatisierten bekommen die Investoren dagegen über 1300 pro Kopf. „Ein phantastisches Geschäft“, so Padre Silveira. „Je voller die Gefängnisse, umso höher der Gewinn.“  Allein im Teilstaat Sao Paulo steigt die Gefangenenzahl monatlich(!) um mehr als 4000.

Nicht resozialisierte, animalisierte Häftlinge werden nach der Freilassung meist sofort rückfällig, viele sterben bei Schießereien mit der Polizei.  „Die jetzige Gefängnispolitik erhöht Gewalt und Kriminalität in Brasilien – viele Verbrechen werden in der Haft geplant!“

Wie erträgt der Seelsorger diese seelische Belastung? „Unmöglich, das alles zu verkraften – manchmal fühle ich mich selber psychisch gestört.“ Zumal sein Lebensrisiko wächst. „Ich erfahre tagtäglich, was ich nicht wissen soll – Angst habe ich daher vor der Polizei.“

In Brasilien beseitigt man Unbequeme auch durch vorgetäuschte Verkehrsunglücke, Raubüberfälle. „Daher gehe ich stets in Gruppen, übernachte im Haus des Bischofs.“

 Woher nehmen er, seine Pastoral-Mitstreiter die Energie? „Der christliche Glaube verändert, gibt Hoffnung – darauf bauen wir.“

 

 

 Sao Paulos deutschstämmiger Kardinal Odilo Scherer 2013 in einer Predigt: „Strukturelle Gewalt organisiert sich immer mehr als eine Parallelmacht – die innerhalb des Staates existiert und die Gesellschaft unterdrückt.“

Brasiliens verfolgte Christen(2013)

Täglich Morde an Gläubigen, die Parallelmacht der Slum-Banditenkommandos nicht hinnehmen/organisiertes Verbrechen mit Politik liiert

Rio de Janeiro wird derzeit von sadistischen Verbrechen erschüttert, mit denen landesweit operierende Verbrecherorganisationen ihre Macht demonstrieren, vor der Fußball-WM besonders den Einschüchterungsdruck auf Millionen von Slumbewohnern verstärken. Das Protestpotential der Armen und Verelendeten wird auf diese Weise erstickt und paralysiert, erläutert Priester Marcelino Modelski. „Wer wie wir von der Kirche diese üblen Machenschaften bekämpft, sich dem neofeudalen Normendiktat der hochbewaffneten Parallelmacht entgegenstellt, wird verfolgt, liquidiert – zahlreiche Padres und Laien wurden bereits umgebracht.“  Brasilien ist das Land mit den meisten Morden – weit über 50000 jährlich.

Als Bundespräsident Joachim Gauck am 15. Mai in Rio de Janeiro weilt, foltert ein Banditen-Sondergericht in einem Slum einen jungen Mann an diesem Tag, will ihn töten – eine zufällig passierende Polizeistreife kann es verhindern. Joao Rodrigo Silva, 35, Fußballspieler sogar in einem Team Schwedens,  wird Ende Oktober das Opfer des Banditenterrors: Weil seine Frau eine Polizeibeamtin in einer Slum-Befriedungseinheit ist, verstümmeln sie ihn, hacken dann den Kopf ab, legen diesen vor die Tür seines Hauses – wo ihn dessen Frau findet. Eine wohlkalkulierte Abschreckungsaktion – wer auf irgendeine Weise Kontakt zu Polizisten hat, gar Anzeige erstattet, soll wissen, was ihm blüht. Ganz in der Nähe werden kurz zuvor fünf Männer und zwei Frauen bei einem Blutbad mit Mpi erschossen.  

Mißliebige werden sogar auf Scheiterhaufen aus Autoreifen lebendig verbrannt – Fotos der Überreste bringen Rios Lokalmedien auch 2013. „Paramilitärische Milizen und Banditenkommandos haben in den Armenvierteln eine Kultur der Angst und Unterwerfung geschaffen – ich selbst wurde dort bedroht. Wenn wir Priester das mörderische Drogengeschäft verurteilen, ist das sehr riskant“, so Padre Modelski, der inzwischen in einer Slumregion von Sao Paulo wirkt, dort die gleichen Probleme hat. „Selbst mir als Geistlichem geben die Menschen oft nicht einmal eine simple Auskunft – so groß ist die Angst! Für die Seelsorge-und Sozialarbeit der Kirche eine fürchterliche Lage – schwerlich kann man Arme und Verelendete zu kollektiven Aktionen mobilisieren.“ Gottesdienste und kirchliche Gruppenarbeit am Abend sind in brasilianischen Favelas nur zu oft unmöglich – wegen der vom organisierten Verbrechen verhängten Ausgangssperre traut sich niemand aus der Kate, wirken riesige Slumzonen auch in der Megacity Sao Paulo daher menschenleer. Und wegen der Feuergefechte zwischen rivalisierenden Banditenkommandos fällt derzeit für Tausende von Schülern Rio de Janeiros der Unterricht aus.

Die Liste ermordeter Geistlicher, katholischer Menschenrechtsaktivisten ist lang: In Sao Paulo erschießen Drogenbanditen mehrere Priester, weil deren Seelsorge stört, „geschäftsschädigend“ ist. In Rio wird ein Padre umgebracht, der die Angehörigen von 29 Massaker-Opfern betreut, in der Küstenmetropole Recife trifft es einen spanischen Straßenkinder-Priester. Auch Bischöfe sind im Visier bezahlter Killer und Todesschwadronen – Erwin Kräutler in der Amazonas-Diözese Altamira muß seit Jahren rund um die Uhr von mehreren Polizeibeamten bewacht werden.

Derzeit gibt es landesweit fast täglich Straßenproteste gegen die Regierenden, die hohen Kosten der Fußball-WM – doch siehe da, nur relativ wenige Bewohner der riesigen Slumregionen beteiligen sich. „Das ist den Autoritäten sehr recht“, so José Murilo de Carvalho, renommierter Historiker in  Rio, „diese bedrückende Lage wirkt  systemstabilisierend. In den Slums blockiert das organisierten Verbrechens die Politisierung der Bewohner, hält sie ruhig, verhindert eine Rebellion, Proteste jeder Art.“

Priester Juarez de Castro:“Die Regierung sorgt nicht für die Einhaltung der Gesetze. Deshalb haben wir diese Banditendiktatur, regelrechte Parallelstaaten. Besonders in Nordbrasilien stehen viele Bischöfe und Priester auf einer Todesliste, weil sie die Armen und ihre Rechte verteidigen.“

Evangelikale Wunderheilersekten haben diese Probleme nicht. 2010 nimmt die Polizei drei Sektenpastoren fest – in ihrem Wagen hatten sie sieben hochmoderne nordamerikanische MGs, geschmuggelt aus Bolivien für Banditenkommandos in Rio.

Brasilianer gespannt auf Papst Franziskus – mitten in der Protestwelle(2013)

 „Christen müssen revolutionär sein“ – dieser jüngste Ausspruch von Papst Franziskus verbreitete sich im größten katholischen Land wie ein Lauffeuer, erreichte Sozialpastoralen und Demonstranten. Nicht verwunderlich –

an den jüngsten Protestaktionen beteiligen sich größtenteils wache Katholiken – die politischen Forderungen sind aus den landesweiten, befreiungstheologisch geprägten Protestaktionen der Kirche seit Jahren bestens bekannt. In der Megacity Sao Paulo, mit der drittgrößten Diözese des Erdballs, wehen die Fahnen des Weltjugendtreffens – „Die Stimme des Volkes ist die Stimme Gottes“, steht auf Protestplakaten und Spruchbändern.

 

Mancher in Deutschland vernimmt  aus den Medien zum erstenmal kurz vor dem Confederations Cup etwas von den Unruhen in Brasilien. Dabei brodelt es seit langem. „Wir müssen uns organisieren, überall – gegen das Fehlen von öffentlichen Transportmitteln, von Schulen, Kindergärten, Krankenhäusern, gegen die Korruption, die Polizeigewalt“, rufen die Bischöfe Angelico Sandalo Bernardino und Milton Kenan Junior in der von Slums übersäten Stadtregion Brasilandia auf einer Protestkundgebung den Massen zu. „Ein Großteil der Gelder dient nicht sozialen Zwecken, sondern fließt in die Vorbereitung der Fußball-Weltmeisterschaft, der Olympischen Sommerspiele. Der Aufschrei des Volkes wird den Gouverneur, die Abgeordneten, die hohen Politiker aufwecken – damit sie sich endlich dem Volke zuwenden, und deren Alltagsproblemen.“ Und dann stimmt Bischof Bernardino einen auch aus anderen Ländern Lateinamerikas sehr bekannten Sprechchor an: „Das vereinte Volk ist unbesiegbar!“

Das war nicht  in diesen Tagen – sondern vor über einem Dreivierteljahr. Journalisten großer in-und ausländischer Leitmedien suchte man vergebens – Kamerateams bekannter TV-Anstalten ließen sich ebenfalls nicht blicken.  Nichts Neues: Die landesweiten Protestaktionen der katholischen Kirche, darunter ungezählte Arbeitergottesdienste in den Kathedralen, der „Aufschrei der Ausgeschlossenen“ am Nationalfeiertag,  die Wochen des Protestes gegen grauenhafte Zustände im Sozialbereich, finden seit rund zehn Jahren fast durchweg unter Ausschluß der Medien-Öffentlichkeit statt. In den letzten Monaten dann in Sao Paulo fast jeden Tag regierungskritische Manifestationen –  häufig werden Gebete gesprochen.

Mancher erinnert sich jetzt an die alljährlichen landesweiten Brüderlichkeitskampagnen der Bischofskonferenz. Die von 2012 ist just dem prekären Gesundheitswesen Brasiliens gewidmet, deren konkrete Forderungen findet man derzeit auf dem Meer von Plakaten der Demonstranten wieder. Das Thema von 2011 – Umweltzerstörung, schlechte Lebensbedingungen, darunter der grauenhaft unterentwickelten öffentlichen Nahverkehr.  Der Kampf gegen die starke Staats-und Regierungskorruption ist stets Hauptthema, seit dem Amtsantritt von Präsident Lula 2003.

Waldemar Rossi, Führer der Arbeiterseelsorge in der Erzdiözese Sao Paulo, organisiert seit der Diktaturzeit regelmäßig Demonstrationen, Protestaktionen – holt Sozialbewegungen wie die Landlosenbewegung MST, oppositionelle Parteien, Menschenrechtsorganisationen mit ins Boot. Waldemar Rossi kann nur lachen über Regierungs-und Medienanalysen, wonach die Manifestationen wie aus dem Nichts entstanden, eigenartigerweise keine klar erkennbaren Vordenker und Führer,  keine deutlichen Organisationsstrukturen haben.

„Für die Medien ist das alles eigenartig – für mich, für uns von der Kirche überhaupt nicht. Ohne Führung, ohne ein Netz von Organisatoren wäre das alles nicht losgegangen. Wir haben seit langem gemerkt, wie es im Volke brodelte.“

Selbstkritik derzeit in Brasiliens Leitmedien: “Der größte Fehler der Journalisten und der Meinungsumfragen war, die zunehmende Unzufriedenheit nicht bemerkt zu haben“, so die Qualitätszeitung O Globo. 

In Rio de Janeiro ist Priester Luis Antonio Lopes Leiter der bischöflichen Slum-Seelsorge – und organisiert seit Jahren  Protestdemonstrationen, steht an deren Spitze, wirkt in den Sozialbewegungen:

“Wie kann man denn eine Fußball-Weltmeisterschaft, Olympische Sommerspiele in einem Land veranstalten, das solche enormen sozialen Kontraste aufweist?“

 

 

Katholiken massiv bei Straßenprotesten

„Machtarroganz der Regierenden unerträglich“/ staatliche Einschüchterungsstrategien

Tief über den Köpfen der Gläubigen vor Sao Paulos Kathedrale hat die Militärpolizei einen Beobachtungshubschrauber postiert – wer da auf der Kundgebung nach dem von Kardinal Odilo Scherer zelebrierten Protestgottesdienst vom Lautsprecherwagen aus Forderungen erhebt, welche Führer der katholischen Sozialpastoralen, Menschenrechtsorganisationen, Oppositionsgruppen mit Demonstranten, gar Journalisten sprechen – alles wird registriert, offenbar fotografiert und  gefilmt, mitgeschnitten. Der Lärm des Helikopters ist barbarisch, weitere kreisen über der City, unten stehen zudem reichlich Militärpolizisten – es bedarf einiger Zivilcourage, auf dermaßen „begleiteten“ katholischen Protestaktionen auszuharren. Die staatlichen Einschüchterungsstrategien wirken – seit dem 13. Juni, als  Massenproteste ausbrachen, wagen sich landesweit deutlich weniger Unzufriedene auf die Straßen. Keine einfache Situation für katholische Bischöfe, Padres und engagierte Laien, deren klare Worte gerade jetzt den verunsicherten Gläubigen besonders willkommen, wichtig  sind. „Es gibt in Brasilien noch soviel Armut und Elend, gesellschaftlichen Ausschluß, soziale Ungerechtigkeit, Korruption“, betont Kardinal Scherer. „Strukturelle Gewalt organisiert sich immer mehr als eine Parallelmacht – die innerhalb des Staates existiert und die Gesellschaft unterdrückt.“

Solche kirchlichen Analysen lassen aufhorchen –  die katholische Jugendpastoral, noch begeistert vom Weltjugendtreffen mit Papst Franziskus in Rio de Janeiro, verkündet ebenfalls überall dort, wo junge Brasilianer protestieren,  eine klare Botschaft. „“Wir kämpfen gegen dieses System, wollen eine freie Gesellschaft, des Respekts und der Menschenwürde“, ruft Stefania Carvalho, Sprecherin der Jugendpastoral in der Erzdiözese Sao Paulo, den Demonstranten zu. Wer die Proteste aus der Nähe beobachtet, mit Führern der Manifestationen spricht, macht interessante Erfahrungen: Denn laut tonangebenden brasilianischen Massenmedien, aber auch staatlichen Stellen, haben inzwischen anarchistische, faschistoide, gewalttätige Gruppierungen, darunter der sogenannte schwarze Block, „Black Bloc“, das Zepter in der Hand, kontrollieren die Demonstrationen, halten friedliche Protestierer  massiv davon ab, in so großer Zahl wie noch unlängst im Juni auf die Straßen zu gehen.

Dies entspricht indessen nicht den Tatsachen: Seit nunmehr 19 Jahren sind die landesweiten Protestzüge des von der katholischen Kirche alljährlich zum September-Nationalfeiertag organisierten „Aufschreis der Ausgeschlossenen“ absolut friedlich und gewaltfrei, Mitglieder des „Black Bloc“ beispielsweise lassen sich dort nicht sehen. Zentrale Massendemonstrationen sind selten geworden – doch vergeht indessen kein Tag, an dem nicht junge Katholiken zu Hunderten, gar Tausenden  überall in den Großstädten  jeweils an vielen Stellen, ihre Forderungen verkünden.

 „Es gibt etwas Neues, die junge Generation Brasiliens ändert ihre Haltung“, sagt Waldemar Rossi, Führer der bischöflichen Arbeiterseelsorge Sao Paulos. „Wir von der Kirche haben diese Jugend seit vielen Jahren auf die gravierenden Probleme hingewiesen – jetzt rebelliert sie überraschend heftig, greift unsere Forderungen auf, stellt sich gegen die Machtarroganz der Regierenden, die das Volk unterdrücken wollen.“

Menschenrechtsaktivist Chico Whitaker, der das Weltsozialforum mitgründete, zur  “Brasilianischen Kommission für Gerechtigkeit und Frieden” der Bischofskonferenz CNBB zählt, freut sich ebenfalls, daß bei den Straßenprotesten nunmehr jahrzehntelange Forderungen der Kirche übernommen  werden. „Das Bildungs-und Gesundheitswesen funktioniert nicht, soziale Ungleichheit und Einkommenskonzentration sind weiter gravierend“, erläutert er in Sao Paulos Kathedrale. Er warnt vor Fehleinschätzungen:“Die meisten Brasilianer haben noch nicht die Courage, auf die Straße zu gehen – der größte Teil kämpft ja ums tägliche Überleben! Das kann sich in Deutschland schwerlich jemand vorstellen.“´

 

Rio de Janeiro

Slum-Seelsorge gegen die Barbarei(2012)

Glaubte man der weltweit verbreiteten Auslandspropaganda, freut sich ganz Brasilien, und vor allem Rio de Janeiro wie wild auf die beiden Sport-Megaevents, ziehen Bevölkerung und Autoritäten an einem Strang bei der sorgfältigen Vorbereitung, will man ein guter Gastgeber sein. Doch nun hat ein weiteres Blutbad, bei dem mindestens acht junge Menschen ermordet wurden, den Propagandavorhang jäh zerrissen, jüngste Analysen der katholischen Kirche über gravierende Menschenrechtsverletzungen in den über eintausend Elends-und Armenvierteln bestätigt. Gemeindepfarrer Monsenhor Luis Antonio Lopes, in dessen Seelsorgebereich das Massaker geschah, ist entsetzt: „Die Herrschaft des organisierten Verbrechens über die Slums bedeutet, daß die Bewohner wie in einem System der Sklaverei, der Versklavung gefangen sind. Daß der Staat diese Menschen allein läßt, kostet soviele Menschenleben.“

Aber ist nicht immer von befriedeten Favelas, einer eigens gegründeten Befriedungspolizei die Rede? „Das organisierte Verbrechen herrscht ungehindert dort, wo es keine sogenannten Befriedungseinheiten gibt, also in den allermeisten Favelas“, ergänzt Padre Lopes. „Und selbst in einigen Slums, wo der Staat angesichts der herannahenden Sportevents solche Befriedungseinheiten stationierte, geschehen weiter Morde.“

Das jüngste Blutbad verübt ein Banditenkommando als Machtdemonstration, zur Einschüchterung der Slumbewohner – die  Leichen mit grauenhaften Folterspuren werden an der Stadtautobahn abgeworfen. Nur deshalb erfahren die Medien von der Untat – von den meisten Massakern hört die Öffentlichkeit außerhalb der Slums nichts. Denn in die Parallelstaaten der Slums, wie es Soziologen nennen, wagt sich kaum jemand hinein, der dort nicht gezwungenermaßen hausen muß. Nach dem Blutbad stellen Armee und Polizei einen ganzen Konvoi aus Schützenpanzern zusammen, um in die Favela des hochgerüsteten Banditenkommandos vordringen zu können. Das spricht Bände über die Zustände, die Machtverhältnisse in der WM-Stadt. Natürlich hatten sich die Gangster längst in Guerrilha-Taktik zurückgezogen.

Padre Luis Antonio Lopes ist gleichzeitig Leiter der Slum-Seelsorge in der Erzdiözese von Rio de Janeiro – die Banditenherrschaft erschwert kirchliche Arbeit auf nur zu oft bizarre Weise. Denn Sozialprojekte, darunter Kindergärten und Schulen, können in den Favelas nur funktionieren, wenn die Banditenkommandos ihr Okay geben. „Bewaffnete Gangster halten in einem geraubten Auto neben mir und wollen, daß ich jeden einzelnen von ihnen mit Handschlag grüße“, sagt ein Priester der Slum-Pastoral. „Was bleibt mir dann übrig?  Sorge ich nicht für ein problemfreies Verhältnis zu den Machthabern, riskiere ich mein eigenes Leben, wird jegliche Hilfe für die Slumbewohner unmöglich.“ In der schlichten Kirche zelebriert er Messen, lädt abends zu Bibelkursen, bringt erwachsenen Analphabeten Lesen und Schreiben bei, verteilt Lebensmittel-und Kleiderspenden, spielt hinter der Kirche sogar mit Jugendlichen Fußball – Teil von Freizeitaktivitäten, die Mädchen und Jungen von den Drogenbanditen fernhalten sollen. Durch Druck auf die Präfektur wurde erreicht, daß in der Slumregion nun sogar ein Gesundheitsposten existiert.

Der Padre reflektiert über die schwierige Frage, ob er die Banditen rechtzeitig über die Route der nächsten Prozession unterrichten soll – damit diese alle gesperrten Straßen wissen – und im Falle einer höllisch rasanten Fahrt mit geraubten Autos oder Entführungsopfern auf andere Wege ausweichen…

Als ein Sektenanhänger die Teilnehmer einer Prozession mit obszönen Kraftausdrücken beschimpft, hält ein Jungbandit von nur 13 Jahren dem Krakeeler den Revolver an den Kopf. „Noch ein Wort – und ich drücke ab. Diese Religion wird respektiert!“

Ein mehrstündiger Gang durch Slums an der Seite des Padres führt zu den Brennpunkten der barbarischen, bedrückenden Situation. Zu den Verhaltensregeln zählt: Nicht fotografieren, keine Mikrophonaufnahmen, weil sonst sofortige Ermordung drohte. So tun, als ob man die überall lauernden bewaffneten Banditen, die offenen Verkaufspunkte für harte Billigdrogen wie Crack und Kokain garnicht bemerkt und fast durchweg ein angeregtes Gespräch mit dem Priester über Religiöses führt. Elendskaten, zerlumpte, verwahrloste Kinder, Müll und Gestank, Unmengen von geraubten und zu Schrott gefahrenen Autos, sadistischer Gangsta-Rap in Hardrock-Lautstärke rund um die Uhr, der mit ganzer Wucht auch in die Kirche dringt.

„Ich bin Terrorist, ich bin ein Taliban“, heißt es in den Texten, sind beinahe in jedem Titel MG-Salven, Bomben-und Granaten-Explosionen zu hören. „Unsere Terrororganisation ist der Staatsfeind Nummer Eins.“

„Im Morgengrauen rücken wir aus, dann singt das MG/ Messer an die Kehle, Schuß ins Genick, Terror und Aktion, mancher Gegner wird geköpft.“

 Eine Mitarbeiterin des Priesters berichtet über viele willkürliche Morde und Folterungen, teils direkt vor ihrer Katentür. „Wer sich hier weigert, Raubgut oder Drogen zu transportieren, wird sofort erschossen – wer des Kontakts mit der Polizei verdächtigt wird, ebenfalls. Doch innerhalb weniger Monate sind auch die Killer tot – kommen beispielsweise bei Schießereien zwischen rivalisierenden Banditenkommandos oder mit der Polizei um. Und schon werden andere die neuen Slum-Herrscher.“

Padre Lopes von der Slum-Seelsorge ist beim Gespräch sichtlich verstört, erregt – denn nur einige Stunden zuvor hatten Banditen bei einer Raubattacke auf das Gemeindezentrum und die Kirche zahlreiche wertvolle Gegenstände, darunter elektronische Geräte, erbeutet.

Für Lopes handelt es sich  bei jenen jungen Gangstern um Brasilianer, denen Staat und Gesellschaft keinerlei Chance gaben, sich zu bilden und zu entwickeln. Laut neuesten Studien ist beispielsweise der Handel mit harten Billig-Drogen wie Crack und Kokain landesweit der einfachste Weg für junge Menschen, um an Geld für schicke Markenklamotten und andere attraktive Dinge zu kommen. Sage und schreibe mindestens 5,3 Millionen Brasilianer zwischen 18 und 25 Jahren studieren nicht, arbeiten nicht – und suchen auch keinerlei Arbeit, heißt es.

“Wir haben jetzt bei der UNO und bei Amnesty International Anzeige erstattet, weil wegen der Fußball-WM gleich drei Stadtautobahnen mitten durch Favelas gezogen werden, Zehntausende von Slumbewohnern ihre Behausung verlieren, vertrieben werden.“

Der Staat bietet ihnen an, in Billigblocks zu ziehen,  50 Kilometer entfernt, in einer Region ohne Schule, Hospital, öffentliche Verkehrsmittel.

Seit jeher zählte zu den wichtigsten Aufgaben der Favela-Pastoral, die Zerstörung von Armenvierteln zu verhindern. Jetzt, vor den Sport-Events, gilt das noch mehr. „Zwei Tage vor Weihnachten machten Planierraupen der Präfektur eine ganze Hüttensiedlung nieder – die Leute mußten im Freien kampieren!“

Das jüngste Blutbad zeigt, wie es um die Sicherheit der Rio-Bewohner steht. Die katholische Kirche Rio de Janeiros hat deshalb mit Kundgebungen und Demonstrationen der Opfer gedacht, zum Frieden aufgerufen.

Padre Lopes macht deshalb folgende Rechnung auf: “Alle mehr als eintausend Favelas von Rio de Janeiro haben gravierende Gewaltprobleme – der Staat müßte dort etwa 200000 Sicherheitsbeamte stationieren – tut es aber nicht. Wie die Investitionen für Fußball-WM und Olympische Sommerspiele in Rio zeigen, sind Mittel durchaus vorhanden – aber eben nicht für soziale Zwecke, nicht für menschenwürdige Behausungen. Wie kann man angesichts so vieler drängender Probleme soviel Geld für Sportevents ausgeben, die nur ganz kurze Zeit dauern!“

Er weist auf die friedensstiftende Bedeutung des einwöchigen Weltjugendtreffens von 2013 mit dem Papst. „WM und Olympische Spiele sind kommerzielle Ereignisse, wird es für die Besucher teuer, braucht man Eintrittskarten für die Stadien. Beim Jugendtreffen indessen sind Unterbringung und Verpflegung gratis, werden sich bei den vielen Gottesdiensten und Veranstaltungen unter freiem Himmel alleine am Strand der Copacabana rund drei Millionen Menschen versammeln können.

Brasiliens Menschenrechtsministerin Maria do Rosario räumte wegen des neuesten Blutbads von Rio ein, daß bei den Heranwachsenden des Landes Gewalt die Haupt-Todesursache sei. Die katholische Kirche hatte deshalb bereits vor Jahren eine „Kampagne gegen Gewalt und gegen die Ausrottung von Jugendlichen“ gestartet. Priester Geraldo Nascimento zählt zu den Wortführern, den Organisatoren.

“Wir wollen, daß die ganze Welt sieht, was hier vor sich geht. Der brasilianische Polizeiapparat dient nicht dem Verteidigen der Bevölkerung – alle Arten von Verbrechen existieren weiter, weil die Polizei verwickelt ist.“

 

 

 

Öl-Supermacht Brasilien – gigantische Vorkommen?(2013)

Skepsis und Kritik aus katholischer Kirche zu Förderrechte-Vergabe

„Verrat an nationalen Interessen – fehlende Transparenz“

Protestbewegung empört

Brasiliens Regierung feiert den Start der Ausbeutung riesiger Tiefsee-Ölvorkommen –  durch die Einnahmen steige der Wohlstand aller, mache das Land einen gewaltigen Entwicklungssprung, habe dann Mittel genug für Bildung und Gesundheit.  Doch seltsam – kaum einer im tropischen Riesenland mag mitfeiern, stattdessen hagelt es Proteste. Als in einem Luxus-Strandhotel von Rio de Janeiro die Förderrechte für die sogenannte Libra-Region vergeben werden, prügeln  Armee-Einheiten direkt davor auf Demonstranten, feuern auf sie  stundenlang mit  Tränengasgranaten und Hartgummischrot

In den Tagen zuvor treten Brasiliens Ölarbeiter gegen die Förderrechte-Versteigerung in den Streik, legen Raffinerien und Ölplattformen lahm – ungezählte Brasilianer  sind verwirrt, nachdenklich. Müßten sich nicht die Ölarbeiter am meisten über neue Milliardeninvestitionen, einen neuen Förderboom freuen? Die nationale Protestbewegung, seit Juni erstmals massiv auf den Straßen, solidarisiert sich mit den Streikenden.

 „Brasilien begibt sich in ein Abenteuer, geht hohe Risiken ein, die Regierung sorgt nicht für Transparenz,“, kritisiert Bischof Luiz Demetrio Valentini, langjähriger Präsident der brasilianischen Caritas und der  Sozialpastoralen. „Aus Wahlkampfgründen beschließt die Regierung von Staatschefin Dilma Rousseff  völlig überhastet dieses Ölförderprojekt – denn nächstes Jahr sind Präsidentschaftswahlen!“ Und dann nennt Bischof Valentini Fakten und Hintergründe: Das hochverschuldete Brasilien, zumindest offiziell siebtgrößte Wirtschaftsmacht der Erde, ist interessanterweise weder finanziell noch technologisch in der Lage, durch den staatlich kontrollierten Ölkonzern PETROBRAS das schwarze Gold vom Meeresgrund heben zu lassen, hat daher bereits seit 1997 ungezählte Konzessionen an ausländische Ölmultis vergeben.

 Jetzt geht es erstmals um Vorkommen, die etwa 180 Kilometer vor Rio de Janeiro in einer Tiefe von etwa 7000 Metern liegen sollen, verborgen unter einer rund zwei Kilometer dicken Salzschicht. Das ist der Knackpunkt. Denn die nötige Bohrtechnik existiert noch garnicht – und ob es dort Riesen-Ölvorkommen gibt, steht garnicht fest.

 „Wieso fehlten bei der Förderrechte-Versteigerung die größten internationalen Ölkonzerne, trat nur ein einziges Konsortium an, ohne jegliche Konkurrenten“, fragt Bischof Valentini. Gründe sind bekannt: Immer wieder bohren US-Konzerne in Küstennähe durch Salzschichten – erfolglos.  – allein Exxon vergeudet  etwa 400 Millionen Dollar(!), gibt schließlich auf. Für teures Geld hatte Exxon Förderrechte für eine Region erworben, in der, zumindest offiziell, Öl nur so sprudeln sollte.

 Zum neuen Förder-Konsortium für die Libra-Region gehören die französische Total und die britisch-niederländische Shell mit jeweils 20%, die beiden staatlichen chinesischen Ölunternehmen CNPC und CNOOC mit je 10 % – während auf PETROBRAS immerhin 40 % entfallen. Der brasilianische Partner gilt als großer Unsicherheitsfaktor, weil er  u.a. mit Schulden von mindestens 58,6 Milliarden Euro kämpft, wenig finanziellen Spielraum hat. „Tatsächliche Größenordnungen, Kosten und Regierungseinnahmen wird man erst später wissen – wenn es zu spät ist“, so Valentini.

Was sehr stutzig macht: Öl kann frühestens in fünf bis zehn Jahren  gefördert werden – bis dahin wird nur herumgebohrt, gesucht.

Nicht nur die Umweltexperten der Kirche sehen erhöhte Ölpest-Risiken – in solcher Tiefe, bei brüchig-porösen Salzschichten, einen Ölaustritt zu stoppen, gilt als extrem schwierig – bis unmöglich. „Auch wegen der vorhersehbaren Naturzerstörung ist dieses Projekt absolut unverantwortlich“, so Waldemar Rossi, Leiter der Arbeiterseelsorge in der Erzdiözese Sao Paulo. Verölte, zum Baden völlig ungeeignete Strände und Buchten hat Brasilien schon genug – 20 bis 30 Ölunfälle werden pro Jahr amtlich registriert – unter „unkomplizierten“ Förderbedingungen.

 „Das alles ist Verrat an nationalen Interessen –  die bischöflichen Sozialpastoralen sind mit der Politik von Präsidentin Rousseff sehr unzufrieden.“ Ebenso wie die Ölarbeiter sieht Rossi eine zunehmende Privatisierung der strategischen Petroleumreserven, noch mehr Kontrolle der brasilianischen Wirtschaft durch ausländische Multis.

Aber hatte nicht Lula 2006 verkündet, die Selbstversorgung sei erreicht? Schön wärs. Brasilien fördert nur schweres Öl – zur Treibstoffproduktion muß es mit leichten Ölen vermischt werden. Das Land ist daher Großimporteur von Leichtöl – und Benzin.

Wenig bekannt in Deutschland, wo man über Mautgebühren streitet: Brasilien  hat das weltweit größte Netz an Straßen, für die an Privat-Konzessionäre  Maut entrichtet werden muß – immerhin fast 23000 Kilometer.

 

 

Weihnachten in Angst – Banditenterror in Brasilien-Slums unterdrückt Freude über Christi Geburt

„Die Slum-Bewohner werden vom Staat im Stich gelassen.“ Bischof Milton Kenan Junior

Kirchliche Friedensdemonstration in Sao Paulo gegen Attentats-und Mordwelle in Brasilien

Nicht wenigen deutschen Christen ist es ein Herzensbedürfnis, gerade in der Weihnachtszeit solidarisch all jener zu gedenken, die in den Konfliktzonen dieser Erde Christi Geburt weder hoffnungsvoll-fröhlich noch entspannt feiern können. Millionen von Menschen in den Elends-und Armenvierteln von Brasilien, dem größten katholischen Land, gehören dazu. „Die schwerbewaffneten Banditenkommandos des organisierten Verbrechens verhängen Ausgangssperren, verüben immer wieder Blutbäder – hier wirken starke, finstere Kräfte gegen die christlichen Werte“, sagt Priester Edson Jorge Feltrin von der Gemeinde des Heiligen Franziskus. „Das bringt auch mich als Geistlichen in eine komplizierte Situation –  denn die Weihnachtsgottesdienste müssen zuende sein, bevor es dunkel geworden ist. Die Menschen meiner Slumregion Brasilandia leben in Angst und Bedrückung, ziehen sich immer mehr in ihre armseligen Behausungen zurück, gehen kaum noch ins Freie. Wie soll da weihnachtliche Stimmung aufkommen?“ Wenn es ums tägliche Überleben gehe, der Leidensdruck von Jahr zu Jahr höher werde, so Padre Feltrin, könnten die Slumbewohner schwerlich eine starke innere Beziehung zum Weihnachtsfest entwickeln. „Da ist nicht viel Raum für Reflexionen, wenn von draußen Schüsse, sogar MG-Salven zu hören sind, Banditen mit Benzin immer wieder Busse in Brand stecken. Kurz vor Weihnachten verkohlen zwei Menschen, die nicht rechtzeitig aus dem Nahverkehrsbus flüchten konnten. Für Feltrin und seine Gemeindemitglieder sind es nicht die ersten Weihnachten dieser Art. „ Auch letztes Jahr gab es bereits diese Gewalt – mußten wir den günstigsten Zeitpunkt für die Christmetten finden, um das Risiko für die Gläubigen so gering wie möglich zu halten.“ Feltrin spricht über das Netz der Solidarität unter seinen Gemeindemitgliedern, für die Kirche wie eine große, gute Familie ist. Wo man sich trifft, sich hilft, unterstützt, offen seine Sorgen und Nöte aussprechen kann. „Über die diese kleine Kirche hier haben meine Gläubigen in beharrlichem Kampf viel erreicht – daß es überhaupt Strom und Wasser gibt, man eine Buslinie hierher legte.“  Und daß katholische Gemeinden aus bessergestellten Vierteln der Megacity Sao Paulo gerade zu Weihnachten Nahrungsspenden, Geschenke besonders an Kinder und Alte von Brasilandia verteilen. „Es gibt hier mehr Verelendete, als man denkt. Elend versteckt sich heute nicht in Holzkaten, sondern diesen simplen, provisorischen Backsteinhütten. Denn Holz ist ja viel teurer als Backstein“.

Padre Feltrin hat auch sehr viele junge engagierte Katholiken an seiner Seite, die schon jetzt die T-Shirts des bevorstehenden Jugendtreffens mit dem Papst –  2013 in Rio de Janeiro –  tragen – auch zur jüngsten, sehr risikoreichen Friendensdemonstration in Brasilandia.

 „Wir alle hier in der Kirchengemeinde des Heiligen Franziskus sind tagtäglich von Gewalt betroffen – Familienangehörige, Freunde und Bekannte werden überfallen, ermordet“, sagt Ana Cristina de Souza, die unweit der kleinen Gemeindekirche in einer Hang-Kate lebt. „Doch die Regierenden kümmern sich nicht um uns.“

Eine Frau neben ihr trägt ein T-Shirt mit dem Foto eines jungen Mannes:

“Das ist mein Enkel Duda – er kam von der Schule, wurde auf offener Straße erschossen. Niemand kennt den Grund, die Polizei hat nichts aufgeklärt. Gott möge uns beschützen.“

Viele auf der Friedensdemonstration erinnern mit solchen T-Shirts an Gewaltopfer der jüngsten Zeit.

 Mehrere tausend Christen ziehen tagsüber durch eine der gefährlichsten Regionen Sao Paulos und wissen um das Lebensrisiko. Denn wie das organisierte Verbrechen, dessen Banditenkommandos hier herrschen, auf den kirchlichen Protest reagiert, kann niemand voraussagen. Entlang der Route wurden in letzter Zeit zahlreiche Morde verübt, steckten Gangster einen Nahverkehrsbus in Brand und ließen ihn eine steile Straße hinabrollen – vier Slumbewohner wurden zu Tode gequetscht.

“Für ein friedliches Zusammenleben – keine Gewalt“, hallen immer wieder Sprechchöre.

 Auffällig, wie wenige Bewohner auf der Straße sind – hinter stabilen Stahlgittern schauen manche eher mißtrauisch auf den Demonstrationszug. Nachts oft Ausgangssperren –  Polizei läßt sich nur selten blicken. 2012 wurden allein in Sao Paulo bereits über 100 Beamte meist hinterrücks bei Anschlägen erschossen. Laut Statistik wird in Brasilien durchschnittlich alle neun Minuten und 48 Sekunden ein Mensch getötet, bei beträchtlicher Dunkelziffer – weit über 50000 Morde sind es im Jahr, mehr als in jedem anderen Land der Erde, weit mehr als in Konfliktgebieten wie Afghanistan.

“Mich haben die Gangster schon  zweimal zusammengeschlagen“, sagt Gemeindepriester Feltrin. „Ich lebe in Angst wie alle Gläubigen – denn wir sind dem organisierten Verbrechen ausgeliefert, das vor allem Jugendliche anlockt, rekrutiert. Ich beerdige hier größtenteils junge Menschen, die umgebracht wurden. Und dann die verdeckte Gewalt: Frauen werden mißhandelt, viele Kinder sogar vergewaltigt. Wir leben in einer Kultur des Todes.“

Feltrins  Bischof Milton Keno Junior, der die Friedensdemonstration führt,  sieht Gewalt als ein gravierendes Problem von ganz Brasilien, zudem gebe es weiterhin Elendsregionen.

“Verbesserungen sind nur langfristig vorstellbar, sofern der Staat an den Slumperipherien stärker präsent ist und eine echte Sozialpolitik praktiziert, zugunsten von Bildung, Arbeitsplätzen, menschenwürdigen Wohnungen.  Man muß das Drogengeschäft und  den illegalen Waffenhandel stoppen. Brasiliens große Plage ist die Korruption – Gelder für soziale Zwecke werden massiv abgezweigt. Unsere Kirchengemeinden in den Slums befinden sich in prekärer Lage – umso dankbarer sind wir für die Hilfe von Adveniat aus Deutschland.“

Wir laufen mit Bischof Milton Keno Junior und Padre Feltrin in der Nachbargemeinde des deutschen Priesters Konrad Körner aus Ampferbach/Bayern auch an einer kleinen, armseligen Straßenbar vorbei. Eine Woche später verhängen die Banditenkommandos wieder eine Ausgangssperre, doch die Besitzer der Straßenbar überschreiten die festgesetzte Zeit. Motorrad-Killer feuern wahllos in die Gäste –  Leichen, stöhnende Verwundete liegen in einer enormen Blutlache.

Konrad Körner: „In Deutschland kann man sich all dies schwerlich  vorstellen – noch dazu in der Weihnachtszeit.“

 

Die Deutschen in Chile – starke katholische Präsenz

Vielerorts überraschende deutsche Prägung/ Blumengärten, Bier und Kuchen wie in der alten Heimat

„Waren sie schon in unserer katholischen Kirche, ganz aus Holz, diesem Prachtstück? Da müssen sie hin“, empfiehlt Gerda Opitz, die im malerischen Städtchen Puerto Varas am Llanquihue-See wie viele Deutschstämmige in einem schönen alten Holzhaus wohnt. Sie betreibt eine kleine, originelle Pension nur ein paar Schritte von der Kirche „Sagrado Corazon de Jesús“ entfernt – bevor man sie betritt, ist der Blick auf die beiden schneebedeckten Vulkane Osorno und Puntiagudo einfach grandios. Gerda  Opitz wechselt immer wieder vom Deutschen in die Landessprache Spanisch – und auch in der Kirche sieht man beim Gottesdienst, bei Taufen zwar viele deutsche Gesichter, hört indessen meist spanische Laute. Weils im Alltag einfach praktischer ist, Mischehen längst überwiegen, ist die rund eine halbe Million Deutschstämmige unter den insgesamt etwa 17 Millionen Chilenen fast komplett auf Spanisch umgeschwenkt, halten, wie es heißt, nur noch an die 20000 an ihrer Muttersprache fest. Deutscher Identität, deutscher Prägung  hat das offenbar keinen Abbruch getan – manche Zugereisten  könnte dies direkt verlegen machen.

 Die Kirche ist Nationaldenkmal, wurde zwischen 1915 und 1918 erbaut, wobei sich die Architekten von Gotteshäusern Baden-Württembergs inspirieren ließen. 

Katholische Einwanderer, heißt es in Studien, assimilierten sich wegen des selben Glaubens im Unterschied zu den Lutheranern sehr rasch, heirateten viel häufiger  Ibero-Chilenen.

„Ja, hier geht es recht deutsch zu“, sagen selbst einfache chilenische Landarbeiter  der Seeregion ungefragt im spontanen Gespräch, machen die Einwanderer für den beeindruckenden Entwicklungsstand von Südchile verantwortlich, loben deren Kuchen und Bier, überall angeboten,  dazu deutsche Tugenden wie Fleiß und Ordnung,  hohes Qualitätsbewußtsein.  „Wir sind leider nicht so pünktlich wie die.“

Von Puerto Varas mit seiner großen deutschen Schule, dem „Club Alemàn“, einem Bürgermeister namens Alvaro Berger Schmidt ist man per Bus rasch im nahen Dörfchen „Nueva Braunau“, das um 1875 Zuwanderer aus dem heutigen Broumov in Tschechien gründeten. „Keine fünfzig Deutschstämmige sind noch da – ich bin die vierte Generation“, erläutert  Karl-Heinz Döpking-Held in dem mit sensationellen Raritäten aus dem Leben der Migranten gespickten „Museo Alemán“. Erst seit einigen Jahren ist er Museumsführer, suchte zuvor wie gar nicht so wenige junge Deutschstämmige auf ungewöhnliche Weise den intensiven Kontakt zum Land der Vorfahren. „Ich bin zwei Jahre freiwillig zur Bundeswehr, nach Rostock – das war super. Danach meldete ich mich nach Afghanistan, habe ja schließlich einen deutschen Paß –  aber leider war mein Kompaniechef dagegen.“

Laut Karl-Heinz Döpking- Held kamen in Südchile die meisten angeworbenen Einwanderer aus Sachsen und Bayern, wollten, als sie den undurchdringlichen Urwald sahen, am liebsten gleich wieder zurück. „Monatelang haben sie vom Pazifik einen Weg zum See geschlagen. In Regen und Kälte – es war Wahnsinn. Der chilenische Staat suchte zuvor Einheimische, die das Gebiet besiedeln, wirtschaftlich entwickeln sollten – doch die wollten nicht. Zuviel Arbeit.  Argentinier, Franzosen wollten auch nicht.“

Heute merke man den deutschen Einfluß in Chile stark. „Wie die Häuser sind, wie man hier arbeitet – das ist die deutsche Art.“ Auch er hält sich mit politisch unkorrekten Bemerkungen keineswegs zurück:“Hier gab es keine Indianer – wegen eines Vulkanausbruchs sind die weggelaufen, wegen ihrer mythischen Vorstellungen.“

In der idyllischen Deutschen-Siedlung Frutillar bei Puerto Varas, doch selbst in der Hauptstadt Santiago findet man hübsche Gärten und Parks mit Himbeerstauden, Geranien, Rosen, Buchen und Ahorn – sogar deutsche Feldblumen haben die Einwanderer in Chile heimisch gemacht. Überall trinkt man das nach deutschem Reinheitsgebot gebraute Bier der Marke „Kunstmann“, stößt auf Apotheken, Einzelhandels-und Supermarktketten mit deutschstämmigen Besitzern. In Valparaiso, UNESCO-Kulturdenkmal der Menschheit, leitet ein Deutschstämmiger den modernsten Hafen Chiles, in dem fast der gesamte Frachtumschlag auf den Terminal der deutschstämmigen Von-Appen-Group entfällt, unter den führenden Unternehmen des Landes. „Soll ich ihnen mal was von meinen Großeltern zeigen?“, fragt Jäger und weist in seinem Chefzimmer auf eine ganze Reihe sorgfältig gerahmter Originaldokumente, darunter Pässe und kaiserliche Auszeichnungen des ersten Weltkriegs. „Chiles gesamte Entwicklung ging von Valparaiso aus – hier gab es eine große deutsche Gemeinde.“

Nicht zu übersehen, Nachfahren der Einwanderer spielen auch im Wirtschaftsleben des Landes eine beträchtliche Rolle, haben mit dafür gesorgt, daß Chile heute in Lateinamerika der Spitzenreiter ist, von UNO oder Weltbank laufend Bestnoten erhält, Kriminalität und Korruption etwa im Vergleich zu Brasilien verschwindend gering sind.

Luiz ist Kellner in der alten Markthalle von Santiago, spricht fließend deutsch:“Ich bin absoluter Bach-Fanatiker, extra nach Leipzig gefahren, um mir in der Thomaskirche ein von Kurt Masur dirigiertes Thomaner-Konzert anzuhören. Hinterher  Eisenach und Lübeck – immer auf den Spuren von Bach!“

Vor dem Präsidentenpalast La Moneda geht es zackig zu – die Uniformen der Wachoffiziere erinnern irgendwie an deutsche. Richtig – bereits nach 1885 wurden Chiles Streitkräfte von preußischen Militärberatern geformt, nennt man in Nachbarstaaten die Chilenen  spöttisch auch die „Prussianos“ von Lateinamerika.

Bereits mit den spanischen Eroberern kamen Deutsche ins Land –  Bartholomäus Blumen aus Nürnberg zählte zu den Gründern von Santiago, dessen Bürgermeister wurde 1572 Peter Lisperger aus Worms.

-       Die erste Einwanderungswelle Deutscher begann nach 1840, die zweite nach 1880.

-       Nach 1930 flohen deutsche Juden, etwa 15000, vor den Nazis nach Chile.

-       Hauptverbreitungsgebiet der Deutschstämmigen ist bis heute die Landesregion südlich von Santiago.

-       Heute noch etwa 20 deutsche Schulen, mit rund 15000 Schülern.

-       Auffällig gut organisiertes Vereinswesen – allen voran die deutschen Clubs, ferner Sportvereine, Chöre und Kapellen, studentische Burschenschaften

-       Beste Reisezeit zwischen Dezember und Februar – der Süden ist sehr regenreich.

-       Über 10000 Chilenen haben einen deutschen Paß.

-       Deutschstämmige empfinden sich laut Studien soziokulturell deutlich anders als Bundesdeutsche

-       Die sogenannten deutschen Tugenden, zuhause gewöhnlich lächerlich gemacht, werden einem in Lateinamerika permanent positiv angekreidet, auch in Chile.

 

Brasiliens katholische Kirche im Widerstand gegen die Militärdiktatur-

 viele Geistliche gefoltert und ermordet –  sexuelle Gewalt sogar gegen Ordensschwestern

Massenvergewaltigungen, Sadismus jeder Art

Nationale Wahrheitskommission enthüllt bisher verschwiegenen Repressions-Horror

Oppositionelle Geistliche werden totgefoltert, Regimegegnerinnen, darunter Ordensschwestern, auf perverseste Weise sexuell mißbraucht, immer wieder vergewaltigt. Jene, die jetzt vor der Wahrheitskommission aussagen, haben sichtlich das vor mehreren Jahrzehnten Erlittene psychisch und körperlich keineswegs verkraftet.

Im Vergleich zu Chile oder Argentinien war Brasiliens Militärregime direkt harmlos, lauten indessen auch in Europa gängige Urteile, begründet mit bemerkenswert niedrigen amtlichen Opferzahlen: Gerade mal 376 Menschen seien in den 21 Jahren der Generalsherrschaft durch Diktaturangehörige getötet worden – im benachbarten Argentinien dagegen zwischen 11000 und 30000.  Brasiliens katholische Menschenrechtsaktivisten, die Folter und Verfolgung überlebten, haben die offiziellen Zahlen stets als absurd niedrig eingestuft – und als pervers geschönt. Das Militärregime, so der mehrere Jahre eingekerkerte Dominikaner Frei Betto, Brasiliens wichtigster Befreiungstheologe, sei schließlich nazistisch-antisemitisch gewesen – und entsprechend vorgegangen.

Während in Argentinien, dem Land des neuen Papstes, die Vergangenheitsbewältigung zügig vorankommt, mehrere Tausend hohe Diktaturoffiziere abgeurteilt werden, ein Teil bereits hinter Gittern sitzt, wußten Brasiliens politisch einflußreiche Militärs derartiges bisher zu verhindern. Erst jetzt, und eigentlich viel zu spät, kann eine Nationale Wahrheitskommission gegen den Druck des starken rechtsextremen Lagers wenigstens ermitteln, wird fast sofort fündig, rückt sicher auch bei europäischen Christen mancherlei Klischeevorstellungen über Brasilien zurecht: Bereits im Putschjahr 1964 über 50000 Verhaftete, systematisches „Verschwindenlassen“ von Regimegegnern.

In Amazonien verliert ein einziger Indianerstamm durch die Repression mindestens 2000 Angehörige – Hinweis darauf, wie kräftig  jene amtlichen Opferzahlen nach oben „korrigiert“ werden dürften. Da der Wahrheitskommission auch katholische Regimegegner angehören, werden  oberflächliche Fehlurteile fallen, die Kirche sei damals, etwa verglichen mit Argentinien,  recht glimpflich davongekommen.

 „Sie haben unsern Padre Henrique gefoltert und ermordet, gleich darauf einen katholischen Studentenführer erschossen“, schildert Ordensschwester Maria Zelina Leite  den Diktatur-Terror damals in ihrer Heimatstadt, dem nordöstlichen Recife. „Erzbischof Dom Helder Camara, eine der Symbolfiguren des Widerstands, führte den Trauerzug von über 10000 zur Beerdigung von Padre Henrique an. Soldaten sprangen von Militär-LKW, prügelten auf uns ein. Doch Dom Helder Camara war regelrecht genial, wußte ein Blutbad und Verhaftungen zu verhindern, instruierte auf dem Friedhof die Regimegegner, den am Eingang lauernden Soldaten nicht ins offene Messer zu laufen.“

Vor dem Bischofssitz stehen rund um die Uhr Schergen der Foltergenerale, sollen all jene einschüchtern, die es wagen, Dom Helder Camara und seine Mitarbeiter der Kurie aufzusuchen. „Er appelliert damals an die Militärs: Verhaftet mich, aber laßt meine Priester in Ruhe! Wegen des vorhersehbaren Welt-Echos kerkern sie den Erzbischof nicht ein – halten sich an die Geistlichen.“

Aber ging das denn so leicht? Ivone Gebara, Ordensschwester, Mitglied der Wahrheitskommission: „Man erklärte regimekritische Padres einfach zu Kommunisten – oppositionelle Ordensschwestern zu Kommunistinnen. Auch die Katholische Arbeiterjugend JOC und die katholische Studentenbewegung JEC  waren  im Widerstand – wurden verfolgt.“ Klassisch ist ein Ausspruch von Dom Helder Camara aus dieser Zeit:  „Wenn ich den Armen zu essen gebe, nennt man mich einen Heiligen. Doch wenn ich frage, warum sie arm sind, nennt man mich einen Kommunisten“.  Der Erzbischof überlebt  mehrere Attentate, sein Sekretär, der Priester Antonio Pereira Neto, wird ermordet.

(Zu den Facetten des damaligen gesellschaftlichen Klimas gehört, daß das Bezeichnen von Personen als Kommunist im brasilianischen Wirtschaftsleben auch dazu diente, Konkurrenten, etwa Unternehmer, Großgrundbesitzer fertigzumachen.  Dafür sind aus ganz Brasiliens teils sehr bizarre Beispiele bekannt – miteinander verfeindete Fazendeiros des Hinterlands nutzten die Methode ebenfalls.)

Ivone Gebara und Maria Zeline Leite aus Recife werden Anfang 2013 auf einer Anhörung im Parlament des Teilstaats Sao Paulo noch einmal sehr schmerzhaft an ein besonders finsteres Diktatur-Kapitel, das perverse Foltern von Frauen, erinnert. Neben Paulo Sergio Pinheiro, Leiter der Wahrheitskommission und angesehener UNO-Sonderberichterstatter für Menschenrechtsfragen, spricht Maria Amélia de Alkmeida Teles: „Vor meinen Augen haben sie einen Widerstandskämpfer ermordet – meinen Mann ins Koma gefoltert. Sie haben meine schwangere Schwester verhaftet und gefoltert. Ich war mehrfach Opfer sexueller Gewalt. Wir weiblichen Regimegegner wurden ja stets nackt verhört. Ich erlitt Elektroschocks, wie die anderen auch, an den Geschlechtsteilen. Meine kleinen Kinder mußten zusehen. Ich war voller Urin, voller Kot. Mein kleiner Sohn fragte: Warum bist du am ganzen Körper blau, warum ist der Vater jetzt grün? Er war im Koma. Ja, mein ganzer Körper war blau von den vielen Hämatomen.“

Auch die Widerstandskämpferin Marise Egger schilderte gegenüber der Wahrheitskommission die erlittene sexuelle Gewalt. „Die Elektroschocks ließen mein Brustgewebe absterben, sodaß ich später meine Tochter nicht mehr stillen konnte.” Laut Marise Eggers wird auch heute noch in Brasiliens Polizeiwachen mit sexueller Gewalt gefoltert.

Fotos auf Flugblättern machen zur Diktaturzeit die Runde, die populäre Padres mit Ordensschwestern nackt in Stundenhotel-Betten zeigen. Was war da passiert? Um die katholische Opposition zu diskreditieren, werden engagierte Priester von der Geheimpolizei entführt und unter Drogen gesetzt,  mit Ordensschwestern unbekleidet fotografiert.

1976 trifft es sogar den als „Roten“ beschimpften Bischof Adriano Hipolito bei Rio de Janeiro.  Zunächst will man ihn zwingen, Zuckerrohrschnaps zu trinken – wohl um dann  einen total betrunkenen Bischof ablichten zu können. Doch Hipolito wehrt sich erfolgreich, wird geschlagen, völlig entkleidet, komplett mit roter Farbe beschmiert und in den Staub einer abgelegenen Straße geworfen.  Das Regime druckt und verbreitet gefälschte Diözesezeitungen, die enorme Konfusion in den kirchlichen Bewegungen bewirken – Bischof Hipolito bleibt nichts anderes übrig, als  das Blatt einzustellen. In die Kathedrale werden immer wieder Bomben geworfen, die sogar das Allerheiligste zerstören.

 Weit abgelegen in Amazonien, will die Diktatur gar einen Bischof ermorden: Neofeudal herrschende Großgrundbesitzer, deren mittelalterliche Sklaverei  bringen den Katalanier Pedro Casaldáliga derart auf, daß er mit gesunder Radikalität für christliche Werte, die Menschenrechte ficht. Während der 21 Diktaturjahre wird er von seinen Beschattern unter dem Codewort „Palito eletrico“, verrückt-elektrisierter Zahnstocher, geführt. Treffend gewählt. Denn Casaldáliga ist dünn, energiegeladen, hochaktiv. Rasch wird er wie Dom Helder Camara zu einem Symbol des Widerstands, bestgehaßt von den Machteliten. In Sao Felix de Araguaia schildert er auf der schlichten Holzbank vor der „Bischofsresidenz“, einer kleinen Kate an einem Schlammweg, das bedrückendste Diktatur-Erlebnis:“Als ich 1976 mit Priester Joao Bosco Burnier in einer Polizeiwache gegen die schon von weitem zu hörende sadistische Folterung zweier Frauen protestiere, halten Militärpolizisten ihn, und nicht mich, für das seit Wochen eingekreiste Opfer.“ Denn Padre Burnier wirkt weit mehr als der sportlich-quirlige Casaldáliga wie ein Bischof. „Erst schlagen sie ihm mit dem Gewehrkolben auf den Kopf, dann fallen Schüssen, ein Dum-Dum-Geschoß durchschlägt seine Stirn – Burnier fällt neben mir zu Boden, stirbt kurz darauf.“

Weil Diktatursoldateska sein Häuschen umstellt, lebt er dort häufig wie ein Gefangener. Kein anderer Geistlicher Brasiliens hat wohl so viele Extremsituationen erlebt – die daraus resultierende Radikalität wird  selbst in Rom gelegentlich mißverstanden. „Ich diskutierte dort sogar mit Kardinal Ratzinger“, sagt er schmunzelnd..

In der südlichen Megacity Sao Paulo bringt 1980 der Besuch von Papst Johannes Paul dem Zweiten die Foltermilitärs in arge Schwierigkeiten.  Alarmiert vom dortigen deutschstämmigen Stadt-Erzbischof Paulo Evaristo Arns ebenso wie von Casaldáliga, will sich der Papst vor Ort informieren, trifft sich mit den Arbeitern der Industriebetriebe im überfüllten Morumbi-Fußballstadion. An seiner Seite, zum Ärger des Repressionsapparats ausgerechnet der populäre Regimegegner Waldemar Rossi als Sprecher der Fabrikarbeiter. „Da mich die Geheimpolizei nicht ins Stadion lassen will, gibt mir Arns seine Bischofs-Sondererlaubnis, mit der ich doch noch hineinschlüpfen kann.“ Rossi hatte zuvor barbarische Folterungen überlebt:“Sie haben mich wie bei Hitler die SS mit der Papageienschaukel-Methode traktiert, den Kopf nach unten, an einer Eisenstange aufgehängt, dazu Schläge, stundenlang Elektroschocks. Als der Erzbischof davon erfährt, schaltet er den Vatikan ein, macht Druck, holt mich und andere Eingesperrte heraus, besucht uns vorher sogar in der Zelle.“ „Dom Paulo“ gründet  mitten in der Diktaturzeit Brasiliens erste katholische Kommission für Gerechtigkeit und Frieden, bringt später das weltweit Aufsehen erregende Buch „Brasil – nunca mais“ über die Diktaturverbrechen heraus. Todesschwadronen ermorden damals Ungezählte vor allem in den Elendsvierteln der Großstädte, politische Gefangene werden den Haien lebendig zum Fraß vorgeworfen oder über Amazonien aus Helikoptern gestoßen. In Stücke gehackt, verscharrt man Diktaturgegner selbst an Traumstränden Rio de Janeiros. Die Diktatur erlaubt dem Internationalen Roten Kreuz nicht den Zugang zu den Gefängnissen. Doch Diktator Medici erklärt, es gebe keine politischen Gefangenen. Laut Weltkirchenrat existieren mindestens 242 Folterzentren, gehöre zu den Taktiken, Oppositionelle in Gegenwart ihrer Ehepartner, teils sogar ihrer Kinder zu foltern.

1975 ermorden die Militärs in Sao Paulo den jüdischen Journalisten Vladimir Herzog, stellen es offiziell als Selbstmord hin.

Arns ruft in Sao Paulo zu einer ökumenischen Trauerfeier in die Kathedrale, zelebriert  mit Erzbischof Dom Helder Camara und zwei Rabbinern die Messe, die mit etwa 8000 Teilnehmern zu einem Fanal des Protestes gegen die Folter-Diktatur wird.

Ganz seinem Temperament entsprechend, dringt der Erzbischof bis in Generalstab und Kasernen vor, stellt hohe Offiziere heftig  zur Rede.

 In Rio de Janeiro dagegen hat der höchste katholische Würdenträger Eugenio Sales den Beinamen „Kardinal der Diktatur“, gilt als unterwürfiger Generals-Kollaborateur, Schande für die ganze Kirche.

 Erst über ein Jahrzehnt nach Regimeende müssen sich auch viele linke Widerständler unter dem Druck der Fakten korrigieren.  Als Bischof in seiner Nordostheimat wird Sales ebenfalls als „Roter“ beschimpft, weil er weitreichende Sozialprogramme startet, beim Gründen von Gewerkschaften hilft. Wertkonservativ und eher zurückhaltend im Auftreten, agiert Kardinal Sales in den Diktaturjahren anders als Arns diskret, aber hocheffizient, hält sich Gesprächskanäle zu den Diktatoren offen. In Rio de Janeiro organisiert er Asyl für mindestens 5000 Verfolgte der Diktaturen in Chile, Argentinien und Uruguay, mietet für sie auf Diözesekosten sogar Wohnungen an, baut mit der Caritas ein Hilfenetz auf. Überliefert ist ein Sales-Telefongespräch mit dem Diktaturgeneral Silvio Frota: „Wenn Sie die amtliche Mitteilung erhalten, daß im Bischofspalast Kommunisten untergebracht seien, ich Kommunisten schütze, sollen Sie wissen, daß dies wahr ist – ich bin dafür verantwortlich. Und Punkt. Wiederhören.“

Sales, stellt sich später heraus, erreicht die Freilassung von „Subversiven“, besucht die politischen Gefangenen der Hochsicherheitsgefängnisse, wird zu deren Sprecher und Vermittler. „Der war konservativ, aber integer“, lauten Urteile über den inzwischen verstorbenen Kardinal. Die Vorwürfe sind verstummt.

Ob die Wahrheitskommission vollen Erfolg hat? Schon klagt sie an, daß die geheimen Archive der Streitkräfte weiter unzugänglich bleiben –  „mitten in der Demokratie“…

http://www.hart-brasilientexte.de/2013/11/19/brasiliens-folter-diktatur1964-1985-mit-wem-bundesausenminister-willy-brandt-damals-bilaterale-vertrage-unterzeichnet-das-massaker-an-stahlarbeitern-unter-gouverneur-jose-magalhaes-pinto/

 

 

Antikatholische Wunderheilersekten sorgen für Regierungskrise

“Gott tötete John Lennon!”

Die „Freikirchen“ und ihre „Volksnähe“

Starker Tobak –  mancher Leser wird vielleicht schlucken. „Dieser erste Schuß auf John Lennon ist im Namen des Vaters, der zweite Schuß im Namen des Sohnes und der dritte im Namen des Heiligen Geistes.“ Wer wild gestikulierend mit diesen Worten einen riesigen Saal voller Sektenanhänger zum Kochen bringt, ist kein geringerer als der jetzige Präsident der Menschenrechtskommission des brasilianischen Parlaments, Pastor Marco Feliciano von der Wunderheiler-Sektenkirche „Assembleia de Deus“.  In deutschen Medien wird sie beschönigend als „Freikirche“ bezeichnet,  erntet immer wieder Lob und Sympathie,  stellt man sie gar der katholischen Kirche als positiv und volksnah gegenüber.

Sektenpastor Feliciano, ein Rhetorik-und Marketingtalent erster Güte, erklärt den zustimmenden Massen auch, warum John Lennon durch Gott getötet worden sei: Die Beatles sind  berühmter als Jesus Christus, soLennon. „Niemand stellt sich gegen Gott und überlebt, um sich weiter über ihn lustig zu machen. Ich wäre gerne am Tatort gewesen, als sie seine Leiche entdeckten, hätte Lennon das Tuch heruntergezogen.“ Und ihm erklärt, woher die Schüsse tatsächlich gekommen seien.

Das fundamentalistische Publikum feiert Feliciano auch mit stehenden Ovationen, als er den Tod der beliebten brasilianischen Humorband „Mamonas Assassinas“ durch ein Flugzeugunglück analysiert: Band-Leader Dinho, Mitglied der „Assembleia de Deus“, habe sich an den Teufel des Geldes verkauft. „Ich weiß, was dann geschah. Ein Engel sorgte für einen Pilotenfehler – und Gott zerschmetterte jene, die unseren Kindern schmutzige Wörter beibringen wollten!“

Wäre jemand mit solchen Ansichten und Wertvorstellungen in den deutschen Bundestag gewählt worden? Schwerlich – doch im größten katholischen Land Brasilien konnten sich die evangelikalen Sektenkirchen auch mit viel Rückenwind und Finanzhilfe aus westlichen Ländern so stark ausbreiten, daß sie inzwischen sogar über eine parteienübergreifende Parlamentsfraktion verfügen und selbst Minister in der Regierung von Präsidentin Dilma Rousseff stellen.

Durch geschicktes Taktieren, und weil Dilma Rousseff zustimmte,  gelingt ihnen Anfang 2013 erstmals ganz „demokratisch“,  auch die  wichtige Menschenrechtskommission zu übernehmen. Niemand rechnete wohl mit heftigen Protesten der Öffentlichkeit gegen Feliciano, die sogar eine Regierungskrise heraufbeschworen.

 Bereits Staatspräsident Lula holt sich die wie Wirtschaftsunternehmen geführten evangelikalen Sekten als wichtige Stimmenbeschaffer mit ins Boot, macht eine Sektenpredigerin der  “ Assembleia de Deus“, die in Mitteleuropa als Öko-Star gefeierte Marina Silva, zur Umweltministerin.

Präsidentin Rousseff nutzt bisher ebenfalls die Sekten und ihre Kongreßvertreter als Stimmen-und Mehrheitsbeschaffer, sitzt jetzt wegen des Feliciano-Skandals jedoch arg in der Klemme. Das Image der Regierung droht auch im Ausland Schaden zu nehmen. Zumal es sich beim Vize von Feliciano in der Menschenrechtskommission ausgerechnet um den Diktatur-und Folter-Befürworter Jair Bolsonaro handelt. Er ist die bekannteste Figur des rechtsextremen Spektrums in Brasilien, indessen wortgewaltiges Mitglied des Regierungsbündnisses. Schon nennt selbst die Londoner „Financial Times“ den Pastor „eine Schande für Brasilien“.

Kein Tag ohne landesweite Straßenproteste, beißende Medienkommentare gegen Feliciano, dem auch Rassismus und Homosexuellenfeindlichkeit vorgeworfen wird.

 Präsidentin Rousseffs Arbeiterpartei PT wäre Feliciano gerne wieder los – aber wie? Denn schon drohen  evangelikale Sektenführer  damit, 2014 gegen eine Wiederwahl der Staatschefin zu mobilisieren, falls Feliciano nicht auf dem Posten bleibt. Oppositionelle Kongreßabgeordnete empört, daß Dilma Rousseff derzeit kein Sterbenswörtchen zum Skandal um den Pastor verliert:“Ihr Schweigen zeigt Angst – und wie stark sie bereits Geisel dieser Fundamentalisten ist, um wiedergewählt zu werden.“ Brasiliens zweitgrößte TV-Station gehört immerhin einer  Wunderheilersekte, der „Universalkirche vom Reich Gottes“.

 Das Tropenland erlebt derzeit ein bemerkenswertes Kräftemessen: Gleich 24000 Pastoren der „Assembleia de Deus“, darunter Marina Silva, jubeln und beten in Brasilia für Feliciano, holen ihn ans Rednerpult, stellen sich gemeinsam mit der evangelikalen Kongreßfraktion  in offiziellen Erklärungen hinter ihren Mann.

Man erinnert sich: Auch der in Deutschland als Befreiungstheologe geltende Leonardo Boff begrüßt bereits im Jahr 2000 öffentlich die Expansion der Evangelikalen, macht sogar Wahlkampf für die Sektenpredigerin Marina Silva, als sie sich 2005 als Präsidentschaftskandidatin aufstellen läßt. Auch Boff weiß natürlich, wie fundamentalistisch-bizarr die Wunderheilersekten agieren – siehe den Fall John Lennon. Und wie sie die katholische Kirche verfluchen. „Die ist tot, falsch und schlecht!“, wettert Pastor Feliciano.

Brasiliens wichtigster Befreiungstheologe, der Dominikaner Frei Betto aus Sao Paulo, kann anders als Boff den Evangelikalen nichts abgewinnen – ist über Feliciano empört, fordert dessen Absetzung.

 Derzeit fällt indessen auf, wie die alles andere als prokatholischen großen Blätter Brasiliens nicht gerade schmeichelhafte Mitgliederzahlen der Sekten veröffentlichen. Felicianos „Gottesversammlung“ rühmt sich, mit 20 Millionen Gläubigen die größte evangelikale Kirche des Landes  zu sein. Brasiliens führende Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“, mit eigenem Statistikinstitut, nennt indessen nur 12,31 Millionen. Und gibt der zitierten „Universalkirche vom Reich Gottes“ nur noch 1,87 Millionen Anhänger, statt der bisher immer genannten acht Millionen.

Erst letztes Jahr hatte die Zeitung den Evangelikalen eine schmerzhafte Blamage bereitet. Für den „Jesus-Marsch“ in der 12-Millionen-Stadt Sao Paulo melden sie eine Rekord-Teilnehmerzahl von fünf Millionen. Mißtrauisch über derartige Rekorde geworden, schickt das Blatt daher 71 Statistik-und Umfrageexperten zu der Veranstaltung. Die registrieren nur an die 335000 Gläubige.

 

Deutschstämmiger Kardinal Odilo Scherer in Sao Paulo, zu den Papstkandidaten gezählt,  würdigt das Werk von Benedikt XVI, nimmt ihn gegen Medien-Anfeindungen in Schutz(2012)

Scherer,63,:“ Mission der Kirche ist, nie die Courage zu verlieren, ohne Angst vor den Risiken!“

Sao Paulos Erzbischof ist die letzten Jahre oft im Vatikan, übernimmt Sonderaufgaben, konferiert häufig mit Benedikt XVI. , hat wie dieser jenen  feinen ironischen Humor, der in Zeiten medialer Grobschlächtigkeit besonders von der Kommerz-Journaille kaum noch verstanden wird. In der Kathedrale von Sao Paulo, die der Papst zuletzt 2007 besuchte, predigt Scherer seit Jahren über dringlichste religiöse und soziale Fragen, prangert Folter, Sklavenarbeit, Regierungskorruption, Massenelend in Brasilien an – und muß erleben, daß selbst  private Qualitätsmedien des Landes über solche unerwünschte Gesellschaftskritik keine einzige Zeile veröffentlichen, dafür absurdeste Gerüchte über den Zustand der Kirche ausstreuen. Nicht zufällig fühlt sich Scherer daher jetzt mit dem Papst in einem Boot,  schüttelt den Kopf über die Flut von Verleumdungen anläßlich seines Rücktritts. „Geht es jenen, die derzeit seltsamste Interpretationen verbreiten und damit die Gläubigen empören, um das Wohl der Kirche?“, fragt der Kardinal ironisch. Benedikt XVI. sei während seiner Amtszeit nur zu oft garnicht verstanden, falsch interpretiert worden – in der Konfrontation von Ideen, im Zusammenprall mit den Medien. Scherer bekräftigte die letzten Jahre stets die Mission der Kirche. “Diese Frage hat für mich grundsätzliche Bedeutung. Es geht um immense Herausforderungen in einer immer komplexeren Welt. Unsere Aufgabe als Kirche ist, angesichts dieser Realität nicht die Courage zu verlieren, stets die Initiative zu ergreifen, ohne Angst vor den Risiken selbst in den ungewöhnlichsten Situationen,  sich einzubringen in diese komplexe Welt – auszusprechen, was gesagt werden muß. Die Kirche hat einen wichtigen Beitrag zu leisten für die Gesellschaft – und hier in Sao Paulo für die Stadt, ihre Kultur, für die Orientierung des Lebens dieser Stadt, auch im politischen, wirtschaftlichen Sinne. Ich beziehe mich dabei auf das Beispiel des Apostels Paulus. In Athen redet er mit Politikern, Philosophen, Literaten, Neugierigen über Jesus Christus – riskiert, nicht verstanden, ausgelacht, lächerlich gemacht zu werden. Nur wenige nahmen Paulus damals ernst.“

Jetzt, nach dem Papstrücktritt, reflektiert der Kardinal erneut:

„Heute leben wir im Zeitalter einer neuen Kultur ohne solide Wertbegriffe, in  totalem Werte-Relativismus. Das betrifft  ethische, anthropologische und sogar religiöse Werte. Diese neue Kultur ist wässrig, verwässert. Das ist die Kultur des totalen Subjektivismus.” Dies sei die Herausforderung für eine katholische Kirche, die in ihrer Geschichte bereits viele Herausforderungen bestehen  mußte.

 Brasiliens größte Qualitätszeitung Folha de Sao Paulovermerkte immerhin in einer Analyse:“Benedikt XVI. war in 2000 Jahren Kirchengeschichte vielleicht der kultivierteste Papst – und jener, der am meisten Texte verfaßte. Sein Schriftwerk ist vielfältiger und weitreichender als das aller anderen Päpste. Seine Enzykliken zeigen die perfekte Kenntnis der Probleme in der heutigen Welt.“

Krasse, atemberaubende kann Scherer tagtäglich direkt vor der Kathedrale Sao Paulos beobachten: Junge Mädchen und Frauen liegen im tödlichen Crack-Rausch direkt an der Statue des Apostels Paulus.

„Wir als Kirche haben nicht die Macht, um mit dem Drogengeschäft Schluß zu machen, diesem Geschäft mit dem Tod, wie Papst Benedikt XVI. sagte. Doch in dieser Welt von heute gibt es enorme wirtschaftliche Interessen, damit es bei diesem Geschäft bleibt. So viele Menschenleben werden durch die Drogenkriminalität, diese Sklaverei in der Drogenwelt vernichtet! Die Kirche verurteilt das Todes-Geschäft und versucht, möglichst viele da herauszuretten, hat für diesen Zweck die Fazendas der Hoffnung des deutschen Franziskaners Hans Stapel aus Paderborn.” Auch das entsetzliche Elend auf den Straßen der reichsten lateinamerikanischen Stadt bringt ihn auf – seiner Empörung über das lebendige Verbrennen von Obdachlosen macht er auch  in großen Zeitungskolumen Luft.

Scherer prangert auch die staatlich geförderte Ausbreitung übelster Wunderheilersekten an, hat auffällig regierungskritische Sozialpastoralen, darunter die Arbeiterseelsorge, an seiner Seite.

“Es ist erschreckend, daß in bestimmten Ländern wie Indien und Brasilien sogar Hightech-Sektoren und Situationen schlimmsten Elends nebeneinander existieren.”

 

 

 Milton Kenan Junior, zuständiger Bischof für die Sozialpastoralen der Erzdiözese: 

“Die Menschen an der Slum-Peripherie Sao Paulos werden vom Staat im Stich gelassen. Elend, Armut sind der Schauplatz der derzeitigen Gewaltwelle, die sich zuallererst gegen diese gesellschaftlich ausgeschlossenen Menschen der Slums richtet. Waffengebrauch wird immer banaler – wer eine Waffe zuhause hat, läuft damit auf der Straße und schießt nur zu oft ohne jegliche Skrupel. Wir leben in einer Kultur des Todes, die Gewalt wird banalisiert. Sao Paulo ist eine Stadt starker Kontraste, einerseits entwickelt, andererseit geprägt von Elend – unsere Friedensdemonstration findet zeitgleich mit dem Formel-1-Rennen von Interlagos statt. Sao Paulo ist das Finanzzentrum Brasilien, das intelektuelle Zentrum des Landes – doch gleichzeitig eine extrem gewalttätige Stadt. Hier in Brasilandia betet man, nicht krank zu werden – denn das wird zum Drama: Man läuft von einem Gesundheitsposten zum anderen, von einem Hospital zum anderen – und wird nicht medizinisch behandelt! Diese Situation stellt unsere Demokratie in Frage. Die große Plage Brasiliens ist die Korruption – Gelder, die ins Gesundheitswesen, in Bildung, öffentlichen Verkehr, andere soziale Zwecke fließen müßten, werden abgezweigt.  Unsere Priester in den Slumregionen, man kann es nicht anders sagen, wirken nur zu oft geradezu heldenhaft, wie Helden – angesichts der schier unbeschreiblichen Probleme und Bedrohungen – auch für das eigene Leben. Unsere Kirchengemeinden in den Slums befinden sich in einer so prekären Lage – umso willkommener sind uns daher die Hilfen von Adveniat, von der katholischen Kirche Deutschlands. Hilfen für so viele wichtige Projekte. Dafür sind wir sehr dankbar.”

 

 

Für die  Menschen im Slum ist jeden Tag Karfreitag(2013)

Jesus Christus nicht gekreuzigt, sondern lebendig verbrannt auf Autoreifen-Scheiterhaufen – in Oster-Schauspiel der Slums von Rio de Janeiro.

Wegen des herannahenden Weltjugendtreffens mit dem  neuen Papst rückt Brasiliens Armee kurz vor Ostern mit Panzerkolonnen in einen von Banditenkommandos beherrschten Slumkomplex  an der strategisch wichtigen Stadtautobahn ein. Die Soldaten stoßen prompt auf die übliche Scheiterhaufen-Hinrichtungsstätte, mit den typischen Ascheresten – in der sogenannten „Siedlung der Träume“.  Wie bitte – Scheiterhaufen in Lateinamerikas größter Demokratie, gar in der vielgerühmten Zuckerhutmetropole?

  Entsetzlicherweise Fakt – in Rio weiß jedermann davon – und in den Slums haben, wie Medienfotos zeigen – sehr viele Bewohner bereits zugesehen, wie die neofeudalen Herrscher des Favela-Parallelstaats Mißliebige, die sich dem mittelalterlichen Normendiktat widersetzen, mit Benzin übergießen und auf Scheiterhaufen aus Autoreifen lebendig verbrennen. Unter den Opfern ungezählte aufrechte Christen, Bürgerrechtler. Eine junge kirchliche Menschenrechtsaktivistin  wird in Rio  von einem Banditenkommando gestoppt, zuerst gefoltert, dann in ihrem Wagen eingeschlossen.  Die Gangster setzen das Auto in Brand, die junge schwangere Frau verkohlt in den Flammen. Auch dies ist eine gängige Methode der Gangster, die nur zu oft kopieren, was sie in kommerziellen Gewaltfilmen sehen.

Stets an Karfreitag interpretieren Brasiliens katholische Gemeinden das Leiden und Sterben des Jesus von Nazareth in tief berührenden Aufführungen, mit deutlichem Realitätsbezug. Seit mehreren Jahren wagt es eine Theatergruppe aus Rio de Janeiro sogar, just in Armenvierteln vor Ostern einen schwarzen Christus zu zeigen, der vom organisierten Verbrechen auf einem Autoreifen-Scheiterhaufen sadistisch exekutiert wird. Kreuzigungen, so die Schauspieler, gebe es in den Slums nicht, Scheiterhaufen, „Mikrowelle“(Microondas) genannt, seien den Menschen dagegen geläufig.

 „Ein gekreuzigter Christus wäre hier einfach nicht realistisch“, sagt Flavia Cortes.

Adilson Dias, Autor und Regisseur der Aufführung, vergleicht das Leiden von Christus mit jenen Kindern von Rio de Janeiro, die in Slums durch Gewalt umkommen. “Ich prangere den dortigen Genozid an, man muß etwas dagegen tun.”

Dias war selber Straßenkind, entging nur per Zufall einem  Massaker.

Auch andere brasilianische Künstler sehen angesichts der grauenhaften Menschenrechtsverletzungen des Slum-Parallelstaats biblische Bezüge. Der Musiker und Poet Marcelo Yuka aus Rio, von neun Schüssen getroffen, seither an den Rollstuhl gefesselt,  beschreibt auf einer CD die Gefühle der Slumbewohner, wenn ihnen der Geruch von „Microondas“-Scheiterhaufen in die Nase steigt. Und der preisgekrönte Rio-Fotograf Rogerio Reis schuf eine „Microondas“-Bilderserie, die man sich im „Museum für europäische Fotokunst“ in Paris ansehen kann.

„Aus Empörung über diese Akte der Barbarei, diesen unglaublichen Terror habe ich die Fotoinstallation geschaffen – eine Art von engagierter Kunst. Dass da willkürlich Menschen gefoltert, außergerichtlich zum Tode verurteilt und schließlich verbrannt werden – das darf man doch nicht hinnehmen. Ein enger Freund von mir, der brasilianische Fernsehjournalist Tim Lopes, erlitt dieses Schicksal, ist eines der vielen Opfer“, sagt Reis. „Diese Akte der Barbarei sind ein solcher Rückschritt im zivilisatorischen Prozess, dass viele Leute den Tatsachen nicht ins Auge sehen, dies alles nicht wahrhaben wollen. Ich sehe da auch viel Scheinheiligkeit.“

Murilo de Carvalho, Mitglied der brasilianischen Dichterakademie: »Die Existenz des organisierten Verbrechens in den Slums blockiert die Politisierung der Bewohner, hält sie ruhig, verhindert eine Rebellion, Protestaktionen jeder Art.“ 

Bei der Berlinale 2008 gewinnt der brasilianische Spielfilm“ Tropa de Elite“ den Silbernen Bären – zu den Schlüsselszenen zählt ein Scheiterhaufen in Rio.

Beim Drehen in einem Hangslum schauen Dutzende von Banditen zu, geben Ratschläge.”Pò, der Typ stirbt nicht so, der schreit viel mehr”, sagt einer zu den Schauspielern. Die halten sich an die Gangster-Tips.

Wenn in der Weltkulturerbe-Barockstadt Ouro Preto an Karfreitag die katholische Jugendpastoral ihre Interpretation vom Leiden und Sterben Jesu aufführt, kommen einem unwillkürlich viele Bilder, Szenen aus den brasilianischen Slums, darunter die Scheiterhaufen der Banditenkommandos, in den Sinn. 

Wer in  Ouro Preto den jungen Menschen  auch beim Proben, gemeinsamen Beten und Meditieren  vor der Barockkirche „Santa Efigenia“ zusieht ,  erfährt auch ihre Motivation. „ Wir wollen eine gerechtere, solidarische und friedliche Gesellschaft – ein anderes Brasilien, wir wollen die Dinge hier ändern. Das beginnt in unserer Erzdiözese, wo wir evangelisieren, die Jugend für christliche Werte begeistern wollen. Womit gelänge das besser als mit dem Beispiel Jesu?“

 

 

Brasiliens Prozeß-Farce um das Massaker an offiziell 111 Häftlingen von 1992

Katholische Gefangenseelsorge: „Weiter Blutbäder  in den Gefängnissen“.

Ungezählte Christen des Tropenlandes sind derzeit wütend und empört – soll das Gerechtigkeit sein? Über 20 Jahre nach dem größten Gefängnis-Massaker der Weltgeschichte bequemt sich die brasilianische Justiz zu einem ersten Teilprozeß, verurteilt 23 von insgesamt 79 angeklagten Militärpolizisten zu jeweils 156 Jahren – wegen der Tötung von 13 Gefangenen. Alle Polizeibeamten waren bisher auf freiem Fuß – und bleiben es  weiter. Bis ihre Berufung durch sämtliche Instanzen beim Obersten Gericht in Brasilia landet, vergehen laut Rechtsexperten mindestens zehn Jahre. Und sollten die Verurteilten dann tatsächlich hinter Gitter kommen, wäre es laut brasilianischen Gesetzen de facto nur für höchstens fünf Jahre.

 Und auch das noch: Erst nach zwanzig Jahren haben die Klagen von Angehörigen der Toten Erfolg, werden jetzt erste Entschädigungen ausgezahlt. Wer großes Pech hatte und an ein sehr unsensibles Gericht appellierte, bekommt nach all dem Erlittenen, dem Verlust des Ehepartners und Vaters der Kinder umgerechnet nur 260 Euro(!), die mit weniger Pech erhalten 26000 Euro, einige mit „Glück“ maximal 65000 Euro. Fast alle anspruchsberechtigten Hinterbliebenen sind Slumbewohner, ein Teil verstarb bereits, viele sind im Katenlabyrinth der über 2600 Elendsviertel allein der Megacity Sao Paulo nicht mehr auffindbar.

Am 2. Oktober 1992  watet der österreichische Priester und Gefangenenseelsorger Günther Zgubic bis zu den Knöcheln im Blut, sieht 160 der von ihm betreuten Häftlinge durch Mpi-Salven zersiebt oder von Polizeihunden zerrissen.

 Zgubic hört von einem brutalen Polizeieinsatz gegen Gefangene der mitten in Sao Paulo gelegenen Anstalt Carandiru, die bei einem Fußballspiel in Streit gerieten, rennt sofort los, ist kurz nach dem Massaker einer der ganz wenigen nicht zum Staatsapparat gehörenden Zeugen, die das ganze Ausmaß des Grauens sehen – bevor eine großangelegte Verschleierungskampagne anläuft, der Tatort gereinigt, „geschönt“ wird. Über 5000 Schuß werden auf die völlig unbewaffneten Häftlinge abgefeuert, bis sämtliche Munition aufgebraucht ist.

Priester Zgubic, der längst nicht bis zu allen Zellen vordringen kann, spricht damals  von über 200 Massaker-Opfern in dem mit mindestens 8000 Häftlingen total überfüllten Gefängnis – liest Tage später die offizielle Totenzahl – 111. Hat er übertrieben?

 Jetzt, im Prozeß, sagt Ex-Häftling Antonio Carlos Dias, Zeuge der Anklage: „Aus einem einzigen Stockwerk sind über 100 Tote abtransportiert worden – die Zahl der Massaker-Opfer war doppelt so hoch. Jene 111 waren doch nur jene Personen, die Familie hatten, regelmäßig Besuch bekamen.“

Offiziell ist von einem blutigen Häftlingsaufstand die Rede, grausamer Abrechnung zwischen verfeindeten bewaffneten Gruppen – ist das harte Vorgehen der Beamten da nicht verständlich? Die Verteidigerin der 23 Verurteilten: „Es war eine legitime Aktion – die Polizisten erfüllten ihre Pflicht, haben absolut nichts zu bereuen!“

Der damalige Carandiru-Sicherheitsdirektor  Moacir dos Santos hält dagegen:“Es gab keine Revolte, nur einen geringen Streit unter Insassen. Wir von der Gefängnisleitung machten mit der Polizei aus, daß zuerst mit den Häftlingen verhandelt wird. Doch die Sondereinheit bricht das Abkommen, dringt ins Gefängnis ein, feuert sofort mit Maschinenpistolen – die meisten Männer werden in ihren Zellen erschossen.“

Wer in dem Gefängnistrakt überlebt, so die Zeugenaussagen, muß die blutigen Leichen der Zellenkameraden heraustragen – und wird hinterher zwecks Ausschaltung lästiger Mitwisser ebenfalls erschossen. Einer entkam:  „Ich sollte zum Schluß noch eine einzelne Leiche heruntertragen und sah, daß es mein Zellenkollege war, der mit mir Massaker-Leichen geschleppt hatte. Da dachte ich, jetzt liquidieren sie mich auch.“

Ein anderer Ex-Häftling vor Gericht:“Um mich zu retten, habe ich mich unter Leichen versteckt – deren Blut rann über meinen Körper.“

Padre Günther Zgubic rechnet wie die gesamte bischöfliche Gefangenenseelsorge mit zügigen Ermittlungen gegen den politisch verantwortlichen Gouverneur,  den Polizeiobersten Ubiratan Guimaraes, der den Einsatz leitete, sowie gegen alle Todesschützen – und mit einem baldigen Prozeß. Doch nichts geschieht – Oberst Guimaraes zieht allen Ernstes mit der Kandidatennummer 111, jener amtlichen Zahl getöteter Häftlinge, in den Wahlkampf, wird Abgeordneter. Als man ihn neun Jahre nach dem Blutbad zu 632 Jahren verurteilt, genießt er parlamentarische Immunität.

2006 sind Seelsorger Zgubic sowie Menschenrechtspriester Julio Lancelotti als Zuhörer im  Gerichtssaal von Sao Paulo – denn Oberst Guimaraes fordert gar die Annullierung seiner Gefängnisstrafe. Undenkbar? Die Richter sprechen ihn tatsächlich frei – entsetzt und bleich teilen Zgubic und Lancelotti den vorm Gerichtsgebäude wartenden Menschenrechtsaktivisten das Ergebnis mit. Als „Lizenz zum Töten“ wird es interpretiert – wer bei den wegen grauenhafter Überfüllung immer häufigeren Häftlingsaufständen drauflosfeuere, Morde begehe, könne mit Straffreiheit rechnen. Denn seit dem Massakerjahr 1992  ist die Zahl der brasilianischen Gefangenen von 90000 auf über eine halbe Million(!) angewachsen.

Aber hatte Ex-Gewerkschaftsführer Lula nach seiner Wahl zum Staatschef nicht Gerechtigkeit, strikte Einhaltung der Gesetze versprochen? Warum kam es während seiner Amtszeit zwischen 2003 und 2010 aber  dennoch nicht zum Prozeß, trotz internationalen Drucks? Ein Blick auf den politischen Kontext spricht Bände: Jener Massakeroberst Guimaraes versteht sich bestens mit den brasilianischen Machteliten,  gehört zur Rechtspartei PTB, die Lula zu seinem Regierungspartner erwählt. Lula vergibt an PTB-Politiker sogar Ministerämter und andere hohe Posten. Einer, der Ex-Offizier, Diktatur-und Folterbefürworter Jair Bolsonaro, wird sogar Mitglied der Ausschüsse für Verteidigung und Außenpolitik, findet das Carandiru-Blutbad völlig in Ordnung und sagt öffentlich gegenüber der Presse:“Ich bin weiterhin der Meinung, daß man die Möglichkeit ungenutzt ließ, dort drinnen tausend zu töten.“ Derzeit ist Bolsonaro Vizechef der Menschenrechtskommission des brasilianischen Parlamentes – schlecht für die Bürgerrechtsbewegung des Tropenlandes.

Der für das Massaker politisch verantwortliche Gouverneur wird nicht mehr angeklagt, Massakeroberst Guimaraes fand ein bizarres Ende: 2006 wird er unter nie geklärten Umständen mutmaßlich von seiner Freundin, einer gewieften Anwältin, aus Eifersucht in der Wohnung erschossen – sie später in einem widerspruchsvollen Gerichtsprozeß „aus Mangel an Beweisen“ freigesprochen.

Das Blutbad und der jahrelange Kampf für eine Bestrafung aller Schuldigen hat den Mitgliedern der katholischen Gefangenenseelsorge nur zu oft den Schlaf geraubt – doch jetzt, nach den ersten Urteilen, empfinden sie keinerlei Genugtuung. Denn ob, wie angekündigt, die restlichen 56 Todesschützen  im Dezember tatsächlich vor Gericht gestellt werden, bleibt abzuwarten. Was die „Pastoral Carceraria“ am meisten bedrückt: „Die Massaker in den Gefängnissen,  auf den Straßen gehen auch heute, mit Wissen des Staates weiter“, heißt es in ihrer Erklärung.

Das Großgefängnis Carandiru, mitten in Sao Paulo, wurde abgerissen – die Häftlinge verlegte man in zahlreiche kleinere Anstalten weit im Hinterland des Teilstaats – wo es für die Gefangenenseelsorge viel schwieriger ist, Zutritt und Informationen zu erhalten. „Was heute in diesen Gefängnissen mit über 200000 Häftlingen geschieht, weiß man nicht“, schreibt nicht zufällig „Folha de Sao Paulo“, größte Qualitätszeitung des Teilstaats.

Padre Lancelotti, der in Sao Paulo zugleich das weltweit einzige bischöfliche Vikariat für das Heer der Obdachlosen leitet, hält sein Engagement für die Menschenrechte trotz der Rückschläge und Niederlagen nicht für vergebens: ”Es ist ein Akt des Widerstands und der Hoffnung, daß die Gerechtigkeit eines Tages siegen wird. Ich glaube, es ist uns gelungen, wenigstens einigen Menschen unsere Position zu verdeutlichen. Wir wissen, daß unsere Arbeit weiterhin sehr schwierig und aufreibend sein wird. ” Auch Lancelotti wirkt unter Lebensgefahr, erhält Morddrohungen, war bereits Ziel von Anschlägen.

 

Größte Kirche des Landes eingeweiht – für 100000 Gläubige(2012)

„Santuario Theotokos – Mae de Deus“

Seit über einem Jahrzehnt stecken Franziskanerbischof Fernando Figueiredo und Padre Marcelo Rossi  in der Diözese Santo Amaro von Sao Paulo in einem glücklichen „Dilemma“: Alle paar Jahre müssen immer größere Lagerhallen angemietet werden, weil der Zustrom von Gläubigen aus allen Landesteilen zu den Gottesdiensten direkt beängstigend zunahm. In die letzte Halle passen 15000 – doch nur zu oft stehen draußen noch einmal doppelt so viele. Endlich vorbei – fröhlich, erleichtert, dankbar feiern gleich über 100000 letztes Wochenende einmalig enthusiastisch den Einzug in die nunmehr größte katholische Kirche Brasiliens. Über 20000 haben Platz unter dem blauen Kirchendach – doch weil der gewaltige Bau dahinter offen ist, können noch einmal mindestens 80000 Gläubige ebenfalls am Gottesdienst teilnehmen, haben freien Blick auf den Altar, wird die Messe zudem auf Großleinwände übertragen. Zur Einweihung des „Heiligtums Theotokos – Mutter Gottes“, wie die Kirchenanlage mit vollem Namen heißt,  strömen indessen weit mehr als jene über 100000:  Eine angrenzende breite Avenida zur weltbekannten Formel-Eins-Rennstrecke, auf der Padre Rossi schon einmal für drei Millionen Gläubige eine Messe zelebrierte,  war ebenfalls voller Menschen, mußte für den Verkehr gesperrt werden. Am Hochaltar sah man auch den päpstlichen Nuntius Giovanni d`Aniello, Sao Paulos deutschstämmigen Kardinal Odilo Scherer und Geistliche aus Europa – manche fotografierten unentwegt, um ihren Gemeinden zuhause möglichst anschaulich zeigen zu können, wie lebendig, elektrisierend, ansteckend in dem Tropenland der Glaube gelebt wird.  Gebete und Predigt – und  immer wieder minutenlang  spontane Sprechchöre der Gläubigen über Gott, Jesus, die Einheit der katholischen Kirche. Textsicher und kraftvoll schmettern sie in zwei Stunden über zwei Dutzend religiöse Lieder – so kennt man das aus deutschen Kirchen nun wahrlich nicht. „Geschafft – doch noch nicht ganz“, rufen Bischof Figueiredo und Padre Rossi den Gläubigen zu, „ihr seht, die neue Kathedrale unserer Diözese ist noch längst nicht fertig, es wird noch einige Jahre weitergebaut, bis auch der Außenbereich komplett ist.“ Die Mittel stammen aus Spenden sowie Verkaufserlösen der CDs, DVD, Filme und Bücher von Marcelo Rossi – immerhin der bekannteste, populärste Geistliche Brasiliens, wenn nicht sogar ganz Lateinamerikas. Über ihn und die Diözese Santo Amaro sind in Europa die merkwürdigsten Darstellungen im Umlauf. Befragte brasilianische Gläubige nennen absurd und nicht nachvollziehbar, warum ausgerechnet Rossi, der sehr natürlich wirkt, als Popstar bezeichnet wird – man ihn so mit den künstlichsten, plattesten Figuren des Musikbusiness auf eine Stufe zu stellen versucht. Außerdem heißt es, Rossi sei reich – dabei lebt er einfach, geradezu franziskanisch wie sein Diözesan-Franziskanerbischof Fernando Figueiredo. Er besitzt natürlich weder Villen noch Privatflugzeuge und stellt keinerlei persönlichen Reichtum heraus, wie es bei den Führungsleuten der brasilianischen Wunderheilersekten üblich ist, die selbst in Ländern wie Deutschland gewöhnlich beschönigend als Freikirchen bezeichnet werden. Ein weiterer Vorwurf lautet, bei Figueiredo und Rossi komme die kirchliche Sozialarbeit zu kurz, liege das Schwergewicht auf eitler Medienpräsenz. Dabei ist just das Gegenteil richtig – Sozialprojekte für die vielen umliegenden Slums sind die Stärke der erst 1989 gegründeten Diözese Santo Amaro. Beim Einweihungsgottesdienst stehen in der Menge viele dankbare Gläubige, die Diözese-Kurse für Alphabetisierung und Berufsbildung machten, feste Arbeit fanden, sich aus der Misere befreien konnten. Figueiredo und Rossi sind die seit Jahren klischeehaft wiederholten Vorwürfe längst gewöhnt – der Erfolg dieser Diözese schafft halt viele Neider.

Religionstouristen aus Deutschland, deren Zahl von Jahr zu Jahr zunimmt, haben nunmehr im Teilstaat Sao Paulo gleich zwei hochinteressante Ziele. Denn Brasiliens wichtigster Wallfahrtsort, das Nationalheiligtum Nossa Senhora da Conceição Aparecida mit der Basilika, die rund 45000 Menschen faßt, liegt nur 188 Kilometer von der Megacity entfernt.

 

Wieviele Millionen Dollar scheffeln eigentlich die Sektenbosse?

US-Wirtschaftszeitschrift „Forbes“ mit erstem Ranking der Wunderheiler-Multimillionäre/“Wohlstand ist Gottesgabe“/ Kein Sturm der Entrüstung bei Gläubigen

„The Richest Pastors In Brazil“

In Deutschland heißen sie meist beschönigend “Freikirchen”  – in Brasilien nennt der Volksmund die Wunderheiler-Sektenkirchen dagegen drastisch „Gelddruckmaschinen“,  empört sich mancher über den luxuriösen Lebensstil selbsternannter Apostel und Bischöfe. Nun hat die auf Millionärs-Statistiken spezialisierte US-Zeitschrift „Forbes“ erstmals amtliche Daten von Regierung und Bundespolizei des Tropenlandes durchforstet und eine gut fundierte Hitliste der Sekten-Multimillionäre erstellt.  Bischof Edir Macedo, Chef der weltweit agierenden „Universalkirche vom Reich Gottes“, ist mit 950 Millionen Dollar der Spitzenreiter. Ihm gehört Brasiliens zweitgrößte TV-Station „Rede Record“, mit fast durchweg rein kommerziellem Programm, die 2012 sogar die Exklusiv-Übertragungsrechte der Olympischen Sommerspiele in London kaufte – und daran entsprechend verdiente. Hinzu kommen Musikfirmen, Verlage  – der Privatjet des „Bischofs“ ist 45 Millionen Dollar wert. Macedo, „Brazils Richest Pastor“, hat seine ersten Millionen, wie jetzt die Landesmedien erinnern, just im berühmtesten Stadion der nächsten Fußball-WM 2014, dem „Maracaná“ von Rio de Janeiro verdient – mit spektakulärsten Wunderheilungen. Neue Bildpost war dabei, als Macedo, zuvor Lotterieangestellter, vor den Mikros wild gestikuliert und mit dem Fuß aufstampft, böse Geister und den Satan auffordert, sofort zu verschwinden. „Raus, raus raus“ skandiert die Menge der über 100000, und glaubt, weil es ihr Führer ja sagt, von allen Krankheiten, sogar Krebs, Aids, Blindheit geheilt zu sein. Auf Anweisung Macedos werfen Zehntausende begeistert ihre Brillen auf den Fußballrasen, die säckeweise weggetragen werden. „Wunderheilungen geschehen kontinuierlich in den Tempeln der Universalkirche“, heißt es auf ihrer offiziellen Website. Weil Macedo und seine Manager längst politisch einflußreich zum Regierungslager zählen, Parteien gründeten, Parlamentsabgeordnete und einen Minister stellen, für die Wahl von Staatschef Lula und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff unverzichtbar sind, bleiben selbst Anklagen der Bundesanwaltschaft wegen Scharlatanerie, Bandenbildung, Geldwäsche oder Betrug letztlich folgenlos. Kein Problem, teuerste Top-Anwälte einzuschalten. Ein Bischof zumindest, der laut Polizei mit zwei Pastoren einen 14-jährigen Jungen sexuell mißbraucht und danach lebendig verbrannt hat, sitzt im Gefängnis, wartet auf den Prozeß. In einem Tempel der Universalkirche findet die Polizei gar Mpis und reichlich Munition.

 Nur folgerichtig, daß Valdemiro Santiago 18 Jahre lang als Bischof an der Seite Macedos alle Tricks zum Reichwerden erlernt, dann eine eigene „Freikirche“, die „Weltkirche der Macht Gottes“ aufmacht, sich zum Apostel ernennt – und nun auf der Forbes-Liste mit 220 Millionen Dollar Vermögen den zweiten Platz belegt. „Ich halte es nicht mehr aus, bin an der Grenze, helft mir, meine Brüder“, schluchzt Santiago noch vor wenigen Jahren am Altar. „Ich brauche dringend sieben Millionen Real, damit ich dieses TV-Programm unserer Kirche nicht stoppen muß – bitte zahlt rasch!“ Solche Appelle funktionieren bis heute.  Drei Pastoren Santiagos werden wegen Waffenschmuggels verhaftet, weil sie US-Maschinengewehre für Banditenkommandos von Rio transportierten.

Der „Apostel“ jagt Macedo inzwischen aggressiv die Anhänger ab, nennt ihn gar einen Säufer, einen Verrückten.

Drittreichster ist laut Forbes mit 150 Millionen Dollar der TV-Prediger Silas Malafaia von der „Gottesversammlung“ , gefolgt von Romildo Ribeiro Soares(„Internationale Kirche der Güte Gottes“) mit 125 Millionen Dollar – und dem Ehepaar Estevam und Sonia Hernandes – er „Apostel“ und Ex-Werbemanager, sie Bischöfin. Beide saßen bereits wegen Geldwäsche und Betrug im US-Knast.

Hat die Forbes-Statistik gerade bei den Sektenanhängern, zumeist Arme und Verelendete aus den Slums, einen Sturm der Entrüstung ausgelöst? Schließlich müssen sie monatlich ein Zehntel ihrer mageren Einkünfte an die Sektenkirchen abliefern. Zorn oder Proteste keineswegs.  In den Wunderheilerkirchen wird schließlich die Theologie der Prosperität gepredigt – am überzeugendsten just von Bischof Edir Macedo:“Wer ein üppig-reiches Leben führt, genießt die Segnungen des Herrn – Wohlstand ist eine Gabe Gottes.“ Laut  Religionswissenschaftler Edin Abumanssur in Sao Paulo denken die Anhänger, Gott gab all das meinem Kirchenführer – und wird es mir auch geben. “Unsere religiöse Realität ist völlig anders als in Deutschland – hier existiert eine Art religiöser Markt, auf dem Wirtschaftsunternehmen derartige Kirchen wie ein Produkt anbieten. Da wird heftig und aggressiv um Marktanteile gestritten.“

Absurd überhöhte Gläubigenzahlen

 Alle Multimillionäre sind besonders in Politik und dem TV-Business aktiv, organisieren mit Ausnahme Santiagos den jährlichen Jesusmarsch in der Megacity Sao Paulo, ein Barometer für die Stärke der evangelikalen Sektenkirchen. 2012 feierte man einen angeblichen neuen Teilnehmerrekord – über fünf Millionen! Die größte Qualitätszeitung Brasiliens, Folha de Sao Paulo,  hatte indessen von 71 Statistik-und Umfrageexperten die tatsächliche Zahl ermitteln lassen – kam nur auf  335000 Marschierer. Zur Freude der brasilianischen „Freikirchen“ wurden, wie man per Internetsuche leicht feststellen kann, von  zahlreichen deutschsprachigen Zeitungen nicht die reellen Teilnehmerzahlen  gemeldet, sondern die stark überhöhten der Wunderheilerkirchen, war allen Ernstes von über einer Million die Rede.

 

 

 

 

 

Befreiungstheologen freuen sich über neuen Papst

„Aufatmen in der Kirche“

 Peinliche Rolle des selbsternannten Wortführers Leonardo Boff

Das war nicht zu erwarten: Der neue, von  vielen Medien als konservativ geziehene Papst Franziskus bekommt  just von führenden Befreiungstheologen des größten katholischen Landes sozusagen stehend Beifall. Allen voran die Symbolfigur der „Teologia da Libertacao“, Menschenrechts-Bischof Pedro Casaldaliga, der 1976 mit ansehen muß, wie Diktatur-Militärs den Priester an seiner Seite mit ihm verwechseln, den Padre vor seinen Augen foltern und erschießen.

 „Unsere ganze Kirche atmet auf – wir sind alle tief berührt vom Geist der Evangelisierung, den der Papst ausstrahlt, und von seiner Einfachheit“, sagt Casaldaliga in seinem winzigen Dorfhäuschen, ähnlich einer Kleinbauernkate,  an einem Erdweg des zentralbrasilianischen Sao Felix do Araguaia.  Der Bischof, inzwischen im Ruhestand, lebt bis heute mit den Armen und Verelendeten. Verständlich, daß ihm die Schlichtheit des Jesuiten aus Buenos Aires, seine Seelsorgearbeit und genaue Kenntnis der  Realität sehr imponieren. Wer die Gesellschaft verändern wolle, so Casaldaligas Motto, müsse erst einmal die Wirklichkeit gut kennen. Das gibt er auch jungen Menschen stets mit auf den Weg.

Das Militärregime verleumdet Casaldaliga  als „Bispo comunista“, will den Spanier fünfmal ausweisen – der Papst, damals Paul IV., hat es stets verhindert.

Und Brasiliens befreiungstheologische Jesuiten? Auch sie waren platt, perplex, feiern jetzt ihren „Papa dos pobres“, Papst der Armen. „Der hat Qualität“, sagt Padre und Professor Joao Batista Libanio an der Jesuitenfakultät für Philosophie und Theologie in der Millionenstadt Belo Horizonte. „So wie Casaldaliga war  auch Erzbischof Bergoglio stets bei den Armen.“

Ist es daher ein Papst, der auch der Befreiungstheologie nahesteht? Ja und nein, antwortet Libanio, Franziskus halte es mit der Praxis, nicht mit den Theoretikern, die sich auf Kritik am Kapitalismus konzentrieren.

Dabei  ist schwer zu übersehen: In Chile, Argentinien und Brasilien spricht kaum jemand noch von der Befreiungstheologie, jener klaren Option für die Armen – während sich in Deutschland selbst die theologische Intelligentsia unentwegt den Kopf darüber zerbricht, ob die „Teologia da Libertacao“ am Zuckerhut  nun mausetot ist oder nicht, Benedikt XVI. sie nun haßte, tolerierte, gar mit Feuer und Schwert bekämpfte. Wer sich beispielsweise in der Erzdiözese Sao Paulo des deutschstämmigen Kardinals Odilo Scherer umsieht, umhört, die ungeheuer vielfältige Arbeit der Pastoralen beobachtet, kommt rasch dahinter, wieso die Befreiungstheologie kein Thema mehr ist: Warum noch groß drüber reden, wo sie doch im kirchlichen Alltag längst zum Allernormalsten von der Welt gehört? Selbst Johannes Paul II. hatte sie 1986 in einem Brief an die brasilianischen Bischöfe als „opportun, nützlich und notwendig“ bezeichnet.

Dominikaner Frei Betto in Sao Paulo, Brasiliens wichtigster, landes-und weltweit meistgelesener Befreiungstheologe, dessen Bücher Millionenauflagen erreichen,  belustigt regelrecht, daß selbst in Lateinamerika den meisten Katholiken  garnicht mehr bewußt sei, daß sie Tag für Tag befreiungstheologisch handelten, tief von dieser Richtung inspiriert seien. Frei Betto mit seinem beängstigend großen Ausstoß an Texten, auch für nichtkirchliche Medien in aller Welt, dazu fast ständig auf Achse zu Vorträgen, Diskussionen, Nachwuchs-Schulungen in Gemeinden und katholischen Universitäten, ist bestes Beispiel dafür, wie lebendig die gelegentlich sogar in die Nähe des Vulgärmarxismus gerückte „Teologia da Libertacao“ heute ist. Für ihn manifestiert sie sich besonders in den vielen Pastoralen, ob für Arbeiter, Migranten, Indianer, Gefangene, Heranwachsende, Aids-Infizierte, die Familien. „Die Befreiungstheologie widmet sich weiter den sozialen Problemen, bezieht aber aktuelle Fragestellungen wie die Ökologie stark ein, analysiert den Neoliberalismus, führt einen fruchtbaren Dialog mit den Wissenschaften. Als ich im Diktaturgefängnis eingekerkert war, schickte mir Papst Paul VI. ein Kreuz aus Olivenholz, aus Jerusalem.“

Nur ein paar Schritte aus dem Kloster heraus – und schon stößt der Dominikaner auf das Heer der Obdachlosen Sao Paulos, ein Großteil davon in entsetzlichstem Miserestadium. Nicht zufällig hat daher die Erzdiözese sogar ein eigenes Vikariat für die Bewohner der Straße, das der auch bei deutschen Hilfswerken sehr angesehene Menschenrechtspriester Julio Lancelotti führt. Ich habe den sehr kämpferischen Geistlichen häufig interviewt – das Wort „Befreiungstheologie“ ist dabei nie gefallen.

Aber gab es nicht aufsehenerregende Querelen zwischen dem brasilianischen Befreiungstheologen Leonardo Boff und Kardinal Ratzinger, die sich enorm zuspitzten, als dieser Papst wurde? Kirchengegner, darunter in deutschen Medien, nutzten Boffs infantiles Eindreschen  auf  Benedikt VI. als  hochwillkommene Munition. Doch seit den neunziger Jahren wird  Boff  in Brasilien zunehmend  kritisiert – frühere Anhänger werfen ihm Fehleinschätzungen, intellektuelle Unehrlichkeit und Opportunismus vor.

1992 trat er aus dem Franziskanerorden aus, legte sein Priesteramt nieder. Seit 1981 lebte er indessen bereits mit seiner Privatsekretärin Marcia Miranda, Mutter von sechs Kindern, Frau eines Freundes,  zusammen, die sich erst Ende der 80er Jahre scheiden ließ.

Bei manchen fällt der Groschen erst, als Leonardo Boff im Jahre 2000 öffentlich die Ausbreitung der evangelikalen, religiös-fundamentalistischen Wunderheilersekten  vorbehaltlos als „Bereicherung“ begrüßt, weil er für jede Art von Vielfalt sei. Sektenführer Edir Macedo beispielsweise besitzt ein Privatvermögen von 950 Millionen Dollar –   das  US-Wirtschaftsmagazin „Forbes“ veröffentlichte ein Ranking der brasilianischen Sekten-Multimillionäre.

Nicht einmal der angesehene Universitätstheologe  Clodovis Boff stellt sich an die Seite seines Bruders,  unterstützt jedoch die Position von Benedikt VI.,der bereits als Kardinal das essentielle Projekt der Befreiungstheologei verteidigt habe –  nämlich die Verpflichtung gegenüber den Armen als Konsequenz aus dem Glauben. Wie Benedikt VI. kritisiert Clodovis Boff den marxistischen Einfluß. Und sagt zu den Maßnahmen Ratzingers gegen Befreiungstheologen wie seinen Bruder:”Er(Ratzinger) brachte die Essenz der Kirche zum Ausdruck, die nicht in Verhandlungen eintreten kann, wenn es sich um den Kern des Glaubens handelt. Wenn jemand etwas abweichend von diesem Glauben predigt, schließt er sich selbst aus der Kirche aus.”

Die Kirche deklariere, wenn sich jemand aus der Gemeinde der Gläubigen ausschließe, weil er beginne, einen anderen Glauben zu lehren. Clodovis Boff betonte, er sei von Anfang an gegen die gängige Befreiungstheologie gewesen und habe stets klargestellt,wie wichtig es sei, Christus als Fundament aller Theologie zu definieren. “Im hegemonialen Diskurs der Befreiungstheologie bemerkte ich indessen, daß dieser Glaube in Christus lediglich an zweiter Stelle erschien. Ich dachte, das würde sich mit der Zeit korrigieren. Doch das geschah nicht.”  Alle Ideologien, darunter Liberalismus und Neoliberalismus,  hätten heute  ihre Glaubwürdigkeit verloren. “Wer hat noch etwas mitzuteilen? Die Religionen – und vor allem in der westlichen Welt, die katholische Kirche.”

Leonardo Boff war sogar  zum Aktivisten des nicht selten als links eingestuften Präsidenten Lula und seiner Arbeiterpartei PT geworden, verteidigte diese selbst dann noch, als sie tief im kriminellen Korruptionssumpf steckte. Inzwischen verurteilte das Oberste Gericht Brasiliens einen beträchtlichen Teil  der damaligen Regierungs-und Parteispitze u.a. wegen Bandenbildung und aktiver Korruption zu Gefängnisstrafen. Solche Machenschaften hatte Brasiliens Bischofskonferenz bereits vor Lulas Amtsantritt vorausgesagt, während Boff auf seiner Linie beharrte. Und  Benedikt VI. als Geißel, Krankheit, Pest titulierte, der katholischen Kirche „totalitäre Ideologie und mittelalterliche Strukturen“ vorwarf.

Kurioserweise gelingt es dem sehr medienerfahrenen Boff in Mitteleuropa bis heute, sich erfolgreich als Fahnenträger, Hauptfigur und Märtyrer der Befreiungstheologie aufzuspielen.

Zur Papstwahl äußerte sich Boff  vorhersehbar:“Jesus wurde der Zutritt zum Konklave der Kardinäle versperrt“, überschrieb er einen Medientext – in einem zweiten wird den beiden Vorgängern von Papst Franziskus  „monarchisches und absolutistisches“ Regieren vorgeworfen. Der neue, so Boff, könnte als „Papa buono“, als ein guter Papst, verlorene Glaubwürdigkeit zurückgewinnen. Nicht zufällig meinen daher brasilianische Theologen, daß Boff selbst mit 75 schlichtweg die Dynamik, Entwicklung und Komplexität der katholischen Kirche immer noch nicht begriffen hat.

 

„Brasiliens Strafvollzug ist purer Wahnsinn!“

Österreichischer Pfarrer und Gefangenenseelsorger Günther Zgubic:  In Brasilien weiter Folter in allen Varianten

„Eine deutsche Frau wurde unglaublich mit Elektroschocks kaputtgemacht –  psychisch, nervlich zerstört“

Ist Pfarrer Zgubic sprichwörtlich jener Rufer in der Wüste, dessen Botschaft nur zu viele ablehnen, um sich nicht von sozialromantischen Klischeevorstellungen über das Land von Karneval, Samba und Traumstränden trennen zu müssen? Wie hält der Mann das psychisch aus, fast täglich in der Hölle auf Erden Seelsorge zu leisten, die Leiden von über einer halben Million Gefangenen im Blick zu haben, unermüdlich für deren Rechte zu streiten, Augenzeuge so vieler nie gesühnter Blutbäder an Häftlingen zu sein? Und immer wieder einstecken zu müssen, daß offenbar in jener Weltregion, aus der er stammt, die meisten denken: Na und – mir doch egal! Zgubic wohnt, arbeitet in einem Armenviertel der Megacity Sao Paulo, bekommt Morddrohungen, wirkt wegen der neuesten Ereignisse noch angespannter, nervöser als sonst. Jeden Moment kann eine neue Welle blutiger Häftlingsrevolten in Brasiliens Gefängnissen losbrechen, die er mit nazistischen Konzentrationslagern vergleicht. „Was da drinnen passiert, ist Folter – eine deutsche Frau wurde unglaublich mit Elektroschocks kaputtgemacht, psychisch zerstört. Leute werden mit Schlagstöcken zusammengehauen, man schiebt Nadeln unter die Fingernägel, preßt Menschen mit dem Kopf in Wassereimer. Bis die Polizei merkt, er könnte sterben. Und dann wird ihm eine Chance gegeben: Willst du sprechen oder nicht?“ Laut Pfarrer Zgubic werden auf diese Weise viele zu Geständnissen gezwungen, bekennen sich viele unter der Folter zu Verbrechen, die sie gar nicht begangen haben. „Andere werden solange traktiert, bis sie falsche Zeugenaussagen machen, völlig Unschuldige schwer belasten.“ Das nenne sich dann gute schnelle Aufklärungsarbeit… Die totale Überfüllung der Haftanstalten nennt Zgubic „strukturelle Folter“, was endlich auch die UNO anerkannt habe. „Überfüllung heißt, weniger Essen und weniger ärztliche Betreuung – die Leute beginnen durchzudrehen, starten riesige Rebellionen.“ Wer dort lebend herauskommt, ist traumatisiert, hat nichts mehr zu verlieren. „Oft höre ich dann: Ein paar Polizisten umzulegen, ist das erste, was wir machen.“ In der Tat wird in Brasilien alle paar Stunden ein Polizeibeamter ermordet. Gerade hat das UNO-Hochkomissariat für Menschenrechte erneut Folter und Rassismus, Straflosigkeit und erschreckende Sozialkontraste in Brasilien angeprangert –  Basisinformationen und Statistiken des Berichts stammen größtenteils von Pfarrer Zgubic, dem Leiter der nationalen Seelsorge, und seinen Mitarbeitern. Zynisch-ironisch hat ausgerechnet Staatschef Luis Inacio Lula da Silva auf überraschende Weise die Kritik von Zgubic, der UNO vollauf bestätigt. „Wenn man durch Zusammenschlagen die Leute erziehen könnte, dann müßte der Bandit das Gefängnis eigentlich als Heiliger verlassen“, rief Lula bei einer Kundgebung in Rio aus. Die oberste Autorität der größten Demokratie Lateinamerikas redet über Verbrechen des Staates, als sei es die natürlichste Sache der Welt, empörten sich Menschenrechtsaktivisten. In Deutschland, Österreich gäbe es bei derartigen Präsidentenworten einen öffentlichen Aufschrei – kurz darauf zeigt eine repräsentative Meinungsumfrage, warum dieser in Brasilien ausbleibt: Jeder vierte Brasilianer würde Verdächtige foltern, falls er Polizist wäre. Unter Beserverdienenden und Hochschulabsolventen sind sogar mehr als vierzig Prozent erklärte Folterbefürworter. Kein harter Schlag mehr für Zgubic und die „Christliche Aktion zur Abschaffung der Folter“(ACAT), mit Sitz in Frankreich. Seit Jahrzehnten wissen sie um diese traurigen Tatsachen. „In Brasilien“, so Sao Paulos angesehener Menschenrechtspriester Julio Lancelotti bereits vor Jahren, „existiert eine Sklavenhalterkultur und eine Kultur der Folter – ein Großteil der Brasilianer befürwortet Torturen, die Todesstrafe, die Herabsenkung des Strafmündigkeitsalters auf sechzehn, teils sogar vierzehn Jahre.“ Für die Kirche ist dies eine enorme Herausforderung – Überzeugungsarbeit, das Vermitteln christlicher Werte ähneln nur zu oft dem Schwimmen gegen den Strom. Denn auch manche Sicherheitsexperten äußern Verständnis für die Folter-Befürworter: Daß 26 Prozent durchaus Verdächtige foltern würden, reflektiere den Grad der Verzweiflung in einem Land mit jährlich über fünfzigtausend Morden, von denen nicht einmal fünf Prozent aufgeklärt würden. In Rio de Janeiro oder Sao Paulo ist der größte Teil des Stadtgebiets besonders für Ausländer ein No-Go-Area – nur zu viele, die sich dennoch in die gewaltgeprägte Slumperipherie wagten, haben dies mit dem Leben bezahlt.

Für die allermeisten europäischen Menschenrechtsorganisationen ist keineswegs ein Thema, daß in Brasilien häufig Frauen und Mädchen in überfüllte Männerzellen gesperrt und dann massenhaft vergewaltigt werden. Zgubic nennt neueste Fälle – all dies habe Tradition. „Wir wissen, daß beispielsweise im neunzehnten Jahrhundert Frauen und Männer, also Arme, Bettler und Arbeitslose in den Gefängnissen zusammengepfercht wurden.“ Zgubic bringt auf, daß auch heute besonders die armen Brasilianer kriminalisiert werden:“Wegen Bagatelldelikten, etwa des Diebstahls von umgerechnet drei Euro oder von ein paar Tellern im Supermarkt kommen nach wie vor Menschen jahrelang hinter Gitter.“ Aber Brasilien ist doch ein reiches Land, immerhin die zehntgrößte Wirtschaftsnation des Erdballs? Zgubic weist auf extreme, perverse Sozialkontraste, die auch von der UNO erneut verurteilt worden waren. „Armut wird vom Staat und von den Oberschichten produziert, die sich nie für einen Sozialstaat geöffnet haben – schuld ist ein Wirtschafts-und Konsumsystem, für das ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung schlicht überflüssig ist.“

 Sao Paulo, die reichste lateinamerikanische Metropole, wird wegen der über tausend deutschen Unternehmen auch „größte deutsche Industriestadt“ genannt. Kaum zu fassen, dort auf unzählige Elendshütten und Lepra wie in Kalkutta zu treffen. „Für Gesundheit, Schulwesen, für sozialpolitische Programme in den Slums, fürs Justizwesen sind keine Mittel da. Man fragt sich dann, wer ist für all das verantwortlich?“

Brasiliens katholische Kirche protestiert dagegen, daß in der Stadt Sao Carlos bei Sao Paulo seit 1980 eine Straße nach dem berüchtigten Diktatur-Folterer Sergio Fernando Paranhos Fleury benannt ist, der  eine Todesschwadron gegründet, Oppositionelle ermordet, im Auftrage eines großen Drogenbosses sogar Konkurrenten liquidiert habe. 

 Zahlreiche Brasilianer heißen ganz amtlich Hitler, Himmler, Eichmann –  Straßen, Plätze und selbst ein Plenarsaal des Nationalkongresses sind nach Filinto Müller, dem von der GESTAPO ausgebildeten Chef der Politischen Polizei des Judenhassers und Diktators Getulio Vargas benannt. Die Prachtausgabe von Adolf Hitlers „Mein Kampf“, hier „Minha Luta“, ist ein Bestseller. Und Staatschef Lula machte bereits als Gewerkschaftsführer zur Diktaturzeit keinen Hehl aus gewissen Sympathien für Hitler:“Er irrte zwar, hatte aber etwas, das ich an einem Manne bewundere – dieses Feuer, sich einzubringen, um etwas zu erreichen. Was ich bewundere, ist die Veranlagung, Bereitschaft, Hingabe.“

Kein Zweifel, ein schwieriges Umfeld für kirchliche Bürgerrechtler wie Padre Zgubic. Immer wieder hatte er an Regierungen und Menschenrechtsorganisationen Europas appelliert, sich für die gravierenden  Zustände in Brasilien zu sensibilisieren. Für die Fußball-WM 2006 in Deutschland hatte Zgubic angeregt, beispielsweise mit Spruchbändern auf die Lage im Lande des Favoriten Brasilien hinzuweisen. Auch da war er Rufer in der Wüste…

 

„Mehr Tote durch Feuerwaffen als im Irakkrieg – Schluß mit dem Gemetzel am Zuckerhut!“

Brasiliens katholische Kirche setzte Referendum über Waffenverbot durch/ Über fünfzigtausend Morde jährlich im Tropenland

„Wir haben es geschafft!“ – Odilo Scherer aus Sao Paulo, deutschstämmiger Generalsekretär der brasilianischen Bischofskonferenz,  ist überglücklich. Die letzten Wochen rennt er den Kongreßabgeordneten in Brasilia regelrecht die Kabinettstüren ein, liest ihnen die Leviten:“Leute, beschließt endlich das Referendum, damit das Morden aufhört – wir haben mehr Gewalttote als in den aktuellen Kriegsherden der Welt!“ Und weil auch das zunächst nichts hilft, postieren sich Scherer und andere Bischöfe mit Mahnwachen rund um die Uhr vorm Kongreßportal. Das wirkt – jetzt ist der Volksentscheid beschlossene Sache, schon im Oktober m ü s s e n über 120 Millionen Brasilianer abstimmen, in dem Tropenland herrscht Pflichtwahl. Die Chancen, daß dann der Handel mit Kleinwaffen wie Revolvern, Pistolen, Gewehren und der zugehörigen Munition völlig verboten wird, stehen gut – in Sao Paulo, drittgrößte Stadt der Welt, sind laut Umfragen immerhin 83 Prozent dafür. Auch der Privatbesitz von Schießeisen wird dann strafbar sein. „Waffenhandel ist nicht ethisch, nicht christlich –  viele verdienen daran, werden steinreich – sind mitschuldig an Morden, an Tod und Trauer.“ Probleme zwischen den Menschen müßten durch Dialog, und nicht durch Gewalt gelöst werden. Bischof Scherer berührt damit ein ganz heißes Eisen – denn der häufige Schußwaffengebrauch hat in dem Macho-Land zuallererst soziokulturelle Gründe. Nur zu vielen Brasilianern sitzt der Revolver regelrecht locker. Ex-Minister Raul Jungmann, heute progressiver Abgeordneter, zerfetzt sozialromantische Vorstellungen über Brasilien:  „Die Kultur der Gewalt, private Konfliktbewältigung durch brutale Kraft, besonders Waffen, also nicht auf legalem Wege, zeigt deutlich, daß wir uns noch auf dem Niveau der Barbarei befinden.“ Polizeiinspektor Luis Quaresma in Rio de Janeiro zur Bildpost:“Nur zu oft greifen Leute hitzköpfig bei banalen Streitereien, im Verkehr oder zwischen Nachbarn, gleich zur Waffe.“ Und Schüler feuern gar im Unterricht auf Kontrahenten. Ein Mercedes-Arbeiter aus Sao Paulo:“Wenn einer in der Kneipe Streit mit jemandem zum Beispiel über Frauen hat, ist es doch ganz natürlich, daß er nach Hause rennt und den Revolver holt.“

–Ehrenmorde, Waffenkult, Machismus—

Ebenso wie in islamischen Ländern sind auch in Brasilien Ehrenmorde häufig.  Alles übertrieben? Die junge Französin Josephine Bourgois arbeitet gleich gegenüber dem Kardinalspalast der Zuckerhutstadt in einem uralten Kolonialhaus für  „Viva Rio“. Diese regierungsunabhängige Organisation hatte die Idee zu dem Referendum, ist engster Partner der Kirche im Kampf gegen die Gewalt, den Waffenkult.  „Streiten sich Ehepartner, Nachbarn, Kneipengäste oder Fußballfans, wird häufig gleich geschossen, gibt es Tote. Wären keine Waffen im Umlauf, käme es nicht dazu“, sagt Josephine Bourgois. „Man lebt hier mit dem ständigen Risiko, getötet zu werden, ist deshalb immer unter Streß, in Spannung, fühlt sich bedroht – für mich als Französin eine völlig neue Erfahrung. Meine Bekannten in Europa haben nicht die geringste Idee vom Ausmaß der Gewalt, diesem Gewaltklima,  in dem ich lebe.“ Bei Viva Rio konzipiert sie seit vier Jahren Projekte und Aufklärungskampagnen mit, trägt Fakten zusammen: In keinem Land der Erde werden jährlich so viele Menschen durch Feuerwaffen getötet wie in Brasilien –  etwa vierzigtausend – das sind laut UNO auch mehr als beispielsweise im Irak. Hauptopfer sind junge Männer – doch es sterben in Brasilien auch mehr Kinder durch solche Waffen als in Kriegsländern. Täglich werden weit über hundert Menschen erschossen, die Mordrate ist sage und schreibe etwa dreißigmal höher als in Deutschland oder Österreich. „In die Hospitäler werden ein Drittel der Personen wegen Schußwunden eingeliefert, größtenteils Kinder!“ Über zwanzig Millionen Revolver, Gewehre und Maschinenpistolen sind meist illegal in Privat-bzw. Banditenhand. Doch wer entwaffnet die Kriminellen? Ebenfalls ein heißes Eisen. „Viva Rio“ fordert von der Regierung energische Schritte gegen die hochgerüsteten Milizen des organisierten Verbrechens. Sie sind mit eingeschmuggelten Maschinengewehren und Granatwerfern bewaffnet, herrschen über die Großstadtslums, terrorisieren dort die Armen. Tagtäglich ermorden die Milizen bei Blutbädern Mißliebige, die sich ihrem neofeudalen Normendiktat widersetzen. Menschen werden sogar zur Abschreckung lebendig verbrannt.

–Terror in London – und Rio—

 „Der jüngste Terroranschlag von London schockiert“, schreibt Brasiliens auflagenstarke Zeitung „O Globo“, „doch Terrorismus und Barbarei von Rio de Janeiro sind bereits Routine, stoßen auf Indifferenz, interessieren die Weltöffentlichkeit kaum.“ Nicht zufällig spricht Brasiliens Kirche von „unerklärtem Bürgerkrieg“.

 Man stelle sich auch das in Deutschland vor – die Stadtautobahnen von Berlin, München oder Frankfurt/Main werden immer wieder wegen Gefechten mit Banditenmilizen gesperrt. In Rio de Janeiro ist es inzwischen alltäglich. Den Gangstern gelang jetzt offenbar zum ersten Mal, sogar einen Armeehubschrauber abzuschießen. Er explodierte Ende Juni in einer Universität nahe der Copacabana, nur durch Zufall wurde keiner der 1200 anwesenden Studenten getötet. „Viva Rio“ beklagt: “Leider ist die öffentliche Sicherheit, die Verbrechensbekämpfung derzeit tatsächlich keine Priorität der Regierung von Staatschef Lula – vorgesehene Mittel wurden auf ein Minimum gekürzt.

Deshalb herrscht in Brasilien nahezu Straflosigkeit – nur etwa acht Prozent der Morde werden aufgeklärt, was nicht heißt, daß man die Täter auch faßt, aburteilt. An den Slumperipherien liegt die Aufklärungsrate gar bei nur einem einzigen Prozent.

–Banditen-Mpis und Bazookas aus Europa—bewaffnete Schüler–

Alle paar Tage werden Granatwerfer aus Schweden,  Maschinengewehre, Pistolen aus den USA und europäischen Ländern bei Banditenmilizen beschlagnahmt. Josephine Bourgois: “Die sogenannten Langwaffen aus den USA sind hier auf dem illegalen Waffenmarkt die Nummer Eins. Wir von Viva Rio haben deshalb im Gouverneurspalast ausländische Waffen den Diplomaten der Herstellerländer übergeben – darunter die USA, Österreich, Deutschland, Frankreich, Belgien, Spanien, Italien. Und wir haben diese Diplomaten gefragt – wie konnten solche Waffen aus euren Ländern hier in die Hände von Verbrechern gelangen? Unternehmen sie was dagegen!“

Ein hartnäckiger Gegner des Referendums – die nationale und internationale Waffenlobby. Im Parlament habe sie ihre Leute in der sogenannten Schuß-Fraktion, finanziere denen Wahlkämpfe. Auf dem amerikanischen Kontinent ist Brasilien nach den USA der zweitgrößte Waffenproduzent, ein großer Exporteur. Und 75 Prozent der bei Morden benutzten Waffen sind „Made in Brazil“. „Der Volksentscheid ist weltweit der erste – wir wollen damit der Menschheit ein Beispiel geben, sagt Viva-Rio-Mitarbeiterin Ilona de Carvalho. Wenn Brasilien den Verkauf von Waffen und Munition an  Zivilisten verbietet, könnten viele andere Länder das gleiche tun – und das beunruhigt die internationale Waffenbranche natürlich stark. Jetzt will sie unser Image ankratzen, uns verleumden, die Angst der Leute vor Gewaltverbrechen ausnutzen.“ Daß der Staat, die Lula-Regierung bislang unfähig sind, das Leben der Bürger zu schützen, spielt den Referendumsgegnern natürlich in die Hände. UNESCO-Botschafter Werthein beklagt in Brasilia: “Geradezu unglaublich, welche Menge von Feuerwaffen in den brasilianischen Schulen zirkuliert.“ Dies zeige, wie leicht auch Kinder und Jugendliche an solche Waffen herankämen. „Unterricht mit Qualität ist unmöglich, wenn in den Schulen ein Klima der Furcht und des Schreckens herrscht.“ Schießereien, Morde in Schulen sind längst nichts besonderes mehr.

–Kampagne zur Volksentwaffnung –

Auf der Terrasse bei „Viva Rio“ schlägt Luis Carlos Silveira mit dem Hammer auf einem Amboß mehrere Revolver in Stücke. „Jedermann kann bei uns Waffen loswerden – über fünftausend habe ich schon zertrümmert – ist das nicht ein schöner Krach?“ Auf Initiative von Bischofskonferenz und „Viva Rio“ läuft eine landesweite Kampagne zur Volksentwaffnung –  über vierhunderttausend Schießeisen wurden bisher freiwillig abgegeben, sogar in den katholischen Kirchen. Viel zu wenig – bei zwanzig Millionen in Privatbesitz.  Mit den Polizeiinspektoren Luis Quaresma und Andrè Camelo – Monatsgehalt umgerechnet 280 Euro – fahre ich in Rio zu Leuten, die sich von ihren Waffen trennen wollen – eine risikoreiche Aktion, mulmige Gefühle. Beide Beamten haben Mpis griffbereit, großkalibrige österreichische Glock-Pistolen auf dem Schoß, sind in Zivil. Der Wagen trägt keine Polizeikennzeichen – nur nicht die Aufmerksamkeit von Banditenmilizen erregen, keine Attacken provozieren. Zwei große Umhängetaschen sind vollgestopft mit Mpi-Magazinen – Quaresma und Camelo haben sich für größere Schießereien gerüstet. Sämtliche Adressen liegen nur in den besseren Vierteln, die abgegebenen Revolver und Flinten sind meist uralt. In die sogenannte „Faixa da Gaza“, den Gazastreifen Rios, eine Slumregion der Nordzone, fahren wir nicht. „Niemand aus den Elendsvierteln liefert eine Knarre ab – die Banditenmilizen würden sowas nie zulassen.“  An der Copacabana stoppt zufällig ein Kleinwagen neben uns – die Beamten springen sofort aus dem Auto, richten ihre Pistolen auf die zwielichtig wirkenden Insassen, tasten sie ab. Gottseidank keine Kriminellen. „Jeden Tag werden Kollegen von uns erschossen, wir müssen so präventiv handeln, oder sind irgendwann geliefert – noch dazu mit dem Auto voller Waffen!“

 

„Das ist hier wie im Irak“

Slumbewohner Rios appellieren wegen Banditenterror an  Papst Johannes Paul den Zweiten

Absurd, kaum zu begreifen: Unten, an den schönsten Stränden der Zuckerhutmetropole, aalen sich die Betuchten der Nobelviertel, baden, flirten nach Herzenslust – doch oben im scheinbar idyllisch gelegenen Hangslum Vidigal, nur ein, zwei Kilometer entfernt, leben 37000 Menschen in Angst, werden terrorisiert. „Das ist hier wie im Irak“, sagt Luiz Carlos da Silva, 38, Präsident der Bewohnerassoziation, „eine komplexe, komplizierte Situation.“ Denn eine hochbewaffnete Banditenmiliz beherrscht Vidigal und will den von einer gegnerischen Miliz dominierten, riesigen Nachbarslum Rocinha erobern. Die dortigen Verbrecherkommandos haben dasselbe mit Vidigal vor – deshalb regelmäßig Feuergefechte, ratternde Mpis, Tote, Verwundete. „Sie warfen eine Handgranate in eine Kate – alle tot. An einer Stelle gleich fünf, sechs Katen durch Granaten dem Erdboden gleichgemacht.“  Beide Fraktionen des organisierten Verbrechens sind mit der Politik, den Eliten liiert, beliefern die Schicken und Reichen der angrenzenden Upperclass-Viertel Ipanema, Leblon und Sao Conrado mit harten Drogen. Ein superprofitables Geschäft für wenige – der pure Horror für die unbeteiligten Slumbewohner. Wenn geschossen wird, so Bewohnerpräsident Silva, können die Leute nicht aus ihrer Hütte, Kate, nicht zur Arbeit. „Viele sind deshalb gefeuert worden, über die Hälfte ist ohne Job.“ Denn wer stellt schon jemanden aus einer umkämpften Stadtregion ein, die grauenhafte Schlagzeilen macht. „Alle sind angespannt, gestreßt, in Schrecken –  viele drehen durch, werden verrückt“, so Silvas Sekretär Antonio Paiva. „In Gefechtspausen kaufen sich die Leute schnell was zu essen, verbarrikadieren sich rasch wieder in ihren Behausungen – so ist es im Irak doch auch!“ Doch wer keine Arbeit habe, leide Hunger. In Vidigal kommt eine mehrköpfige Familie durch Gelegenheitsarbeiten monatlich ohnehin nur auf höchstens  umgerechnet  80 Euro.

„Die Regierung hat uns im Stich gelassen – deshalb appellierten wir an den Papst“, so Bewohnerpräsident Silva. „Wir brauchen Hilfe jeder Art, Sozialprojekte, ordentliche Bildung für die Kinder!“ Antonio Braga fügt hinzu:“Weil das einfache Volk in Brasilien keine richtige Schulbildung hat, machen die Politiker, was sie wollen – für die ist das wunderbar, so brauchen sie es. Ungebildete leben eigentlich wie Sklaven.“  

Trotz der Gesundheitsprobleme des Papstes hofft Silva, Vater von fünf Kindern, auf eine baldige positive Reaktion. „Wenn er meinen Brief liest, wird er sich an den brasilianischen Staatschef Lula wenden, damit der was für uns tut, die Autoritäten sich um uns kümmern. Als Johannes Paul der Zweite uns 1980 besuchte, war ich immer an seiner Seite.“ Der Papst stieg damals zur Diktaturzeit,  zum Unwillen der Generäle, spontan ins steile Gassenlabyrinth hinauf, betete mit der ganzen Gemeinde, sprach allen Mut zu, im Kampf für Gerechtigkeit nicht nachzulassen –  wie Jesus Christus. Doch ausgerechnet nach Brasiliens Rückkehr zur Demokratie fielen die Slumbewohner unter das Joch weit brutalerer Diktatoren. Auch in Vidigal gilt wie in den anderen 600 Rio-Slums ein neofeudales Normendiktat: Jedermann muß mit den Banditen kooperieren, sich an die häufigen Ausgangssperren,  das „Lei do Silencio“,  Gesetz des Schweigens, zu halten: Zu niemandem, am allerwenigsten zur Polizei, ein Wort über Vorgänge im Hütten-und Katenlabyrinth. Ständig patrouillieren rekrutierte Jugendliche mit umgehängtem NATO-Sturmgewehr oder handlichen israelischen Uzi-Mpis, verbreiten Angst und Schrecken, selbst Kinder werden für Verbrechen angeworben.  Zwecks Einschüchterung immer wieder Exekutionen, drakonische „Strafen“: Vierzehnjährigen Mädchen wurden vor aller Augen die Füße durchschossen, anderen Bewohnern die Ohren abgeschnitten, die Zunge herausgerissen. Wenn sich die Haute Volee von Ipanema und Leblon an ihren Stränden sonnt, hat sie Vidigal zwar direkt vor der Nase – doch das Schicksal der Bewohner rührt die Hochprivilegierten nicht ein bißchen. Daß sich Vidigal deshalb direkt an den Papst wandte, zeugt von Verzweiflung und viel Mut – denn mit barbarischer Rache der Banditenbosse muß gerechnet werden. Eine Bewohnerpräsidentin vom Nachbarslum Rocinha haben sie ermordet. Doch Silva wiegelt ab:“Ein Lebensrisiko? Ich glaube nicht. Andererseits ist hier jeder Job gefährlich.“ Über das Gewaltproblem spricht er nur in Andeutungen, denn das „Gesetz des Schweigens“ gilt auch für ihn. Die katholische Gemeinde Vidigals würde andernfalls die Vertreibung zu riskieren. Denn immer wieder drohen Gangsterkommandos katholischen Geistlichen Rios  mit Erschießung, lassen sie und ihre Mitarbeiter nicht in Slums. Die Bewohnerassoziation plant im nahen Nobelviertel Leblon für März eine Protestdemo, will Menschenrechte und vor allem Frieden für Vidigal fordern. Der Papst wurde ersucht, während dieser „Passeata da Paz“ für die Leute des Slums zu beten, spirituellen Beistand zu geben. 

 

Das Obdachlosen-Massaker und die deutsche Missionarin

Sandra Stalinski, 22,  aus Aschaffenburg hilft in Brasilien den Verelendeten der Straße – ohne sozialromantische Illusionen

Obdachlose in Deutschland – Obdachlose im riesigen Brasilien – überhaupt kein Vergleich. Jene wenigen, die in deutschen Fußgängerzonen, auf Straßen und Plätzen betteln, schlafen, herumhängen, sind gegenüber ihren brasilianischen Schicksalsgenossen geradezu in einer luxuriösen Situation. Niemand käme auf die Idee, an denen von Berlin, Frankfurt oder München Massaker zu verüben, sie lebendig zu verbrennen, gar beim Vorbeifahren aus dem Auto heraus zu erschießen. In Brasilien ist das alltäglich, Sandra Stalinski erlebt es als „Missionarin auf Zeit“ gerade mit. In der reichsten – und gleichzeitig miserabelsten südamerikanischen Metropole Sao Paulo, die man wegen der vielen Zweigunternehmen von VW, Bayer, Mercedes-Benz und anderen Firmen aus „Alemanha“ auch völlig zu Recht „größte deutsche Industriestadt“ nennt. In zwei nächtlichen Attacken schlagen Unbekannte im August mit Eisenstangen sieben schlafende Obdachlose tot, darunter zwei Frauen, eine 47, die andere 54. Weiteren sechs wird ebenfalls der Schädel zertrümmert, sie schweben in Lebensgefahr. Danach fast jeden Tag neue Attacken, weitere Tote, auch in anderen brasilianischen Städten. „Von den Opfern in Sao Paulo habe ich einige gut gekannt, alles hilflose Menschen, die Schwächsten der Schwachen, gezielt ausgesucht. Ich bin deshalb psychisch richtig zusammengebrochen, habe stundenlang geweint. Die Tatorte sind ja immerhin mein Arbeitsbereich. Das Massaker, denke ich,  wurde aus politischen Gründen kurz vor den Kommunalwahlen inszeniert, um es politisch auszuschlachten.“ Denn Sandra Stalinski macht der ganze Medienrummel um den Fall stutzig, die gegenseitigen Anschuldigungen der Politiker. Soviel öffentliche Resonanz sei nicht normal, man hätte alles auch unter den Tisch kehren können.

–„Ich bin kein Mensch, ich bin Müll“—

Wie üblich, wenn es „Sem-Teto“, Obdachlose,  trifft, die häufig von der sehr autoritären, extrem individualistischen Gesellschaft Brasiliens wie Nicht-Menschen betrachtet werden. „Man setzt sie mit Müll gleich. Und das Schlimme ist: Die Obdachlosen sagen selber schon, ich bin kein Mensch, ich bin Müll.“ Um so nötiger ist Seelsorge, die „Missionaria“ Stalinski nicht etwa weit entfernt an der Slumperipherie, sondern sogar mitten in der modernen City, neben dem pompösen Gebäude der lateinamerikanischen Leitbörse und den Großbanken, unweit feiner Manager-Restaurants, leistet. Oder selbst auf den Stufen der Kathedrale, oft gleich unter Gruppen tief verzweifelter,  teils stark betrunkener Obdachloser. Unter all den Menschenmassen quält diese, einsam, ausgestoßen, ausgeschlossen zu sein – um so dankbarer für Hilfe, ein tröstendes Wort, ein Gespräch.

„Auf dem Platz davor sieht man alles – Überfälle, Streit und Tod.“ Denn die krassen, skandalösen Sozialkontraste Brasiliens liegen noch so offen wie zur Sklavenzeit: Manager in feinem Tuch, aufgeputzte Chefsekretärinnen kreuzen in Sao Paulos Innenstadt tagsüber alle paar Schritte Obdachlose, Bettler, Verkrüppelte, gar alte, zerlumpte schwarze Frauen, die sich ächzend vor hochbeladene Lastkarren spannen. Das Massaker geschah just in der trubeligen City – nur zu viele der Privilegierten haben sich an den Anblick jener  rund 16000 Straßenbewohner Sao Paulos, „Moradores da Rua“, schlichtweg gewöhnt, nehmen sie kaum noch wahr, unglaubliche Indifferenz dominiert. In Deutschland gäbe es nach solchen Untaten einen öffentlichen Aufschrei – hier stößt Sandra Stalinkski sogar während eines kleinen Protestmarsches auf offene Abweisung – ihre Flugblätter werden von nicht wenigen Schlipsträger aus Banken, Geschäftshäusern abgelehnt:“Nee, kannste behalten, interessiert mich nicht. Da ist mir die Galle hochgekommen – soviel Ignoranz!“ Über einen Monat nach der Tat ist weiterhin unklar, ob es das Werk von Todesschwadronen, nazistischen Skinheads, gar „soziale Säuberung“ im Auftrage von Geschäftsleuten, Ladenbesitzern war, verübt durch Polizisten, Wachleute. Denn die Obdachlosen „verschmutzen“ das Stadtbild, verrichten ihre Notdurft überall – auch wegen ihnen stinkt es in den brasilianischen Großstädten vielerorts barbarisch nach Urin und Menschenkot.

- Brasilianer viel religiöser als Deutsche—viele Wunderheiler-und Exorzisten-Sekten–

 „Ich habe in Bamberg Theologie studiert, wollte sie in die Tat umsetzen, mit den Schwächsten leben, ganz nahe bei den Menschen sein“, betont Sandra Stalinski, entschied sich deshalb für das in Sao Paulo von einem Steyler Missionar mitgegründete Hilfswerk „Rede Rua“(Netz der Straße) für Obdachlose. Sie arbeitet vorwiegend in einem Nachtasyl für  120 Männer, wird zwangsläufig Expertin in hausgemachter brasilianischer Sozialproblematik, auch brasilianischer Religiosität.  Denn überall stößt sie auf einen ihr völlig neuen Bezug zu Gott:“Die Brasilianer sind viel religiöser als wir Deutschen, leben den Glauben wesentlich emotionaler, feiern Gottesdienste viel gefühlvoller, mit Liedern und Gesten. Man tanzt dort sogar, was ich gleich gar nicht kannte. Auch die Obdachlosen sind religiös und sagen, daß es letztendlich in Gottes Hand liege, ob sie sich aus dieser Situation befreien können. Sie sind fatalistisch, passiv, finden sich mit ihrem Schicksal ab, meinen, daran nichts ändern zu können. Ihre Lage sei scheinbar Gottes Wille. Und so eine Haltung kritisiere, hinterfrage ich natürlich.“  Doch kaum Resonanz, wie die Missionarin verkraften muß. „Mit denen darüber zu reden, ist ganz schwierig, da habe ich eigentlich keine Chance.“  Sie beobachtet zudem, wie sogar direkt vor der Kathedrale tagtäglich zahlreiche Sektenprediger agieren, mit der Bibel in der Hand allen Ernstes wie wild herumspringen. Das  einerseits so moderne Sao Paulo ist auch Zentrum archaischster Wunderheiler-und Exorzisten-Sekten, die man bestenfalls weit im Hinterland vermutet hätte. „Ich empfinde das schockierend, laufe in den Straßen an Hallen vorbei, wo gerade ein Sektenpriester schreit, über den Satan spricht. Manche Obdachlose erzählen von Sekten, haben einen sehr fundamentalistischen Glauben, nehmen die Bibel wortwörtlich. Bei ihnen hat jedes zweite Wort mit Gott zu tun. Auf der Straße, unter den Obdachlosen gibts alle möglichen Religionen, wahnsinnig viele Freikirchen. Wir sind daher in den Projekten von „Rede Rua“ ökumenisch, nicht nach einer bestimmten Religion ausgerichtet, halten keinen rein katholischen Gottesdienst, aber Gebetsstunden ab, feiern natürlich religiöse Feste wie Ostern und Weihnachten. Ganz besonders wichtig für die Bewohner der Straße.“

Die ganze zwiespältige,  komplexe, widersprüchliche  Obdachlosenproblematik wird von der Missionarin sachlich, illusionlos gesehen, ohne sozialromantische Scheuklappen.  Da in Brasilien ein soziales Netz, Sozialhilfe, Wohngeld fehlen, geht der Absturz in die Obdachlosigkeit ganz rasch, oft von heute auf morgen. “Man verliert die Arbeit, dann ganz schnell auch die Wohnung – und wohin dann? Auf die Straße.“ Andere sind aus tausende Kilometer entfernten Regionen Brasiliens quasi nach Sao Paulo eingewandert, hofften in der Industriestadt auf einen Job, hörten wohl nichts von grassierender Rekordarbeitslosigkeit in der drittgrößten Stadt der Erde.

–Machismus, Alkoholismus und harte Drogen—

„Wenn Ehen auseinanderbrechen, gehen die Männer oft aus Wut und Trotz einfach weg, landen auf der Straße – fast nie die Frauen. Das hat viel mit dem lateinamerikanischen Machismus zu tun. Die Männer sind unheimlich stolz, sehr machistisch, sehen es nicht ein, etwa ihren Teller abzuwaschen, ihre Sachen zu säubern. Und bei Entlassung halten sie es einfach nicht aus, daß die Frau für den Lebensunterhalt der Familie sorgt – und flüchten einfach, greifen zur Flasche.“ Absurderweise ist simpler Zuckerrohrschnaps, Cachaca,  in Brasilien billiger als Milch – was würde sich in Deutschland abspielen, wenn der Liter Wodka oder Korn weit weniger als einen Euro kostete? „Für die brasilianischen Männer ist es fast normal,  Cachaca zu trinken und in einer schwierigen Situation in den Alkoholismus abzurutschen.“  Kokain, Crack  kosten im Vergleich zu Deutschland ebenfalls nur Spottpreise, sind daher selbst für Slumbewohner erschwinglich. Schnaps, Rauschgift dienten zum Ruhigstellen von Problemgruppen, etwa Strafgefangenen, würden deshalb in die Knäste bewußt hineingelassen – sagen selbst katholische Pfarrer. „In unserem Nachtasyl sind 98 Prozent alkohol-oder drogenabhängig“, so Sandra Stalinski,  „ein Problem, mit dem wir ganz viel zu kämpfen haben, das sie aber nicht thematisieren.“ Abends deshalb immer dasselbe Ritual: „Wenn die Leute unheimlich betrunken ankommen, würden sie in der Herberge Streit anfangen, gäbe es Konflikte. Also lassen wir sie erst vor der Tür warten,  etwas nüchterner werden.“  Bei den Männern stößt sie teils auf tiefste Verwahrlosung, gar Verrohung – auf einen Teufelskreis, nur ganz schwer zu durchbrechen. Denn das Leben auf der Straße ist unbeschreiblich hart, auch grausam:“Da kann man nicht zartbesaitet sein, da muß man auch zum Messer greifen und töten, um sein eigenes Leben zu schützen – diese Leute leben in einer ganz anderen Welt.“ Viele lehnen es ab, nachts eine Herberge aufzusuchen, weil sie sich dort bestimmten Gemeinschaftsregeln unterwerfen müßten:“Da wird man nur gedemütigt, ich bin doch kein Hund, der an der Kette laufen muß!“  Sie schlafen lieber in der „Freiheit“ der Straße, trotz aller Gefahren.  Doch jenen „Sem-Teto“, die in Sandra Stalinskis Asyl kommen, soll ihre Autonomie, Selbständigkeit wiedergeben werden – dafür dienen die Seelsorge, die unzähligen stundenlangen nächtlichen Einzelgespräche, all die Kurse. „Wir wollen nicht, daß sich die Leute an das Straßenleben gewöhnen, nur jeden Abend im Asyl essen, duschen, schlafen, ohne etwas dafür tun zu müssen. Das kann zu einer Form von Bequemlichkeit werden. Es gibt Leute, die das Asyl als angenehme Möglichkeit empfinden, Geld einzusparen – weil sie weniger verdienen oder auch weniger arbeiten.“ Sandra Stalinski macht mit allen Kunstworkshops,  malt, zeichnet mit ihnen, entdeckt die unglaublichsten Talente. Was denken sie über Deutschland? „Das Paradies, das gelobte Land, wo jeder reich ist, das Geld schier vom Himmel fällt.“ Doch was weiß der deutsche Normalbürger über Brasilien? „Fußball, Samba, Caipirinha, Rio de Janeiro und die Strände als weltweit verkauftes Markenzeichen – das Elend hier ist in Deutschland niemandem bewußt.“

An der Peripherie Sao Paulos wachsen die Slums um über zehn Prozent jährlich, das Obdachlosenproblem verschärft sich zunehmend. „Weitere Massaker können geschehen“, schreibt die kleine Zeitung  des „Rede-Rua“-Hilfswerks, bei der Sandra Stalinski ebenfalls mitarbeitet. „Präfektur, Staat und die Obdachlosen selber müssen endlich aktiv werden!“

 

Brasiliens Kirche attackiert grassierenden Sextourismus an allen Fronten

Anzeigen gegen pädophile Urlauber, Ausstiegsprojekte für Huren, spektakuläre Strandaktionen

Im Tropenland Brasilien ist derzeit Hochsommer, Hauptferienzeit, sind die Traumstrände an der über achttausend Kilometer langen Atlantikküste mit in-und ausländischen Urlaubern überfüllt. Im nordostbrasilianischen Ferienzentrum Fortaleza fallen seit Jahren die Unmengen alleinreisender Männer aus Italien auf. Viele von ihnen agieren unverblümt als Sextouristen, bekommen es indessen seit drei Jahren nicht selten mit dem aus Italien stammenden Priester Renato Chiera und seinem Team zu tun. Der couragierte Chiera, 63, wirkt fast dreißig Jahren in Brasilien, attackiert seine Landsleute an den Stränden ganz direkt. Sein Ausruf „Ihr italienischen Schweine, macht euch zurück nach Italien“ sorgte in Brasilien für Schlagzeilen. „Es bringt mich auf, wenn ich Männer über vierzig mit kleinen Mädchen antreffe – diese Tragödie muß aufhören! Deshalb gehe ich zu den Zentren des Sextourismus, versuche, diese Mädchen zu retten, lege mich mit Männern an, die Italiener sind wie ich.“ Chiera sieht Mädchen, die mit Puppen spielen oder harte Drogen wie Crack konsumieren, während sie auf Freier warten. Eine Zehnjährige, schwanger mit Zwillingen, bietet sich ebenso feil wie noch jüngere. Und selbst dies gibt es häufig nicht nur in Fortaleza: Mütter, die als Prostituierte arbeiten, bringen die eigenen minderjährigen Töchter zu den Sextouristen. „Viele italienische Rentner bleiben hier gleich Monate, weil es so billig ist und vergreifen sich auch in Großstädten wie Rio de Janeiro oder Recife an Kindern.“ Wie Chiera beobachtete, existiert ein regelrechtes kriminelles Netz, zu dem auch Taxifahrer gehören, die Kinderprostituierte zu den Europäer-Hotels bringen. Der Priester nennt positiv, daß nun erstmals Sextouristen verhaftet werden, in Fortaleza zwei ausschließlich mit italienischen Männern besetzte Chartermaschinen sofort nach Rom umkehren mußten.

Die Kirche des größten katholischen Landes hat es indessen mit einem sehr komplexen Problem zu tun.

Seit dem Beginn des Irakkriegs machen immer mehr US-Soldaten in Rio de Janeiro Fronturlaub, der von Washington bezahlt wird – und agieren ebenfalls als Sextouristen. Entgegen landläufiger Vorstellung betrifft „Turismo sexual“ keineswegs nur die bekannten Ferienorte – und keineswegs nur Ausländer. Selbst weit im Hinterland, oder in Lateinamerikas führender Wirtschaftsmetropole Sao Paulo, die der Papst im Mai besucht,  bieten bereits zehn-und elfjährige Mädchen  ihren Körper  für umgerechnet achtzig Cents feil. Prostituierte stehen direkt vor der dem Kölner Dom nachempfundenen Kathedrale der Megacity.

„Sehr viele Brasilianer reisen als Sextouristen in den Norden und Nordosten – Ausländer fallen lediglich mehr auf“, sagt Monique Laroche, Präsidentin der katholischen „Pastoral für marginalisierte Frauen“, in Sao Paulo, drittgrößte Stadt der Welt. „Auch von Brasilianern selbst wird sehr viel Geld für Sextourismus ausgegeben. Wer hier in Sao Paulo die Hotels bevölkert, als Sextourist agiert, sind zuallererst Brasilianer.“

–Weltweit verharmloste Prostitution—

Für Monique Laroche ist unhaltbar, daß der Staat dagegen kaum etwas unternimmt, Prostitution sogar gefördert, verharmlost werde. „Selbst im Fernsehen wird es so dargestellt, als sei Prostitution ein lukrativer Beruf der Zukunft, mit Glamour und Kick. Gerade Mädchen der Unterschicht mit sehr niedriger Bildung denken dann, wenn Prostitution also weder negativ noch problematisch ist, gehe ich eben auf den Strich.“ Doch dann, so analysiert Monique Laroche, sitzen sie regelrecht in der Falle. Prostitution zerstöre die geistige und körperliche Gesundheit der Frauen so gravierend, daß selbst die brasilianische Caritas mit der Pastoral eine Frührente für Prostituierte ab vierzig befürworte. Die Expertin lobt viele Bischöfe, die kontinuierlich auch in den Medien den Sextourismus anprangern, von der Regierung schärfere Gegenmaßnahmen fordern. “Die Bischöfe haben indessen eine sehr begrenzte Sicht des Problems, kennen nicht den schwierigen Alltag der Prostituierten. Diese werden gewöhnlich von einer Zuhältermafia und sogar brutalen Verbrecherkommandos beherrscht, erleiden viel Gewalt, haben eine stark angeschlagene Gesundheit, sind häufig tief psychisch gestört, drogenabhängig, nehmen sogar Crack und verkaufen es weiter, halten sich für den Müll, den Abschaum der Stadt. Daher ist es sehr schwierig, Prostituierten den Ausstieg zu ermöglichen, sie aus ihrer Lage zu befreien. Viele in der Kirche wollen rasche Erfolge sehen, doch das ist unmöglich.“

Monique Laroche, die seit über 25 Jahren in einem Land von der 24-fachen Größe Deutschlands die Ausstiegsprojekte koordiniert, erklärt das Vorgehen der Pastoral: „Wir gehen zu den Prostituierten auf die Straße, suchen ihr Vertrauen, überzeugen möglichst viele in langsamen Schritten, daß der Ausstieg, daß ein besseres Leben möglich ist. Manche sind erst nach zehn Jahren reif für den Entschluß. Dann erarbeiten wir mit ihnen erfolgversprechende Projekte, etwa die Gründung einer Kooperative und berufsbildende Kurse, beschaffen eine Wohnung, erledigen bürokatische Formalitäten.“

Monique Laroche atmet tief durch:“Ja – wir werden bei dieser Arbeit manchmal schier verrückt, diese Realität zermürbt. Wir sehen zuviel Grauenhaftes, Deprimierendes auf diesem Menschenmarkt – eine Gewöhnung ist unmöglich. Viele halten deshalb die Pastoralarbeit nicht aus, springen ab.“

In Brasilien herrscht nach wie vor Massenarmut, Massenarbeitslosigkeit – müssen die Ausstiegsprojekte daher gut überlegt sein. “Manche Prostituierte absolvieren einen berufsbildenden Kurs, finden hinterher aber keine Arbeit – und da sie ja von irgendetwas leben müssen, kehren sie in die Prostitution und zu den Drogen zurück. Wir suchen daher gemeinsam mit den Frauen Berufe aus, die tatsächlich passen. Viele Prostituierte wurden Friseusen, Pediküren, andere sogar Anwältinnen – eine praktiziert heute als Ärztin. Eine andere gründete just im Hinterland mit Hilfe von Misereor ein Ausstiegsprojekt für jugendliche Prostituierte. Unsere Pastoral tut landesweit, soviel sie kann – doch angesichts der gravierenden Lage ist es dennoch viel zu wenig.“

Das bestätigt auch Maria do Rosario, Leiterin der Kinderpastoral in der Erzdiözese von Sao Paulo, zu der auch über zweitausend Slums zählen.

“Wir als Kirche können nur einer beschränkten Zahl betroffener Mädchen helfen. Wir leisten ohnehin Sozialarbeit, die eigentlich Sache des Staates ist. Für Mädchen, die der Prostitution entfliehen wollen, gibt es in Brasilien immer noch keine staatliche Struktur, die sie auffängt. Zerrüttete, verwahrloste Familien der Slums stimulieren Mädchen nur zu oft zur Prostitution, um daraus Gewinn zu ziehen. In Sao Paulo betreuen wir daher rund 14000 solcher Familien, um genau dies zu verhindern. Und das funktioniert auch. Aber die Zahl bedürftiger Familien ist natürlich viel höher. Daher nimmt die Kinderprostitution weiter zu. Die Regierung hatte versprochen, die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen völlig zu stoppen. Doch den Worten folgten keine Taten.“

Wenn der Papst im Mai Sao Paulo besucht, werden an den Gottesdiensten unter freiem Himmel auch zahlreiche Prostituierte teilnehmen. Monique Laroche:

“Diese Frauen beten gewöhnlich mehr als unsereiner – auch stets dann, wenn sie ihr Leben schier nicht mehr ertragen.“

 

 

Brasiliens Sekten vor Papstbesuch in der Bredouille

„Apostel“, selbsternannte Bischöfe im Knast, Unmengen von Sektenpriestern in Skandale verwickelt, erstmals leere Tempel

Benedikt XVI. und seine Berater dürften sich die Augen reiben: Bisher sah es so aus, als wäre ausgerechnet im größten katholischen Land gegen Sekten, auf spektakuläre Wunderheilungen und Teufelsaustreibung spezialisierte Pfingstkirchen kein Kraut gewachsen, deren Aufschwung nicht mehr aufzuhalten. Doch just vorm Papstbesuch sind die Sekten überraschend auf einmal schwer angeschlagen, haben die öffentliche Meinung gegen sich. Sektenchefs wirken  erbärmlich kleinlaut, gar nicht mehr so großsprecherisch-selbstbewußt wie bisher, auch weil sich Sexskandale aller Art, Fälle von Pädophilie häufen.

Der selbsternannte „Apostel“ und Ex-Werbemanager Estevam Hernandes sowie seine Frau, die „Bischöfin“ Sonia Hernandes, flüchteten wegen verschiedenster Machenschaften vor der brasilianischen Justiz in die USA, wurden dort prompt vom FBI verhaftet, sitzen derzeit im Knast, werden wohl die nächsten fünf Jahre hinter Gittern bleiben. Das schwerreiche, im Luxus schwelgende Hernandes-Pärchen gründete, leitet immerhin Brasiliens zweitgrößte Neupfingstler-Sekte „Renascer em Christo“(Wiedergeburt in Christus), brachte letztes Jahr zum „Marsch für Jesus“ in Sao Paulo noch drei Millionen sogenannter „Evangelicos“ auf die Straße. Jetzt sind die brasilianischen Tempel erstmals leer, sieben in den USA wurden von der Justiz dichtgemacht. Blamiert bis auf die Knochen ist Brasiliens Nationalspieler und „Evangelico“ Kakà, derzeit bei AC Mailand, der weltweit für die Sekte trommelte, 2005 in einem Renascer-Tempel Sao Paulos pompös geheiratet hatte, den dumpfbackigen Profispieler Ronaldo an der Seite.

–Brasiliens Regierung unter Sekteneinfluß—

Der Papst wird in Sao Paulo auch Brasiliens Staatschef Luis Inacio Lula da Silva treffen, dessen Regierung wegen einer Serie von Korruptionsskandalen, darunter Stimmen-und Parteienkauf, ebenfalls angeschlagen ist. Stark verwickelt sind zahlreiche Abgeordnete der evangelikalen Sekten, die zu Lulas Regierungsbasis im Nationalkongreß gehören. Reihenweise wurden letztes Jahr selbsternannte „Bischöfe“, Sektenpastoren und Tempelhelfer angezeigt, manche gar verhaftet, warten auf den Prozeß. Alle waren kurioserweise ins Parlament gewählt worden, weil sie sich als Verfechter christlicher Ethik und Moral propagierten. Die Fraktion der „Evangelicos“ schrumpfte jetzt um die Hälfte auf etwa dreißig Abgeordnete. Lulas Vize, der Milliardär Josè Alencar von der Sektenpartei PRB(Brasilianische Republikanische Partei), tritt derzeit kaum noch in Erscheinung, zieht die Fäden im Hintergrund. Wie der Parteigründer und Sektenchef Edir Macedo. Einst war er ein kleiner Lotterieangestellter, dann ernannte er sich zum Bischof. Heute führt er Brasiliens aggressivste Wunderheilersekte, die wie ein multinationales Großunternehmen straff gemanagte, in 97 Ländern agierende „Universalkirche vom Reich Gottes“ mit über acht Millionen brasilianischen Anhängern. Macedo unterstehen die zweitgrößte Fernsehanstalt „TV Record“  ebenso wie rund sechzig Radiosender, ein großer Zeitungs-und Buchverlag sowie eine sehr erfolgreiche Gospel-Plattenfirma.

 Noch vor wenigen Jahren beschimpften Macedo und andere Universalkirchen-Bischöfe den heutigen Staatschef Lula als „Teufel, satanischen bösen Wolf“. Doch dann schloß man Frieden zu beiderseitigem Nutzen, Lula und Macedo umarmten einander und führten gemeinsam den Präsidentschaftswahlkampf von 2002 zum Erfolg. Große Aufkleber mit der Aufschrift „Ich bin Evangelico, habe Glauben und Vertrauen, will Lula“ wurden massenhaft gestreut.

 Neben den zahlreichen Korruptionsskandalen in der hohen Politik, der Verhaftung von „Bischöfen“ hat die Universalkirche jetzt erstmals auch kuriose Prozesse am Hals: Frühere Anhänger klagen auf Entschädigung wegen arglistiger Täuschung, gebrochenen Versprechen – und bekommen häufig Recht. Einem Bäcker wurde bei einer „Teufelsaustreibung“ der Kopf immer wieder so heftig auf die Tempelbank geschlagen, daß das Nasenbein brach. Einem Handwerker sagte der Universal-Pastor, wenn er fest an Gott glaube, werde er bei der Reparatur des Tempeldaches nicht herunterfallen. Doch er stürzte hinab, sitzt nun im Rollstuhl. —–Reich werden durch Gott—

Kein Glück mit der Justiz haben bisher noch jene, die sich von der „Theologie der Prosperität“ täuschen ließen. Auch Bispo Macedo von der Universalkirche propagiert das Reichwerden durch Gott. „Wer ein üppig-reiches Leben führt, genießt die Segnungen des Herrn – Wohlstand ist eine Gabe Gottes und durch die Macht des Glaubens erreichbar!“ An persönlichem Mißerfolg, Misere und Arbeitslosigkeit, heißt es, sei der Teufel schuld, den man auf speziellen Tempelsitzungen austreibe. Dort wird den Gläubigen suggeriert, möglichst viel Geld zu spenden, damit der nachfolgende finanzielle Erfolg dank Gott umso heftiger sei. Viele verkaufen daher Häuser, Wohnungen, ihr Auto, geben alles Geld der Sektenkirche – doch von Prosperität ist dennoch nichts zu sehen, leiden viele weiter in Misere. Jetzt klagen Betroffene erstmals vor Gericht. Doch die Sekten kontern stets mit dem Argument:“Dein Glaube ist eben nicht tief, nicht intensiv genug – deshalb steckt der Teufel noch in dir und läßt dich nicht weiterkommen.“

Die jetzt in den USA einsitzende „Bischöfin“ Sonia Hernandes hatte vor allem deshalb soviel Erfolg bei der oberen Mittelschicht, weil sie deren Konsumgewohnheiten auch noch religiös verbrämte. „Gott gibt mir internationale Kreditkarten, eine Villa in Miami, Luxusbetten und sogar eine Schönheitsoperation – Halleluja!“

 Brasiliens Theologen sind baff, daß sowas allen Ernstes bei vielen Millionen von Brasilianern ankommt, nennen den Hauptgrund: Extrem niedrige Bildung der Bevölkerungsmehrheit, dazu Misere, machen besonders anfällig für Heilsversprechen, Scharlatanerie, erleichtern Massenmanipulation. Kein Geheimnis in Brasilien – selbst bei den Betuchten, den Eliten ist es nur zu oft mit der Bildung nicht weit her.

–Umweltressort und Sekten–

Schwer vorstellbar in Europa – ein Sektenmitglied als Umweltminister. In Brasilien, unter Staatschef Lula geht das – Marina Silva von der größten evangelikalen Sekte „Assembleia de Deus“(Gottesversammlung) ist vorhersehbar der größte Flop, weshalb sich die Umweltaktivisten des Tropenlandes die Haare raufen. Als der deutschstämmige Generalsekretär der Bischofskonferenz, Odilo Scherer, nach dem Karneval 2007 die heftig regierungskritische, Amazonien gewidmete Brüderlichkeitskampagne der katholischen Kirche startet, sitzt Ministerin Silva kurioserweise neben ihm und redet von Fortschritten beim Kampf gegen die Urwald-und Artenvernichtung. Die Vorwürfe der Bischofskonferenz betrachtet die Sektendame weder als Kritik an Brasilia noch an ihrer eigenen Amtsführung. Brasiliens Umweltorganisationen werfen ihr vor, daß in vierjähriger Amtszeit rund 84000 Quadratkilometer Regenwald verschwanden, sogar der zuvor verbotene Anbau von Gen-Soja legalisiert worden sei. Zahlreichen Umweltverbrechen, heißt es, sehe Marina Silva tatenlos zu. Dennoch wird sie im April allen Ernstes mit dem Umweltpreis der UNO namens „Champion of the Earth“ ausgezeichnet – nicht nur Naturschützer greifen sich an den Kopf. Viele von ihnen kennen schließlich auch Stars der „Gottesversammlung“ wie Lanna Holder, die als Wunderheilerin und Exorzistin bequem in der Lage ist, selbst Hunderttausende in Hysterie und Ekstase zu versetzen. In ihrem charakteristischen Schreiton hämmert sie in Hardrock-Lautstärke in überfüllte Stadien:“Jetzt wird die Hölle in ihren Fundamenten erschüttert, jetzt droht sie einzustürzen und der Teufel zittert vor Angst! Denn ich treibe jetzt den Teufel aus euren Leibern – Krebskranke werden geheilt, Querschnittsgelähmte können wieder gehen!“

Unlängst ihr jäher Absturz bei der Sekte: Die verheiratete Lanna Holder, Mutter von zwei Kindern, punktete in ihren Predigten stets auch damit, angeblich mit Hilfe von Jesus von ihrer Homosexualität geheilt worden zu sein. Doch dann wird sie laut Presseberichten mit einer Assembleia-Sängerin beim Sex erwischt, verliert prompt ihren Predigerposten, trägt derzeit in Boston/USA Pizzas aus. Ihre Mutter, ebenfalls Predigerin bei der Sekte, bastelt derzeit am Comeback der  brasilienweit auch durch Wunderheilungs-CDs berühmten Tochter.

Mit einem deutlichen Abschwung der Sekten Brasiliens ist indessen so bald nicht zu rechnen. Auf Korruptions-und Sexskandale, Gerichtsprozesse reagieren die Sektenführer stets mit dem Argument, dahinter stecke der Teufel, auch Jesus sei einst unerbittlich verfolgt worden. Solche Sprüche haben Wirkung. Brasilien ist gemäß der „World Christian Database“ aus den USA nicht nur das größte katholische Land der Erde, sondern zählt auch die meisten Anhänger von Sektenkirchen. Diese haben über 24 Millionen Gläubige, die katholische Kirche kommt auf 138 Millionen.

„Gott heilt von Aids und Krebs – Wunder jeden Dienstag!“

Brasilien: Übermacht von Sektensendern im größten katholischen Land/Pfarrer fordern energisches Gegensteuern

„Komm in unsere Tempel – dort heilt Gott jeden Dienstag von Aids, Krebs und allen anderen Krankheiten“, wirbt einschmeichelnd oder im Schreiton der Sektenpriester auf „Radio Aleluia“ in Rio de Janeiro, „die Blinden können wieder sehen, die Lahmen wieder gehen!“ Absurdes Theater, Komödie, Kabarett? Keineswegs, alles völlig ernst gemeint.  Der Sender gehört dem selbsternannten Bischof Edir Macedo, Gründer der „Universalkirche vom Reich Gottes“, der für seine Wunderheilungen, die „Curas Milagrosas“, sogar das weltgrößte Fußballstadion „Maracana“ in Rio füllt, alles landesweit über die Radio-Kette der Sekte übertragen läßt,  zig-mal wiederholt. 

 Auf der Radioskala Brasiliens, so scheint es, feiert der Irrsinn täglich wahre Triumphe. „Bettler, Verelendete, Hochverschuldete kamen zu Wohlstand, Reichtum, seit sie an der montäglichen  Tempelsitzung der Prosperität teilnahmen“, dröhnt zudem alle paar Minuten einer der acht Sektenkanäle alleine auf UKW, „denn Wohlstand ist eine Gabe Gottes“.  Sogar „Tage des Sieges“ werden ausgerufen, an denen Hörer mitteilen, welche erklecklichen Geldsummen ihnen an diesem Datum jeweils auf wundersame Weise zufielen. Und serienweise beteuern Interviewte, von Aids oder sogar Leistenbruch geheilt worden zu sein. „Das Baby in meinem Bauch strampelt endlich weniger, gibt Ruhe – das war  der Heilige Geist“, sagt eine Schwangere ins Mikro, der Moderator-Priester stimmt zu.  „Ich war pleite“, schildert die Unternehmerin, live aus dem Tempel übertragen, „jetzt läuft wieder alles blendend, Schulden bezahlt, Prozesse gewonnen – und selbst mein Mann kehrte aus den Armen der Geliebten zu mir zurück!“ Riesenapplaus im Tempel wie im Studio. Wer ein üppig-reiches Leben führe, genieße die Segnungen des Herrn, steht auch auf den Senderwebsites. Wenn es im Leben mal nicht klappt, ist der Teufel, Diabo, Demonio, dran schuld –  beinahe pausenlos beschimpft, bekämpft in den Sektenprogrammen. Die meisten Brasilianer haben schließlich keinen Zweifel daran, daß der tatsächlich und leibhaftig existiert.

–Teufelsaustreibung live rund um die Uhr—

 Auf der vielgehörten, weil viel weiter als UKW reichenden Mittelwelle Rios das gleiche Bild – sechs starke Sektensender, zwei davon gehören Ober-Wunderheiler David Miranda und seiner Radiokette aus Sao Paulo. Sie strahlen parallel das selbe Programm aus –  abends und nachts predigt, exorziert Miranda sogar noch auf den angemieteten Frequenzen einer dritten Anstalt.

Was für zugereiste Europäer bestenfalls Unterhaltungswert hat, wird von immer mehr Brasilianern ernst genommen, geglaubt, die Sektenmedien sind auf dem Vormarsch, zwingen die Kirche im größten katholischen Land der Erde zum Gegensteuern. Gar nicht so einfach, denn Brasiliens Mediensystem ist verwirrend anders als etwa in Deutschland: Zeitungen werden von der Bevölkerungsmehrheit funktioneller Analphabeten kaum gelesen, sind ihr auch viel zu teuer. Die meisten verstehen schlichtweg nicht, was da geschrieben ist. Öffentlich-rechtliche Anstalten gibt es nicht. Nur einige wenige Fernseh-und Radiostationen sind dem Bildungs-und Kulturministerium oder Provinzregierungen unterstellt, haben geringe Einschaltquoten – die allermeisten Sender  gehören konservativen bis rechten Politikern – oder den zahlreichen Sekten, welche teils rund um die Uhr Wunderheilungen, Teufelsaustreibungen übertragen, eingängige religiöse Musik spielen. Und sich skrupellos gezielt an jene wenden, die in tiefer Misere leben, besonders anfällig für Heilsversprechen, Scharlatanerie sind, sich leicht manipulieren lassen.  „Es ist höchste Zeit, daß wir abgestimmt und kühn auf die Herausforderung durch die Sekten reagieren – unsere Kardinäle müssen das endlich begreifen“, sagt der deutschstämmige Pfarrer Edvino Steckel, Direktor des katholischen UKW-Senders „Radio Catedral“  der Diözese Rio de Janeiro. „Wir sind dazu verurteilt, immer mehr Gläubige zu verlieren, wenn wir so weitermachen. Um das Ausbluten, den Blutverlust zu stoppen, müssen wir Medien aufbauen, die wirklich alle erreichen.“

Die Worte des 37 – jährigen deutschstämmigen Geistlichen, der auch Dozent und Lehrstuhlinhaber bei zwei großen Universitäten ist,  klingen wie ein Appell. „In der Kirche herrscht echtes Erschrecken über den Vormarsch der Sektenmedien“, erläutern Silvia Fernandes und Katia Medeiros, Sozialwissenschaftlerinnen am katholischen Forschungsinstitut CERIS in Rio der Bildpost, „doch weiterhin fehlt eine abgestimmte Medienpolitik, nur ganz langsam beginnt man aufzuwachen, etwas zu tun. Und sich zu fragen, was in der Kommunikation mit den Gläubigen schief gelaufen ist.“

Daß gegen die Sekten der Scharlatanerieparagraph nicht angewendet wird, liegt am wachsenden politischen Einfluß: Bischof Macedo und seine Universalkirche beispielsweise dominieren die rechtsgerichtete „Liberale Partei“, wichtigster Koalitionspartner in der Regierung von Staatschef Luis Inacio Lula da Silva.  Die Sektenfraktion im Nationalkongreß wird immer stärker.

–Sekten mit 470 Sendern, Katholiken nur mit 200— populäre Musik als „Waffe“-

In ganz Brasilien, 24-mal so groß wie Deutschland, haben die Sekten 470 Radiosender  – die katholische Kirche hat gerade rund zweihundert Stationen. Auch im Fernsehbereich sind die Katholiken stark im Hintertreffen. Alleine TV Record von Bischof Macedo zählt zu den quotenstärksten kommerziellen Kanälen Brasiliens, die vier katholischen Stationen Rede Vida, Cancao Nova und Seculo 21 folgen weit, weit abgeschlagen am Schluß. Die Sekten produzieren zudem hochprofessionell religiöse Musik aller Genres, setzen Soft-oder Hardrock, Rap, Schmuse-Pop und Folklore erklärtermaßen als „Waffe“ ein,  um der katholischen Kirche Gläubige abzujagen, besitzen dreißig gut gehende Plattenfirmen. Die katholische Kirche hat gerade vier kleine, ist keinerlei Konkurrenz auf dem erstaunlich großen Markt religiöser CDs, die an beinahe jeder Straßenecke feilgeboten werden.

Rio de Janeiro ist der einzige brasilianische Teilstaat, in dem die Katholiken bereits in der Minderheit sind – was Pfarrer Edvino Steckel von Radio Catedral zusätzlich unruhig macht. “In einer Stadt mit fünf Millionen Einwohnern haben wir nur dreißigtausend Hörer, sechzig Prozent davon sind Rentner – die Sektenradios haben ein  viel größeres Publikum. Wir brauchen Stationen mit ähnlichem Profil,  mehr light, mit viel mehr Musik, auch nichtreligiöser, mit den meistgehörten Hits der Welt.  Unser Stil ist vielen Leuten zu schwerfällig, altmodisch, mit diesen vielen Belehrungen und Diskussionen auch ermüdend. Und wir reagieren noch nicht einmal auf die Sekten, kritisieren sie nicht – obwohl das nötig wäre. Natürlich glaubwürdig, mit Respekt vor dem Volk.  Die Sekten brauchen sich an keinerlei Gesetz, keine spirituellen Traditionen zu halten, folgen nur den Regeln aggressiven Marketings, nutzen psychologische Tricks und  flink jede kommerzielle Chance, verkaufen ein Produkt. Pfarrer, die keine Gewinne einfahren, sich nicht rechnen, werden entlassen. Die Sekten verkünden allen: Wer nicht bei uns mitmacht, kommt in die Hölle.“

–Geld an Sekten statt Milch für die Kinder—

Pfarrer Steckels Haushälterin gehört zu einer „Seita“ – und wenn sie ihn um Geld, einen Vorschuß bittet, fragt er immer zurück, ob es für sie oder ihre Sekte sei. Viele Anhänger verdienen umgerechnet nur siebzig Euro im Monat – doch anstatt den Kindern Milch zu geben, Nahrungsmittel zu kaufen, fühlen sie sich verpflichtet, beinahe die Hälfte des Lohns ihrer Sekte zu spenden,  werden dafür im Radio gelobt. „Das alles ist absurd, das ist ein Verbrechen“, so Pfarrer Steckel, „darüber sollten die katholischen Radios sprechen, tun es aber nicht. Es gibt tausende Sekten, die tausendfache Herausforderung sind.“ Wunderheiler Macedo brachte zudem eine große nationale Wochenzeitung heraus, die den Papst, die katholische Kirche attackiert.  Auflage  der „Folha Universal“ – weit über eine Million.   „Sie hält die Anhänger sozial stark zusammen – auch wir Katholiken brauchen so ein Blatt!“

–Gegensteuern mit Charismatikern—

Aber hat die katholische Kirche keine Personen mit Charisma, um den Sekten auch im Medienbereich Paroli zu bieten? „Durchaus, etwa den populären, sehr unkonventionellen Pfarrer Marcello Rossi, der für sich allein, isoliert, auf die neuen Herausforderungen reagierte. Seine Diözese bei Sao Paulo wächst als einzige in ganz Brasilien – doch in der gesamten Kirche gibt es Widerstände, Ressentiments gegen ihn  – völlig unbegreiflich. Marcello Rossi hätten wir gerne hier im Sender, würden unsere Hörerzahl schlagartig von dreißigtausend auf sechshunderttausend erhöhen. Und würde er in  Rios Flamengo-Park predigen,  kämen eine Million Menschen – wie in Sao Paulo! Er ist ein Phänomen , könnte sogar ein Heiliger werden.“ Seine Songs wenigstens werden in „Radio Catedral“  gespielt – denn Rossis CDs waren bereits Nummer Eins der Verkaufshitparade, wurden sogar in Diskotheken aufgelegt. Der Pfarrer zählt zu den Gründern der katholischen Bewegung „Charismatische Erneuerung“, hat enormen Erfolg  selbst als Schauspieler in eigenen religiösen Filmen. Weil die katholischen Sender Brasiliens nicht zugriffen, treibt Rossi eben bei Brasiliens führendem privaten Medienkonzern Globo die Einschaltquoten nach oben, moderiert montags bis freitags bei Radio Globo eine Stunde. Da hören landesweit sage und schreibe 1,6 Millionen Menschen zu. „Ich will, daß jene 73 Prozent, die sich Katholiken nennen, auch weiterhin katholisch bleiben. Nur so erreichen wir sie auch – deshalb bin ich bei Radio Globo.“

Inzwischen nehmen unter den Bischöfen die Vorbehalten gegen  Rossis „Charismatische Erneuerung“ ab, Radio-Pfarrer Steckel kann hoffen. Ein angesehener deutschstämmiger Bischof, Ivo Lorscheiter, sieht es  wie er:“Heute ist diese Bewegung am besten dazu fähig, den katholischen Glauben in der Bevölkerung zu verbreiten.“

 

Brasiliens Reiche drehen auf

Slums und Misere wachsen immer rascher – doch Verkäufe von Luxuswaren brechen alle Rekorde

Nach den USA zweitgrößter Markt von Privatflugzeugen

Goldstaub auf Pralinen und Torten, der Kaviar aus Paris oder ein paar  holländische

 Tulpensträuße extra mit Privatmaschinen eingeflogen, gezähmte Villen-Leoparden natürlich mit Diamantenhalsband – Brasiliens Geldelite schreckt vor keiner Extravaganz zurück. Und wenn Millionäre vor einer Luxusboutique Rio de Janeiros oder Sao Paulos der Nobelkarosse  zu entsteigen gedenken, stoppen die vorausfahrenden bewaffneten Body-Guards natürlich den ganzen Verkehr, provozieren absurdeste Staus. Selten zuvor gebärdeten sich die Reichen des Tropenlands perverser als in den letzten Jahren – während gleichzeitig Slums und Misere immer rascher wachsen. Brasilien ist laut UNO-Angaben Weltmeister in sozialer Ungleichheit – bei Mindestlöhnen von etwa 74 Euro, Stundenlöhnen von fünfzig Cents können sich die Wohlhabenden einen neofeudalen Hofstaat an Bediensteten leisten, von denen Deutschlands Betuchte bestenfalls träumen. Auf der ganzen Welt gibt es 7,1 Millionen Millionäre – doch in keinem Erdteil wächst ihre Zahl schneller als in Lateinamerika, mindestens jeder Dritte ist ein Brasilianer. Den neuen, 2003 angetretenen Staatschef Luis Inacio Lula da Silva, einen Ex-Gewerkschaftsführer, hatten die Reichen zuerst gehaßt, jetzt wird er von ihnen wegen seiner neoliberalen Politik geradezu vergöttert.  Zumal Lula im Präsidentenpalast von Brasilia selber sichtlich Spaß am Luxus hat – und ausgerechnet einen von Brasiliens wenigen Milliardären, den Großunternehmer Josè Alencar, zu seinem Vize machte.  Unvergessen ist, wie Lula bei einer TV-Diskussion melodramatisch gegen Hunger und Misere im Lande loswetterte  – und sich hinterher  in einem Nobelrestaurant erst mal einen trockenen Romanèe Conti, die Flasche für  440 Euro umgerechnet, hinter die Binde goß. Ein Börsenmakler Rio de Janeiros will sich eine große Lula-Statue in die Villa stellen:“Nie zuvor habe ich dermaßen viel verdient!“

–Mehr Millionäre – mehr Elend –

Gleich im ersten Amtsjahr schlitterte Brasilien zwar in die Rezession, verzeichnete Rekordarbeitslosigkeit, starken Reallohnverlust, noch mehr Elend – doch immerhin fünftausend Betuchte wurden dennoch interessanterweise(Dollar-)Millionäre, erhöhten deren Zahl im Lande auf etwa neunzigtausend. Spekulanten machten wegen der wachstumshemmenden Hochzinspolitik Riesenprofite – und machen sie weiter. Der Luxusgütermarkt explodiert regelrecht, wuchs 2003 trotz Wirtschaftskrise um 35 Prozent. 2004 wieder Wachstum um über vier Prozent, doch im Luxussegment immerhin um  40 Prozent, bei einem Weltdurchschnitt von derzeit 15 Prozent jährlich – Nobelmarken aus Paris, New York oder London eröffnen serienweise neue Läden, zuallererst in Sao Paulo, der reichsten – und gleichzeitig am meisten von Misere gezeichneten Metropole Südamerikas. Oben an der Avenida Paulista, Lateinamerikas Wallstreet, quellen um die Mittagszeit Direktoren und Manager direkt in hellen Scharen aus den Bankenpalästen, um in der Nähe vornehm zu speisen – nur ein paar Fußminuten abwärts, an der schicken, feinen Rua Oscar Freire finden sie und ihre Gattinnen, Geliebten alles für gehobenste Ansprüche, mischen sich dort mit neureichen, arbeitsscheuen Playboys. Ob Cartier, Tiffany, Rolex, Jaguar, Ferrari, Louis Vuitton, Prada – keine der Edelmarken fehlt in dem Dreh. Am Wolkenkratzer-Himmel Sao Paulos knattert ein Privathubschrauber nach dem anderen –  Betuchte fliegen von ihren Villen der Nobelghettos zu den Bürotürmen, Kaufpalästen, Golfplätzen, Landsitzen, Stränden, Privatinseln. Nur in den USA werden mehr Helikopter, überhaupt Privatflugzeuge, verkauft. Mit dem Geld für einen Ferrari, so errechneten Sozialwissenschaftler, könnte man sieben vierköpfige brasilianische Familien zwanzig Jahre lang ausreichend ernähren.

–Papst und Bischöfe gegen ungebremste Habgier—„Wie kann man den Reichtum neu verteilen?“

Die überall in der City, und erst Recht an der Peripherie wahrnehmbare Misere hemmt die Begüterten psychologisch nicht im geringsten, ihren Reichtum zur Schau zu tragen – ganz im Gegenteil. „Ebenso wie die alte französische Aristokratie“, analysiert der britische Brasilien-Experte Victor Bulmer-Thomas, „fühlen sich die Eliten Lateinamerikas nur dann erst richtig reich, wenn sie von Armen umgeben sind.“ Und die Kolonialmentalität, das bestätigen brasilianische Kardinäle und Bischöfe, ist weiterhin sehr lebendig. Ebenso wie der Papst verurteilen sie die ungebremste Habgier, das Anhimmeln von Geld und Kapital. Sao Paulos deutschstämmiger Kardinal Erzbischof Claudio Hummes beobachtet täglich auf dem Platz vor der Kathedrale und in der Fußgängerzone nahe der lateinamerikanischen Leitbörse ein Heer von Bettlern, Arbeits-und Obdachlosen, Verzweifelten. „Wenn wir auf Brasilien, oder nur auf Sao Paulo schauen, fällt uns sofort auf, wie tief der Graben zwischen Reichen und Armen ist. Die Zahl der sozial Ausgegrenzten hat sich durch die globalisierte Wirtschaft, die offenen Märkte in Wahrheit noch erhöht. Die Arbeitslosigkeit ist weiterhin gigantisch, wenngleich sie die letzten Monate wenigstens ein bißchen abnahm.  Solidarität –  noch völlig ungenügend. Wie kann man die Reichtümer unseres Landes neu verteilen? Der Kampf gegen Elend und Hunger muß weiterhin Priorität haben.“ Und dann erinnerte er an die Worte des Papstes, der bei seinem ersten Brasilienbesuch von 1980 das Gleichnis vom Reichen und dem armen Lazarus auf die Situation in dem Tropenland angewendet, den Egoismus und die Indifferenz der Begüterten angeprangert habe. „Vierundsechzig Prozent des Volkseinkommens“, so der bekannte Befreiungstheologe Frei Betto aus Sao Paulo, „sind in der Hand von nur zehn Prozent der Brasilianer!“ Alle acht Tage entsteht ein neuer Slum, während sich die Reichen immer perfekter in ihren Nobelghettos einmauern.  Frei Betto nennt diese „Condominios fechados“, geschlossenen Wohnanlagen,  deshalb ironisch „Luxusgefängnisse“. Die kirchliche Soziologin Eva Turin, Mitarbeiterin von Kardinal Hummes, kritisiert zudem viele der betuchten Deutschen Sao Paulos: „Sie benehmen sich wie die Elite der Elite, noch über den reichsten Brasilianern, mischen sich nicht mit uns, solidarisieren sich nicht.“ 

Mehr als zwanzig Jahre später sind die Papstworte aktueller denn je. „Lateinamerika ist weiterhin das perfekte Beispiel für wirtschaftliche Polarisierung zwischen Reichen und Armen“, konstatiert sogar die US-Investbank Meryll Lynch in ihrem neuesten Jahresbericht über weltweite Reichtumsverteilung. „Die lateinamerikanischen Millionäre haben den höchsten individuellen Vermögensdurchschnitt aller Regionen.“ Und in Sao Paulo lebt über die Hälfte der Einwohner wie in Afrika, fast ein Drittel wie in Indien. Die tonangebende Geldelite ist sozial noch weit unsensibler geworden, konstatieren erschreckt die Intellektuellen, Kulturschaffenden, sehen in der Upperclass deutlich mehr „Zynismus, Intoleranz, Rassismus, reaktionäres Denken“.

–„Leben als ewiger Vergnügungspark“— hoher Drogenkonsum–

Jurandir Freire Costa, Universitätsprofessor und Therapeut in Rio, ärgert zunehmend, wie diese Kaste das kulturelle Niveau Brasiliens drückt. „Diese Leute sind erschreckend belanglos, oberflächlich, schauen auf den Rest des Landes, als ginge er sie nichts an – und verlassen ihre privilegierten Zirkel nur, um in die USA, in reiche Länder Europas zu fliegen und dort genauso weiterzu leben. Mit einer Idee vom Leben als ewigwährendem Vergnügungspark.“ Costa bedrückt indessen, wie diese Elite beispielgebend wirkt, bis tief hinein in die Unterschicht Verhaltensweisen formt. „Diese Leute mit ihrem provozierenden Lebensstil, dem hohen Drogenkonsum, sind in ihrer soziokulturellen Wahrnehmungsfähigkeit so dressiert, daß sie die Misere, die Verelendeten überhaupt nicht mehr sehen. Pure Verantwortungslosigkeit, die sich reproduziert, in der Gesellschaft Schule macht.“ Der Professor erwähnt nicht zufällig, daß Brasiliens Wohlhabende die Hauptkonsumenten harter Drogen wie Kokain sind. Viele Banker und Manager, kein Geheimnis, nutzen Kokain ebenso wie Politiker auch zur Leistungssteigerung, um  auf öffentlichem Parkett eine bessere Figur zu machen. Die gut erforschten Folgen des Langzeitkonsums – Realitätsverlust, Egozentrismus, Größenwahn, Aggressivität, extreme Macho-Manieren in einem typischen Macho-Land, wo es vielen daher gar nicht sofort auffällt, daß da auch Kokain mit im Spiele ist.

–Luxus und Gewalt— UNO-Kritik vor dem Weltsozialforum–

Das glamouröse Leben der Betuchten – überall in den Medien wird es als nachahmenswert herausgestellt. Beinahe in der letzten Slumhütte steht ein Fernseher – und alle drumherum himmeln die Schicken und Reichen an, hassen sie zugleich. „Ein Teil der Verelendeten wird gewalttätig, will an das Geld der Begüterten, um dann den Lebensstil der Eliten zu kopieren – weiter nichts“, so Professor Costa. Und Gewalt zähle zu den Resultaten der scharfen Sozialkontraste – Brasilien zählt mehr Tote als im Irakkrieg. Entführungen von Geldleuten, Prominenten, Bandenüberfälle in Nobelvierteln  – das zumindest wird von der Upperclass als störend wahrgenommen.

Mitte Januar hat ihr, aber auch der Lula-Regierung, die UNO erneut die Leviten gelesen. In den Großstädten, aber auch im Hinterland nehme die Misere zu, betonte UN-Vertreter Carlos Lopes in Brasilia. Auf einer Fläche von der vierfachen Größe Frankreichs finde man Zustände wie in Uganda, in Teilen Rio de Janeiros wie in Swaziland. Das sei nicht hinnehmbar, Brasilien müsse das Elend energischer bekämpfen, habe die nötigen Mittel. Immerhin ist der Tropenstaat die zwölftgrößte Wirtschaftsnation und sogar der weltgrößte Fleischexporteur.

 

„Die Brasilianer sind das abergläubischste Volk – mit den meisten Scharlatanen“

Katholischer Parapsychologe Oscar Quevedo kämpft gegen Sekten und Wunderheiler

Hundertausende strömen in der Megametropole Sao Paulo zu einem Fenster, meinen auf dem Glas die Umrisse einer Heiligen, gar  der Jungfrau Maria zu erkennen, sind aus dem Häuschen, glauben an ein Wunder. Padre Oscar Quevedo, Brasiliens oberste Koryphäe der Parapsychologie, greift sich verärgert an den Kopf, fährt sofort hin. „Alles Unsinn, eine Dummheit, keinesfalls ein Wunder“, sagt er der Reportermeute live in die Mikrophone. Damit Quevedo deshalb nicht gelyncht wird, läßt ihn der Bürgermeister sofort durch Polizisten beschützen. Eine Expertenkommission, der Quevedo angehört, stellt fest, daß ganz normale chemisch-physikalische Reaktionen die Umrisse auf dem Fenster hervorriefen. „Die Menschen kennen eben nicht die echten, großartigen Wunder, von denen es viele gibt.“

In einem Land mit extrem niedrigem Bildungsgrad riskiert der Padre, Direktor des lateinamerikanischen  Forschungsinstituts für Parapsychologie/CLAP in Sao Paulo, öfters seine Haut, geht sogar in die Sektentempel, stellt die Pastoren zur Rede:“Sie verkünden den Massen lügnerisch, alle Krankheiten sind das Werk des Teufels – wir treiben ihn aus. Doch wenn sie selber mal krank sind, gehen sie zu einem normalen Arzt, nie zu einem Wunderheiler-Kollegen – wir haben das herausbekommen.“ Quevedos regelmäßige TV-Duelle mit Scharlatanen, Sektenchefs sind ein Hit: “Wenn sie mir sagen, daß ein Haus von bösen Geistern verhext ist, die Heilige auf dem Bildnis blutige Tränen weint, wette ich um zehntausend Dollar, daß das nicht stimmt, weise es wissenschaftlich nach.“ Er blamiert die Gegner bis auf die Knochen – doch leider wachsen immer neue nach, werden täglich neue Sekten gegründet:“Die Brasilianer sind das abergläubischste Volk. In jeder größeren Stadt gibt es mehr Spiritisten, Mystiker mit Visionen, mehr angeblich von Dämonen Besessene als im Rest der Welt. Jeder Schwachsinn wird zum Wunder erklärt – den Rekord macht uns leider niemand streitig. Gesetze gegen Scharlatanerie werden nicht angewendet, weil Geld und Politik im Spiel sind.“

 Sektenchef David Miranda, mit Filialen selbst in Deutschland, treibt unweit vom Parapsychologie-Institut, im angeblich weltgrößten Tempel den Teufel aus, „erweckt“ gar Tote zum Leben. Und Sektenpredigerin Lanna Holder versetzt mit psychologischen Tricks, ihren Schrei-Kaskaden, ganze Fußballstadien in Hysterie und Ekstase:“Jetzt wird die Hölle in ihren Fundamenten erschüttert, werden Krebskranke geheilt, können Querschnittsgelähmte wieder gehen!“

Alles natürlich Blödsinn, völlig absurd, illegal, üble Täuschung, Gehirnwäsche, kommentiert Padre Quevedo auch in Vorlesungen an theologischen Fakultäten. „Wenn selbst gebildete Leute an Reinkarnation glauben, ist das wirklich die größte Idiotie.“

 Bischöfe und Padres werden beinahe täglich bedrängt, gelöchert, irgendwelche unerklärlichen Dinge, mysteriösen Vorfälle gar als Wunder oder göttliche Signale anzuerkennen. „Die Sekten lärmen natürlich gleich, der Teufel und Geister seien im Spiel –  und reißen das einfache Volk mit.“ 

Quevedo klärt deshalb seit über dreißig Jahren auf, widmet sich scheinbar übernatürlichen Phänomenen, selbst Telepathie, Halluzinationen und Trance, nennt sein Metier eine spannende, schöne Sache. „Bei den sogenannten Erscheinungen, etwa Gesichtern in den Wolken, handelt es sich in Wahrheit um Visionen der betreffenden Personen, also um Produkte der Imagination, ein ganz natürlicher Vorgang. Oft interpretiert man die Bibel falsch.“

Quevedo wird von der Bischofskonferenz voll unterstützt – selbst ihr Präsident, Kardinal Geraldo Majella Agnelo, machte bei ihm einen Kurs. „Sie hat längst die Bedeutung meiner Wissenschaft für das abergläubische Brasilien erkannt und angewiesen, daß ohne fundierte parapsychologische Kenntnisse niemand die Priesterweihe erhält.“

Padre Quevedo nennt sich  einen Fan der Heiligen Jungfrau von Guadalupe in Mexiko, hat von ihr mehrere Gemälde im Institut, stellt immer wieder die von Christus, den Aposteln bewirkten Wunder heraus.„Immer noch werde ich verleumdet, obwohl sich die Lage bessert, wir immer mehr Irrtümer aufklären. Die Wahrheit wird sich durchsetzen – alles nur eine Frage der Zeit.“ 

 

Porno-und Gewaltvideos in Deutschland – und Brasilien

Anleitung zu sadistischen Verbrechen

Killerspiele, Pornovideos sind unschädlich für die Psyche – behaupteten jahrzehntelang die Hersteller und ihre Marketingstrategen beinahe unwidersprochen in den deutschen Medien. Jedermann mit gesundem Menschenverstand griff sich an den Kopf. Am Monitor sich als Massenmörder, Massenvergewaltiger austoben, in Videos den sexuellen Mißbrauch von Mädchen und Frauen gleich serienweise erleben – das soll ohne Folgen auf die Persönlichkeitsentwicklung sein? „Die Gewaltbereitschaft ist mit dem Gewaltmedienkonsum in erschreckender Weise angestiegen“, sagt jetzt der renommierte Tübinger Psychologe Günter Huber, hat das Verhalten von 12-und 14-jährigen Hauptschülern intensiv untersucht. Wie die Lehrerverbände beklagen, sind Porno-und Gewaltvideos inzwischen an den deutschen Schulen allgegenwärtig. Hubers Zweijahres-Studie zeigt: Solche perversen Produkte der „Kulturindustrie“ formen den menschlichen Charakter negativ, und nicht nur von Kindern und Jugendlichen. Denn laut Huber bekommen viele „Kids“ derartige Gewaltmedien just von den Vätern, älteren Geschwistern. Die 14-jährigen Video-und Game-Nutzer, so der Psychologe über seine Studie, sind wegen Aggression und Übergriffen stärker aufgefallen. Hass-und Rachegefühle konnten ebenso festgestellt werden wie „eine Art von Allmachtsphantasie“. „Aber wenn wir feststellen, daß 12-Jährige keineswegs nur in Einzelfällen täglich fünf Stunden und mehr mit Gewalt vorm Bildschirm beschäftigt sind, dann müssen wir fragen, in welcher Welt diese Jugendlichen aufwachsen. Für mich sind diese Beobachtungen erschreckend.“ Für den Lehrerverband könnten extreme Sexualitätsdarstellungen die Entwicklung einer gesunden Einstellung zur Sexualität dauerhaft schädigen. Warum die Politik bisher nicht eingriff, die Dinge einfach laufen ließ, ist mehr als unverständlich. Schließlich sind in Staaten wie Brasilien, 24-mal größer als Deutschland, die Auswirkungen von Porno-und Gewaltvideos sowie Killerspielen bereits seit den achtziger Jahren allgemein bekannt.  Nehmen wir den zwölfjährigen Paulo Torres in der Megacity Sao Paulo: An den Wochenenden konsumiert er von morgens bis weit nach Mitternacht ein Gewaltvideo nach dem anderen. Zudem hat er Riesenspaß daran, per Killerspiel Tausende von Menschen sadistisch zu foltern und zu ermorden. Paulos Bruder Antonio, 14, bevorzugt bereits Gewaltpornos – und Videogames, bei denen man beliebig viele Mädchen und Frauen jeden Alters quälen, vergewaltigen und töten kann. Die Mutter der beiden schaut lieber gar nicht hin: „Was soll man machen – es sind halt Machos – und die mögen eben sowas.“ Eingreifen, verbieten – darauf käme sie nicht, ebensowenig der Vater.  Die Mittelschichtskids Paulo und Antonio besorgen sich das Zeug spottbillig nahe der City-Kathedrale und der Präfektur – Raubkopien selbst der perversesten Videos oder Games verkaufen die Scharen der Straßenhändler bereits ab umgerechnet 40 Cent. Gemäß einer neuen Umfrage sitzen allen Ernstes 100 Prozent(!) der Mittel-und Oberschichtskinder lieber vor dem Fernseher, sehen Videos,  anstatt zu spielen – bei den unteren Schichten liegt die Rate bei 97 Prozent. In den über 2000 Slums von Sao Paulo gehören Gewaltpornos seit langem zum Massenkonsum von Halb-und Vollanalphabeten. Kein Geheimnis, daß auch in den Ghettos von Rio de Janeiro die hochbewaffneten Banditenkommandos bereits seit den achtziger Jahren begeisterte Fans solcher Videos und Killerspiele sind, das dort Gezeigte, Praktizierte als Anregung nutzen und an wehrlosen Slumbewohnern ausprobieren. Und längst selber Gewaltpornos drehen, das Vergewaltigen von Slum-Mädchen, und sogar das Zerstückeln von Menschen filmen. Im diesjährigen Berlinale-Gewinner „Tropa de Elite“ des brasilianischen Regisseurs José Padilha wird gezeigt, wie Banditen einen jungen Mann auf einem Scheiterhaufen aus Autoreifen lebendig verbrennen – für ungezählte junge Brasilianer war die Szene überhaupt nicht schockierend, soetwas hatte man schließlich bereits aus der Nähe gesehen. Längst ist der Export von Porno-und Gewaltvideos für brasilianische Unternehmer ein Bombengeschäft. Wie das Nachrichtenmagazin „Carta Capital“ unter Berufung auf Interpol berichtet, stieg das Tropenland zum weltweit viertgrößten Lieferanten pornographischer Materialien auf, die unter anderem das Vergewaltigen achtjähriger Mädchen durch erwachsene Männer zeigen. Für die zuständigen Autoritäten ganz offensichtlich kein Grund zum Eingreifen – die katholische Kirche dagegen verurteilt diese Zustände bereits seit den neunziger Jahren außerordentlich scharf. Renommierte Sozialwissenschaftler und Therapeuten wie Jurandir Freire Costa konstatierten „ethisch-moralische Schizophrenie“ in Brasilien, während der damalige Primas von Brasilien, Kardinal Lucas Moreira Neves, „Anstiftung zur Gewalt, Verblödung ganzer Bevölkerungsschichten, Vermischung von Gewalt und Pornographie“ erkannte. 2008 warnt die angesehene Psychologin und Kolumnistin Rosely Sayao in Sao Paulo:“Wir leben in einer Kultur der Gewalt – diese Tatsache schadet tiefgreifend der Bildung unserer Kinder.“ Gewalt in jeder Form sei so banal geworden, daß sie häufig nicht einmal mehr bemerkt werde. Schüsse und Messerstechereien in Schulen, brutale Attacken auf Lehrerinnen – längst beinahe normal. Gewaltpornos scheinen der Alltagserfahrung entlehnt, sind keineswegs nur absurde Fiktion. Die brasilianische Kirche betont den klaren Zusammenhang zwischen zunehmender Gewaltvideo-Verbreitung und deutlich wachsender Rate von Vergewaltigungen und sexueller Belästigung. Daß inhaftierte Sexualverbrecher fast durchweg gerne Hardcore-Pornos sahen, ist längst auch aus internationalen Studien bekannt. Nicht zufällig, so Rio de Janeiros Kardinal Eugenio Sales, hat zudem die Zahl der zehn-bis vierzehnjährigen Mütter in Brasilien geradezu sprunghaft zugenommen – vor allem in den stark gewaltgeprägten Slums. „Wir verzeichnen eine Zerstörung ethisch-moralischer Werte, die vor Jahrzehnten noch völlig undenkbar gewesen wäre.“ Brasiliens Mordrate ist mehr als dreißigfach höher als in Deutschland.

 

Papst in Brasilien: Lateinamerikas Bischöfe müssen effizienter werden

 Qualitätssprung und Evangelisierungsoffensive gefordert

„Bento 16“ hat den Bischöfen des von offenen und verdeckten Bürgerkriegen, perversesten Sozialproblemen gezeichneten Lateinamerika den Rücken gestärkt, doch auch klar und präzise Kritik geübt, Lektionen erteilt, intensiv zugehört. In Brasilien beispielsweise, dem immerhin größten katholischen Land der Welt, glauben 97 Prozent an Gott, ist das Volk enorm religiös – ganz anders als im reichen Herkunftsland des Papstes. Diesen Vergleich können alle lateinamerikanischen Bischöfe mit Stolz ziehen, auf das unter schwierigsten Bedingungen Geleistete verweisen. Im Riesenland Brasilien geben zudem rund siebzig Prozent die höchste Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche, während Parteien und regierende Politiker absolute Schlußlichter sind, gemäß den Umfragen nicht einmal zehn Prozent(!) erreichen. Der Papst schien den Kirchenoberen während seiner Visite zuzurufen: Macht mehr daraus! Zwar ist Lateinamerikas „Igreja Catolica“ unbestritten die moralische Reserve der Gesellschaft gegen die egoistischen Machteliten, dazu konsequenteste Verteidigerin der Verelendeten in den Ghettos. Doch trotzdem ist eine „stille Flucht“ vieler Gläubigen zu den Sekten im Gange, wie es Sao Paulos neuer deutschstämmiger Erzbischof Odilo Scherer ausdrückt. Hat die Kirche zuviel an der politischen Front gegen Hunger und Misere gefochten, darüber das Evangelisieren, das den Latinos so wichtige Mystisch-Spirituelle vernachlässigt? Genauso sieht es der Papst und will deshalb eine regelrechte Evangelisierungsoffensive. Nicht wie es die Wunderheilersekten machen, mit militantem Bekehrungseifer, sondern intelligenter. Zu einer Kirche mit attraktivem spirituellen Innenleben, getreu den Doktrinen und christlichen Werten, so sieht es der Heilige Vater, dürften übergelaufene Gläubige sehr wohl zurückkehren. Zuviele, das beobachtet man überall in Lateinamerika, werden von der Kirche zwar getauft, dann aber mit fragilem Glaubenswissen und konfuser Religiosität alleine gelassen. Nur zu oft leichte Beute der Sektenscharlatane – zumal in einem Land mit hoher Analphabetenrate, schlechtesten öffentlichen Schulen wie Brasilien. Just zum Papstbesuch gab die dortige Kirche daher einen leicht verständlichen Glaubensleitfaden heraus. Dadeus Grings, deutschstämmiger Erzbischof von Porto Alegre:“In einer pluralistischen Gesellschaft muß der Katholik im Dialog mit den anderen erst mal wissen, wer er überhaupt ist.“

 Entschuldigt der gravierende Priestermangel, daß gerade an den wie in Rio von Banditenmilizen beherrschten Slumperipherien die Sekten immer erfolgreicher agieren? Benedikt XVI. läßt das nicht gelten. Wo die Armen sind, muß auch die Kirche sein, ob mit Priestern oder Laien. Er will die Katholiken als „mutige und tüchtige Missionare“ überall auf dem „Kontinent der Hoffnung“, will einen Qualitätssprung in den Diözesen. So mancher Bischof weiß deshalb, was ihm die nächste Zeit blüht: Nicht wenige Gläubige, die dem Papst gut zuhörten, werden mehr Effizienz, frische Ideen, Lösungen, Projekte einfordern.

Anders als viele in Europa denken, können die progressiven, befreiungstheologischen Bischöfe und Geistlichen Lateinamerikas mit „Bento 16“ viel besser als mit Vorgänger „Joao Paulo Segundo“. Denn auch an sie sandte der Papst in Sao Paulo und Aparecida viele interessante Signale, veranlaßte zu überfälliger Selbstkritik. „Eine Kirche, die nur kämpft und kämpft, sich permanent engagiert, politische Reden hält, geht den einfachen, spirituellen Gläubigen natürlich auf die Nerven“, sagt einer aus dem befreiungstheologischen Klerus-Flügel. „Gut, daß wir deshalb jetzt die Charismatische Erneuerungsbewegung mit ihrer Alegria in der Kirche haben.“ Dieser Papst schätze interessante Argumente, höre zu, kenne Lateinamerikas Probleme sehr genau.

 Ist das jetzt schon Einmischung in innere Angelegenheiten, fragten sich brasilianische Staatsautoritäten, weil „Bento 16“ die grassierende Korruption in Politik und Wirtschaft ebenso geißelte wie scheindemokratische Regierungen und gewinnsüchtige Unternehmer, die schließlich für absurdeste Sozialkontraste, ausufernde Rauschgiftkriminalität und rasches Slumwachstum hauptverantwortlich sind. Durch solche treffenden Analysen fühlen sich alle Lager des lateinamerikanischen Klerus vom Papst verstanden.

 

Der Bayer Manfred Göbel in Brasilien

Vom katholischen Missionar zum wichtigsten Leprabekämpfer

Arbeit mit hohem Lebensrisiko

„Die Politiker müßten mehr Herz für ihr eigenes Volk haben“

Im Mittelalter wütete die Lepra auch in Deutschland, wurden die „Aussätzigen“ in 20000 Siechhäusern isoliert. Lediglich dank besserer Lebensbedingungen, ohne jegliche Therapie, konnte die Lepra bereits vor zweihundert Jahren ausgerottet werden. Weltweit gibt es jedoch noch Millionen von Kranken, die meisten in Indien, gefolgt von Brasilien. Dort ist Missionar Manfred Göbel aus dem bayrischen Eichstätt der bekannteste, angesehenste Leprabekämpfer. Derzeit koordiniert er 15 internationale Leprahilfswerke, darunter die „Deutsche Lepra-und Tuberkulosehilfe“, verhandelt mit der Regierung, unterstützt die Verbände der Lepraopfer. Denn das Tropenland zählt 98 Prozent aller Leprafälle Nord-und Südamerikas.

 

 Brasilien ist die zehntgrößte Wirtschaftsnation, exportiert Flugzeuge und Hightech, Rindfleisch und Soja auch nach Deutschland, hat ein milliardenteures Raumfahrtprogramm. Und trotzdem noch Lepra wie im Mittelalter?

 

Etwa 48000 neue Leprafälle jährlich – das ist kaum zu fassen. Weil die sozialen Probleme nicht gelöst sind. Millionen hausen in den Slums unter unmenschlichen Bedingungen – es ist schockierend. Man fragt sich, wie die dort überhaupt überleben können, ohne Perspektive.  Lepra ist ein Problem sozial ungerechter Strukturen, der  Konzentration des Reichtums. In Brasilien sind diese Strukturen weltweit am ungerechtesten –  es hat sich die letzten Jahre nur sehr wenig verändert.“

 

Der westliche Teilstaat Mato Grosso, in dem Sie leben, ist eine Boom-Region, ungeheuer reich – liegt trotzdem bei der Lepra vorn?

 

Das ist es ja. Mato Grosso ist dreimal so groß wie Deutschland, produziert 25 Millionen Rinder, 30 Millionen Tonnen Sojabohnen jährlich, vieles andere mehr. Die zweieinhalb Millionen Bewohner müßten eigentlich mehr als wohlgenährt sein. Doch 800000 leben in Armut, Elend. Neu angelegte Städte sind sehr reich und wohlstrukturiert – und dennoch ist die Leprarate dort am höchsten. Wegen der krassen Gegensätze zwischen Reich und Arm. Viele leben in einfachen Hütten, ohne Hygiene, im Chaos. Schrecklich, daß auch sehr viele Kinder erkranken.

 

Lepra ist längst durch Antibiotika in mehreren Monaten heilbar – warum geschieht das nicht flächendeckend im reichen Brasilien? Warum wird nicht genug in die Früherkennung investiert, kommen viele Kranke erst dann zur Behandlung, wenn grauenhafte Folgeschäden, Verstümmelungen nicht mehr zu verhindern sind?

 

Die Gelder müßten besser eingesetzt, die massive Zweckentfremdung müßte gestoppt werden. Die Politiker müßten mehr Herz für ihr Volk haben, sich mehr für die Benachteiligten einsetzen. Und man müßte mehr in die Erziehung, in das prekäre Schulwesen investieren, um das Niveau der Bevölkerung zu heben. Asiatische Länder erreichten dadurch große Fortschritte. Deshalb ist heute meine Hauptarbeit, mit den Regierungen von Bund und Ländern über eine effizientere Leprabekämpfung zu verhandeln. Ich muß allen Ernstes Politiker, selbst Bürgermeister davon überzeugen, etwas gegen die Lepra zu tun. Dabei warten derzeit immerhin etwa  hunderttausend Leprakranke mit schweren Folgeschäden  auf chirurgische Maßnahmen. Ich fördere Problembewußtsein, damit möglichst viele Menschen die Lepragefahr verstehen, sich organisieren und politische Forderungen stellen. Ich arbeite auch mit Menschenrechtsorganisationen zusammen, weil Leprakranke diskriminiert, sogar entlassen werden.

 

Der Papst besucht im Mai die brasilianische Megacity Sao Paulo, Lateinamerikas reichste Stadt. Gibt es in den 2000 Slums etwa noch Lepra?

 

Und wie – jedes Jahr werden über 6000 neue Fälle registriert, grassiert außerdem Tuberkulose. In fünfzig Slums von Sao Paulo starte ich deshalb  jetzt ein Programm gegen tödliche TBC. Brasilienweit zählen wir jährlich etwa 100000 Neuerkrankungen, viel mehr als bei der Lepra.

 

Sie kamen 1979, mitten in der schwärzesten Phase der Militärdiktatur, als katholischer Missionar ins größte lateinamerikanische Land, wo jährlich über 50000 Morde geschehen – arbeiten Sie immer noch unter hohem Lebensrisiko?

 

Um die Leprabekämpfung aufzubauen, bin ich über eine Million Kilometer mit dem Jeep durch den Urwald gefahren und mußte oft vor Berufskillern, bewaffneten Banden flüchten. Heute sind Gewalt und Kriminalität noch viel höher – die Menschen in Brasilien haben Angst. In der Stadt Cuiabà, wo ich wohne, stellen Drogenbanden sogar Straßensperren auf, gibt es täglich Überfälle und Entführungen. Letztes Jahr wurde meine Sekretärin verschleppt. Ich bin jetzt in Cuiabà von Gangstern verfolgt worden, mußte mit 120 durch die Stadt rasen, um denen zu entkommen. Wenn man sich für die sozialen Probleme einsetzt, muß man vor allem als Ausländer sehr aufpassen, auf welcher Ebene man sich bewegt.

 

Der unerschrockene Amazonas-Bischof Erwin Kräutler aus Österreich – Die Killer lassen nicht locker

Kopfgeld auf fast 400000 Euro erhöht. Kampf für Natur und Menschenrechte stört Großfarmer und Holzfirmen

Auf dem mächtigen Amazonas-Strom, teilweise über zehn Kilometer breit, schippern europäische Kreuzfahrtschiffe – Folklorebands und Reisebetreuer gaukeln den Touristen exotische Urwaldromantik vor wie aus dem Tropenbilderbuch, den bunten Hochglanzprospekten. Daß nur unweit der Luxusdampfer grauenhafte Sklavenarbeit, Terror gegen Indianer und Landlose, politische Morde und skrupellose Naturvernichtung alltäglich sind, wird lieber verschwiegen. Doch in dieser gewaltgeprägten, widerspruchsvollen Realität wirkt  Bischof Erwin Kräutler und weiß nur zu genau, daß sein Alltagsleben, seine Seelsorgearbeit das Vorstellungsvermögen der meisten Europäer  übersteigen. Jeden Moment, ist Kräutler bewußt, können tödliche Salven auf ihn abgefeuert werden oder Bomben explodieren, kann er durch andere hinterhältige Anschläge ausgelöscht werden. Als vor über zwei Jahren die Morddrohungen zunehmen, Berufskillern umgerechnet nur einige zehntausend Euro geboten werden, läßt die brasilianische Regierung den mutigen, weltbekannten Kirchenmann sicherheitshalber rund um die Uhr von zwei Militärpolizisten bewachen. Doch wer heute den Bischof umbringt, ist auf einen Schlag Millionär. Denn der Haß von Kräutlers Todfeinden aus Wirtschaft und Politik ist so gewachsen, daß sie das Kopfgeld auf eine Million der Landeswährung Real erhöhten, umgerechnet fast 400000 Euro. Ein Polizeibeamter hörte dies jetzt zufällig mit, nahm indessen jene Männer, die da über Kräutlers Ermordung verhandelten und dessen ständige Bewacher als kleine Fische einstuften, keineswegs etwa fest. Hinweis auf die bizarre Situation, die selbst Kräutler  mit Wildwestfilmen vergleicht. „Ein Bürgermeister, den ich persönlich kannte, ließ einen unbequemen Abgeordneten vor dessen Frau und Kindern abknallen. All das passiert – und steht nie in der Zeitung. Straflosigkeit dominiert.“ Seit 1980 kämpft Kräutler in Amazonien für die Gläubigen und deren Menschenrechte – überreichlich Stoff für einen spannungsgeladenen Film: Zur Diktaturzeit schlägt ihn die Militärpolizei bei einer Protestaktion zusammen. 1987, schon während der „Demokratie“, überlebt er schwerverletzt einen als Autounfall inszenierten Mordanschlag – ein Lastwagen rast in sein Auto, tötet den neben ihm sitzenden italienischen Priester. Einer der Männer im LKW beklagt kurz darauf, daß man den Falschen liquidiert habe – der Fall wird nie aufgeklärt, niemand wird bestraft. 1996 wird Kräutlers Mitarbeiter und Ordensbruder Hubert Mattler aus Österreich just in dem Moment erschossen,  als er im Hause des Bischofs gerade auf dessen Stuhl sitzt. Kräutler leitet Brasiliens größtes Bistum – mehr als viermal so groß wie Österreich. In der nordamerikanischen Urwaldmissionarin Dorothy Stang hat er  eine engagierte Mitstreiterin – 2005 wird sie von bezahlten Killern im Auftrage von Farmern und Holzunternehmen liquidiert. Wegen der enormen internationalen Proteste, um weiteren Imageverlust zu vermeiden, läßt Brasilia den Fall rasch „aufklären“ – fünf Tatbeteiligte kommen hinter Gitter. Kräutler indessen entlarvt ein Komplott zum Schutze vieler einflußreicher Hintermänner. „Ich habe ganz explizite Morddrohungen erhalten, weil ich fordere, daß die Ermittlungen bis ins kleinste Detail weitergehen. Damit habe ich mir natürlich nicht nur Freunde geschaffen. Denn hinter dem Mord an Dorothy Stang stehen auch Politiker aus höheren Etagen.“ Zudem hat Kräutler auch noch massiven sexuellen Kindesmißbrauch, viele Fälle von Kinderprostitution enthüllt, in die ebenfalls Politiker, Großgrundbesitzer und andere Unternehmer verwickelt sind. „Aus christlicher Überzeugung muß ich als Bischof gegen viele Rechtsverletzungen kämpfen, weil der Staat hier nicht präsent ist, seine Pflichten zum Schutze der Menschen und der Amazonasnatur nicht erfüllt.“ In Kräutlers Teilstaat Pará, mehrfach größer als Deutschland, wird gemäß Rechtsexperten nur in vier Prozent der Mordfälle überhaupt ermittelt. Steht wegen des neuen Kopfgeldes von fast 400000 Euro ein Attentat auf den Bischof unmittelbar bevor? In einem Manifest hat Brasiliens katholische Kirche das Justizministerium und die Bundespolizei jetzt zum raschen Handeln aufgefordert:“Jene, die Erwin Kräutler liquidieren wollen, besitzen mit Sicherheit viel wirtschaftliche und politische Macht“. 

 

Morddrohungen gegen Brasiliens Urwaldbischof Erwin Kräutler 

Kämpfer gegen Menschenrechtsverletzungen, Umweltzerstörung, sexuellen Kindesmißbrauch

Amazonien, seine Regenwälder zählen zu den faszinierendsten Regionen dieser Erde. Doch der aus Österreich stammende Bischof Erwin Kräutler, 62, wirkt seit 41 Jahren keineswegs in einem bunten, exotischen Tropenparadies wie aus der Tourismuswerbung. Von nahem betrachtet, offenbart sich eine grausame Alltagsrealität, entdeckt man archaische, neofeudale Gesellschaftsstrukturen, sogar Reste von Sklaverei. Großgrundbesitzer, Holzfirmen und ihre Handlanger in der Politik kennen nur zu oft keine Skrupel, terrorisieren die einfache Bevölkerung, lassen Mißliebige durch Berufskiller ermorden. Umweltschützer, kirchliche Menschenrechtsaktivisten und Geistliche haben deshalb in Amazonien einen schweren Stand. „Weit weg von der Hauptstadt“, so Erwin Kräutler, „ist hier eine gesetzlose Gegend, die man mit Wildwestfilmen vergleichen kann.“ Zur Diktaturzeit schlägt ihn die Militärpolizei zusammen. 1987, schon während der „Demokratie“, überlebt er schwerverletzt einen als Autounfall inszenierten Mordanschlag. „Man erwischte den Falschen! Ein Mitbruder starb für mich, an meiner Seite.“

Kräutlers Bistum am gewaltigen Rio Xingù ist mehr als viermal so groß wie Österreich, das größte ganz Brasiliens. Zwar stehen das einfache Volk, die Gläubigen auf Kräutlers Seite – doch seine Gegner sind einflußreich, kommen aus  Politik und Wirtschaft.

Letztes Jahr wurde in Bischof Kräutlers Bistum die nordamerikanische Umweltaktivistin und Missionarin Dorothy Stang ermordet, was weltweit Aufsehen erregte. Der Fall schien relativ rasch geklärt, fünf Tatbeteiligte kamen in Untersuchungshaft, drei bereits vor Gericht. Bischof Kräutler entlarvte indessen ein Komplott zum Schutze vieler weiterer einflußreicher Hintermänner. Auch deshalb ist er jetzt in großer Lebensgefahr. “Ich habe ganz explizite Morddrohungen erhalten, weil ich fordere, daß die Ermittlungen bis ins kleinste Detail weitergehen. Damit habe ich mir natürlich nicht nur Freunde geschaffen.  Denn hinter dem Mord stehen auch Politiker aus den höheren Etagen.“

–Staudammprojekt Belo Monte—

Als zweiten Grund für die Morddrohungen nennt Bischof Kräutler seinen Widerstand gegen ein bei Altamira geplantes, gigantisches Staudammprojekt namens Belo Monte. Die Regierung von Staatschef Lula ist dafür –  dem Vernehmen nach will sich China beteiligen, das zahlreiche solcher umstrittenen Stauwerke errichtete. In-und ausländische Experten nennen Belo Monte wirtschaftlich unsinnig. Bischof Kräutler argumentiert:“Durch das Megaprojekt würde zudem Amazonasnatur zerstört, würden die Stammesgebiete vieler Indios überflutet, die Uferbewohner geschädigt – und weil das gegen die Menschenrechte ist, bin ich auf die Barrikaden gegangen.“

 Bischof Kräutler legt sich mit mächtigen Interessengruppen an. “Es handelt sich um eine Mafia, eine Gruppe von Spekulanten, die von heute auf morgen reich werden will. Wenn ich gegen die Ausbeutung von Amazonien, die skrupellose Abholzung bin, wenn ich sage, das ist Raub, wende ich mich natürlich gegen  all diese Leute, die sich davon wahnsinnige Gewinne versprechen. Deshalb heißt es, man muß den Bischof umbringen. Das Volk in Altamira wurde über das Megaprojekt nicht unterrichtet – man hat uns praktisch angelogen. “

Selbst in den Medien Nordbrasiliens wurde eine Kampagne gestartet, ganz offen die „Eliminierung“ Kräutlers empfohlen. Der Bischof wird allen Ernstes als „autokratischer Diktator“ bezeichnet, der ein Klima von Terror und Angst schaffe.

–sexueller Mißbrauch von Kindern—

Im nahezu rechtsfreien Raum Amazoniens wissen Menschen häufig in ihrer Not und Angst keinen anderen Ausweg, als sich an Kräutler zu wenden, ihn persönlich um Hilfe zu bitten.Nur zu oft erfährt er deshalb von schweren Verbrechen, Korruption, Machtmißbrauch der Politiker. Er muß dann einfach handeln, bringt meist als erster die Dinge an die Öffentlichkeit, zieht den Haß der Mächtigen auf sich. Für sie ist das Maß voll, als er jetzt auch noch massiven sexuellen Kindesmißbrauch, zahlreiche Fälle von Kinderprostitution enthüllt, in die Politiker, Großgrundbesitzer und andere Unternehmer verwickelt sind. Nur zu oft verkaufen Amazonas-Mädchen ihren Körper, um im Tausch nicht etwa Geld, sondern nur etwas zu essen zu bekommen – für sich und die ganze verelendete Familie. Kräutlers Stadt Altamira macht in Brasilien Schlagzeilen. „Da sind Leute zu mir gekommen und haben mir gesagt, so und so läuft das – aber bitte nenne meinen Namen nicht! Die Leute hier haben eben Angst. Also habe ich die oberste Sicherheitsbehörde informiert – schließlich geht es um Menschenrechte, die Menschenwürde der Frau, der Heranwachsenden.“

 Die Polizei ermittelte prompt, es regnete Haftbefehle. In Altamira gingen Tausende auf die Straßen, um gegen sexuellen Kindesmißbrauch zu protestieren. Demonstrationen dieser Art  gab es noch nie in Brasilien, das Fernsehen berichtete ausführlich über Kräutlers Initiative.

–Solidaritätsbotschaften aus aller Welt—

Ihm macht viel Mut, daß das einfache Volk Amazoniens, die Kirche des ganzen Landes jetzt auf seiner Seite steht. Die Gläubigen in Altamira, im gesamten Bistum zeigen jetzt Flagge: “Die Leute sagen zu mir, ich soll nicht aufstecken. Ich habe tausende Briefe erhalten, jeden Tag kommen neue Solidaritätsbotschaften. In den Kirchen lese ich Transparente mit der Aufschrift: Bischof Erwin, wir lieben dich! Nein, allein auf weiter Flur stehe ich keineswegs.“

Brasiliens soziale Bewegungen, mit denen Kräutler zusammenarbeitet, haben Staatschef Lula wiederholt vorgeworfen, auch bei den Bürgerrechten seine Wahlversprechen gebrochen zu haben. Die Mordrate liege in dem Tropenland um das Zehnfache höher als in Westeuropa, Gewalt fordere jährlich über fünfzigtausend Menschenleben. Der Teilstaat Parà, in dem Kräutler arbeitet, ist mehrfach so groß wie Deutschland. Laut Rechtsexperten wird dort nur in vier Prozent der Mordfälle überhaupt von der Polizei ermittelt, dominiert ein Klima der Straflosigkeit.

 

„Obdachlose werden erschossen und lebendig verbrannt“

Deutsche Hedwig Knist kämpft in Brasiliens Megacity Sao Paulo für gesellschaftlich Ausgeschlossene

Wie hält sie das psychisch aus? Hedwig Knist, die Sao Paulos katholische Obdachlosengemeinde leitet, muß fast täglich Hiobsbotschaften über Menschen verkraften, die sie nur zu oft sehr gut kennt. „Jetzt hatten wir wieder ganz extreme Angriffe gegen Obdachlose“, sagt sie. „Menschen werden erschossen, lebendig verbrannt – alles innerhalb weniger Tage, in der reichsten Stadt Lateinamerikas.“ Für einen der Verbrannten organisiert die frühere Gemeindereferentin aus dem Bistum Mainz einen Gedenkgottesdienst, der eigentlich Sao Paulo aufrütteln müßte. In Deutschland würde ein solcher Fall landesweites Entsetzen auslösen, käme nicht aus den Schlagzeilen – bei einem solchen Gedenkgottesdienst würden die zahlreichen Fernsehteams um den besten Platz in Altarnähe rangeln. Anders in Sao Paulo, der drittgrößten Stadt der Welt – die Medien vermelden weder den grausamen Tod des Obdachlosen noch den Gottesdienst. Daß ein Unbekannter mit dem Wagen nachts an schlafende Obdachlose Sao Paulos heranfährt, einen mit der Pistole erschießt, drei andere schwer verwundet, ist keinem Blatt einen Kommentar wert, wird nicht einmal im derzeit auf Hochtouren laufenden Wahlkampf erwähnt, scheint den verantwortlichen Politikern schlichtweg egal zu sein. Das macht die Situation von Hedwig Knist, der mit ihr kämpfenden Franziskaner und aller anderen Menschenrechtsaktivisten der Kirche um so bizarrer: Schließlich verzeichnen Länder im Kriegszustand wie der Irak gemäß einer neuen Schweizer Studie geringere Tötungsraten als Brasilien. Ordensbruder Marcus Mello braucht nur aus dem Fenster des Franziskanerklosters von Sao Paulo zu schauen – menschliches Elend gleich hundertfach: Direkt auf dem Platz vor der Franziskanerkirche hausen ganze Großfamilien, schlafen dort mit zerrissener Kleidung, schmutzig, abgehungert. Die Franziskaner helfen nach Kräften, verteilen Nahrungsmittel und Kleider aus Spenden, führen Projekte zur Berufsausbildung, gesellschaftlichen Wiedereingliederung. Doch das Misereproblem ist so nicht lösbar – denn nie zuvor, so scheint es, war die Zahl der Entwurzelten und Verelendeten auf den Straßen Sao Paulos so groß. „Diese Menschen werden verfolgt, kriminalisiert und eliminiert, wie Müll behandelt“, sagt Franziskanerbruder Marcus Mello. Aber die Sozialpolitik von Staatspräsident Lula bekommt doch auch in Deutschland nur gute Noten? „Brasiliens soziale Ungleichheit ist unter Lula gewachsen, seine Regierung hat uns verraten – die tatsächliche Lage unseres Landes wird vertuscht und beschönigt.“ Die Zahl der Dollar-Millionäre jedenfalls wächst sprunghaft – 2007 waren es rund 143000, dieses Jahr sind es bereits an die 22000; die allermeisten leben in Sao Paulos Privilegiertenghettos, hinter hohen Mauern, mit Privatpolizei.

Aber sind viele dieser Obdachlosen denn verrückt geworden? Anstatt sich ruhige, eher ungestörte Plätze zum Schlafen zu suchen, nächtigen sie ausgerechnet direkt an lauten Stadtautobahnen, oft nur einen halben Meter von den vorbeirasenden Autos entfernt, mitten im hochgiftigen Abgasqualm, dazu in gleißendem Lampenlicht. Hedwig Knist und ihre Mitstreiter kennen den Grund sehr genau: Eine reine Vorsichtsmaßnahme – Obdachlosen-Killer müßten mit vielen Zeugen rechnen, das könnte von schlimmsten Gewalttaten abhalten. Gewalt durch den Staat beschreibt die Seelsorgerin:“Obdachlose werden weggeknüppelt, mit Wasserwerfern vertrieben. Man sammelt deren Sachen ein, spritzt deren Wolldecken naß, damit sie nicht mehr im Stadtzentrum schlafen. Das ist die Politik zur Zeit – weg mit den Obdachlosen.“ Weil deren Zahl immer größer wird, Misere zudem gravierende psychische Störungen erzeugt, werden laut Hedwig Knist die Chancen der Wiedereingliederung immer geringer. „Die Wirtschaft will qualifizierte Fachkräfte – doch wer denkt an das Heer dieser Ausgeschlossenen? Die brauchen ebenfalls Arbeit, um wieder eine eigene Wohnung haben zu können! Wir geben möglichst vielen in unseren Werkstatt-Projekten eine Überlebenschance.“

Seit 1995 protestiert die katholische Kirche jährlich landesweit mit dem sogenannten „Aufschrei der Ausgeschlossenen“ gegen krasse Mißstände, zieht in Sao Paulo mit Tausenden zum Gouverneurspalast. In der Megacity leiten die Franziskaner den Protest.  Hedwig Knist ist stets dabei:“Ich stehe dazu, daß ich auch arm bin – denn alle, die mitdemonstrieren, sind Arme.“

2004 schlagen Unbekannte in zwei nächtlichen Attacken mit Eisenstangen acht schlafende Obdachlose tot, weiteren sechs wird der Schädel zertrümmert, doch sie überleben. Die Täter werden bis heute nicht gefaßt. Auch bei perversen Untaten dieser Art in Rio de Janeiro und weiteren brasilianischen Großstädten vermutet die Polizei, daß Geschäftsleute oder Anwohner, die sich durch Obdachlose „gestört“ fühlen, hinter den Morden stecken. Das Absurde: Nicht wenige der „Straßenbewohner“, Moradores da Rua, im Billigstlohnland Brasilien sind in Wahrheit „vollbeschäftigt“, verdienen als Tagelöhner, Wagenwäscher, Bauarbeiter, Straßenhändler oder Altpapiersammler aber so wenig, daß selbst die primitivste Wohnung unerschwinglich oder die täglich Heimfahrt zur Slumhütte an der Peripherie viel zu teuer wäre.  Also übernachten in ganz Brasilien Ungezählte notgedrungen gleich unweit der Arbeitsstelle auf der Straße.

Sao Paulos Peripherie hat über 2000 Slums, in denen noch die mittelalterliche Lepra grassiert – in mehreren Ghettos sind Priester aus Irland, wie Michael Foody und Noel Coogan tätig. Soziale Verbesserungen für die Menschen ihrer Gemeinde sehen beide nicht. „Bisher bekommen die Menschen vorn der Regierung doch nur Almosen, die die Menschenwürde verletzen.“ Wer sich in den Ghettos umsieht, so der brasilianische Priester José Silva, entdeckt all das, was in den geschönten offiziellen Darstellungen fehlt und „versteckt“ wird. „In meiner Slumgemeinde hilft die Kirche jenen, die nichts zu essen haben, kein Geld für Medikamente besitzen. Wirklich jede Woche wird jemand ermordet – brauchen die Angehörigen unsere Solidarität.“ Sind die gesellschaftlich Ausgeschlossenen in Lateinamerikas führender Wirtschaftsmetropole, die immerhin rund tausend deutsche Unternehmen, von VW bis Mercedes-Benz zählt, lediglich eine Minderheit? Frei Valnei Brunetto aus dem Franziskanerkloster widerspricht:“Unglücklicherweise sind die meisten Bewohner Sao Paulos marginalisiert – wir Franziskaner kämpfen zuallererst für das Recht dieser Menschen auf Leben!“

 

Jagd auf Brasiliens kirchliche Menschenrechtler – Morde im Urwald und am Zuckerhut

„Staatschef Lula für Gewalttaten politisch verantwortlich“

Der Terror gegen kirchliche Menschenrechts-und Umweltaktivisten geht weiter. Nur elf Tage nach dem feigen Mord an der nordamerikanischen Urwald-Missionarin Dorothy Stang und mehreren ihrer Mitstreiter trifft es in Rio de Janeiro den 61-jährigen Dionisio Ribeiro Junior, fast aus den gleichen Motiven. Er will verhindern, daß ein von ihm mitgegründetes Naturschutzgebiet verwüstet wird, seltenste, vom Aussterben bedrohte Arten weiterhin gefangen und für hohe Summen an internationale Tierhändler verkauft werden. Das Schutzgebiet ist sein Lebenswerk, die UNESCO hat es zum Naturdenkmal der Menschheit erklärt. Monatelang wird Ribeiro Junior angekündigt, daß seine Tage gezählt sind. Letzte Woche, nach einem Treffen seiner Umweltgruppe, lauert ihm der Täter nachts auf, feuert aus dem Hinterhalt mit einem Gewehr – Blut fließt den Waldweg hinab. Auf einem ökumenischen Gedenkgottesdienst erinnern die Pfarrer daran, daß in Rio de Janeiro mehr als zehn bekannte Naturschützer ebenfalls im Visier der Killer sind. Einer der Bedrohten suchte deshalb sogar Schutz für einige Zeit in Deutschland. Eine Frau aus Ribeiro Juniors Umweltgruppe wurde vor zehn Jahren erschossen, die Täter wurden nie gefaßt. Wildwest-Zustände nicht nur in Amazonien, sondern  auch am Zuckerhut, in der Wirtschaftsmetropole Sao Paulo. In der  dortigen Kathedrale zelebriert der deutschstämmige Kardinal Claudio Hummes eine Gedenkmesse für alle Ermordeten – viele Fälle würden nie bekanntgegeben, registriert. Hummes:“Das Klima der Rechtlosigkeit, der Terror gegen die Armen, die Landlosen darf vom Staat nicht länger geduldet werden –  ohne eine gerechte Bodenverteilung geht die Gewalt weiter.“

  Auch der landesweit bekannte kirchliche Menschenrechtler Waldemar Rossi klagt in der Kathedrale die Lula-Regierung an:“Sie ist für die jüngsten Verbrechen politisch verantwortlich, hat gegenüber dem brasilianischen Volk eine schwere soziale Schuld auf sich geladen. Vor allem in den Urwaldgebieten dienen die Regierenden den Interessen der Großgrundbesitzer, illegalen Bodenspekulanten – und sorgen dafür, daß politische Morde und sogar Massaker straffrei bleiben.“

–Kopfgelder auf Geistliche, Pastoralanwälte—

Rossi leitet in Sao Paulo die Arbeiterseelsorge –  über dreitausend Kilometer entfernt im Urwald führt der französische Anwalt und Dominikaner Henri des Roziers in Xinguarà eine katholische Bodenpastoral. Er erhält wie sein französischer Kollege Xavier Plassat Morddrohungen – gemäß einer Todesliste beträgt das Kopfgeld für ihn umgerechnet rund dreißigtausend Euro, etwa doppelt so viel wie für Dorothy Stang. Roziers muß deshalb rund um die Uhr zahlreiche Sicherheitsregeln beachten. „Wir haben hier viele Feinde, die überglücklich wären, wenn ich auch von der Bildfläche verschwände“, sagt er. „Die Mächtigen Amazoniens hassen mich, weil ich als Anwalt viele Prozesse gegen gewalttätige Großgrundbesitzer, Pistoleiros, gerissene Bodenspekulanten begleitet, viele dieser Leute angezeigt habe. Meine Bodenpastoral kämpft vor allem gegen die verbreitete Sklavenarbeit – und das geht den archaischen Gutsherren stark auf die Nerven. Die Lage hier ist explosiv.“

Laut Roziers kann man in ganz Brasilien, besonders aber in den Nordregionen, mehrfach so groß wie Deutschland, sehr leicht einen Killer anheuern. Pistoleiro sei ein ganz normaler Beruf. „Nach zehn Jahren zähen Kampfes war es uns gelungen, daß mehrere berüchtigte Killer zu hohen Strafen verurteilt wurden, in Hochsicherheitsgefängnisse kamen. Aber alle konnten fliehen, teilweise durch die Hauptpforte, so wie viele, viele andere Pistoleiros. Und sie töten weiter!“ Auch für politische Morde gibt es in der Region von Anwalt Roziers eine feste Kopfgeld-Tabelle: Für Pfarrer, Landlosenführer, Politiker umgerechnet 5900 Euro, für einen Abgeordneten 4400 Euro, einen Gewerkschafter 2900 Euro – und 2300 Euro für den Kopf eines Pistoleiro, der als lästiger Zeuge unbedingt verschwinden muß.

„Großgrundbesitzer, die solche Verbrechen begehen wollen, fühlen sich völlig sicher, und wissen, daß sie niemals hinter Gitter kommen. Denn die Justiz funktioniert nicht, die Polizei ist untätig oder Komplize der Täter.“

Aber die mutmaßlichen Mörder von Dorothy Stang waren doch schon nach wenigen Tagen verhaftet worden? „Dieser Fall zeigt: Wenn die Lula-Regierung politischen Willen hat, solche Verbrechen aufzuklären, gelingt das auch. Bei der Missionarin handelte es sich um eine Nordamerikanerin, eine bekannte Persönlichkeit – deshalb machte Brasilia sofort mobil. Doch warten wir ab, ob es zu einem Prozeß kommt, Todesschützen und Auftraggeber tatsächlich verurteilt werden.“

–Archaisches Brasilien im Aufwind—

Anwalt Roziers bedrückt, daß ausgerechnet jetzt Brasiliens Rechte im Kongreß und in der Regierung wichtige Positionen eroberte. Der Diktaturaktivist Severino Cavalcanti wurde Präsident des Abgeordnetenhauses. Während des Militärregimes war er erbitterter Gegner des damals weltweit angesehenen Erzbischofs und Befreiungstheologen Helder Camara. Den aus Italien stammenden oppositionellen Priester Vito Miracapillo  zeigte Cavalcanti bei den Diktaturgenerälen an und erreichte dessen Ausweisung. „Amazoniens Sklaven-Farmer“ so Roziers, „haben ihre Politiker im Parlament, der Druck gegen uns wächst. Wir wissen nicht, ob die Regierung deshalb nachgibt, unsere Arbeit weiter erschwert.“

Der Dominikaner betont, daß alle von der Bodenpastoral, und nicht nur er, bedroht sind. „Der beste Schutz für uns wäre eine funktionierende Justiz, eine echte Agrarreform zugunsten der Landlosen. Besser als Bodyguards“, sagt er mit Galgenhumor.

Der Rechtsruck in Brasilia wirkte wie ein politisches Erdbeben, Staatschef Lula braucht die Rechte mehr denn je zum Regieren, für seinen neoliberalen Kurs, wie der renommierte Politikexperte Josè Murilo de Carvalho in Rio erläutert. „Sein Amt, das hohe Ansehen in der Ersten Welt haben ihn regelrecht berauscht, betört, fasziniert – doch inzwischen hat er viel von seinem Charisma verloren.“ Das nördliche Brasilien nennt auch Carvalho den „Wilden Westen“ des Tropenlandes. „Im Amazonasteilstaate Parà, wo man Dorothy Stang erschoß, wird nur in vier Prozent der Mordfälle überhaupt ermittelt, gibt es einen Prozeß.“ Und aus jenem „Brasil arcaico“, dem archaischen Brasilien, stammen der neue Parlamentschef Cavalcanti, die von ihm auf Spitzenposten gehievten Gesinnungsgenossen. Achtzig Prozent der Brasilianer, besagen seriöse Studien, halten die Politiker für unehrlich, korrupt, für Strauchdiebe. „Jetzt denken das die Leute noch mehr, sind gegenüber den demokratischen Institutionen noch mißtrauischer.“

 

Brasiliens Kirche appelliert an Europas Gläubige: Schweigt nicht zu diesen Zuständen hier

Sklavenarbeit, Umweltvernichtung, teure Nahrungsmittel und Misere in Brasilien – für volle Auto-Tanks in europäischen Staaten wie Deutschland? Die katholische Kirche des Tropenlandes hat jetzt an die deutschen Gläubigen appelliert, zu den unmenschlichen Bedingungen bei der Erzeugung des Kraftstoffs Ethanol aus Zuckerrohr nicht zu schweigen. Padre Antonio Garcia Peres, Generalsekretär der brasilianischen Wanderarbeiter-Seelsorge, sagte, die deutschen Kirchen müßten die Öffentlichkeit über die gravierenden Hintergründe und Folgen der Ethanolproduktion aufklären, vor allem brutale Menschenrechtsverletzungen  sowie Umweltzerstörung anprangern. Padre Peres lebt, arbeitet seit vielen Jahren nahe der Wirtschaftsmetropole Sao Paulo mitten in einer traditionellen Landwirtschaftsregion. „Die Böden im Teilstaat Sao Paulo zählen zu den fruchtbarsten der Erde – deshalb wurden hier früher alle wichtigen Grundnahrungsmittel, von Bohnen bis Reis, Getreide aller Art, angebaut. Wenn ich mich jetzt umschaue – ein wahrer Ozean von Zuckerrohr zur Ethanolerzeugung. Es ist der reine Wahnsinn – pure Geld-und Profitgier hat diesen absolut verrückten Ethanolboom ausgelöst, das muß man entlarven!“ Durch die Ethanolproduktion werde die Nahrungserzeugung stark reduziert, erhöhten sich die Lebensmittelpreise. In Sao Paulo, Brasiliens größter Stadt, seien schwarze Bohnen, ein wichtiges, sehr nährstoffhaltiges Grundnahrungsmittel im Lande, in den letzten zwölf Monaten um 168 Prozent verteuert worden. Mit  zunehmenden Ethanolexporten  auch nach Deutschland  werde all diese negative Entwicklung weiter forciert.

Ist das die einsame Position eines Provinzpadres, der die Welt, die neuen Zeiten nicht mehr versteht? Schließlich rühmt auch Deutschlands Wirtschaft jenes Ethanol als „Biosprit“, als sauber, umweltfreundlich, fortschrittlich. Padre Peres ist längst gefragter Experte, reist häufig in europäische Länder, wird von Nichtregierungsorganisationen ebenso wie von der UNO regelmäßig konsultiert. Nicht zufällig nennt diese die Erzeugung von Agro-Treibstoffen sogar „ein Verbrechen gegen die Menschheit“ – Lateinamerika werde ebenfalls von der neuen, weltweiten Hunger-und Nahrungsmittelkrise erfaßt.  Padre Peres hat die gesamte Bischofskonferenz Brasiliens hinter sich, arbeitet eng mit kirchlichen, nicht-kirchlichen Umwelt-und Menschenrechtsaktivisten zusammen. Und beruft sich stets auf Jesus Christus: „Er hat uns gelehrt, brüderlich zu handeln, für christliche Werte zu kämpfen. Kirche darf nicht heißen, nur Gottesdienste zu zelebrieren, eine leere Spiritualität zu predigen. Echter Glaube zeigt sich in der täglichen Praxis! Deshalb darf die Kirche jetzt Jesus Christus nicht verraten, darf nicht mithelfen, diese unerträglichen Zustände zu verstecken oder zu bemänteln, sondern muß ganz im Sinne von Jesus klar Position beziehen, muß informieren und hinterfragen, hat dort in Deutschland jetzt eine ganz wichtige Rolle.“ Vor dem Hintergrund der Nahrungskrise müßten die Kirchen zudem ein weltweites Netz der Solidarität knüpfen, auf die Einhaltung der Menschenrechte dringen. „Die Wohnlager der Zuckerrohrarbeiter erinnern mich an deutsche KZs – nur durch abstoßendes, inhumanes Sozialdumping sind brasilianisches Ethanol, brasilianischer Zucker auf dem Weltmarkt so billig!“

Padre Peres beobachtet, wie nicht nur im Teilstaate Sao Paulo mit seinen deutschen Auto-Multis von VW bis Mercedes-Benz europäische, darunter deutsche Investoren Milliarden Euro in die Ethanolerzeugung stecken. „Pflegt man in Deutschland nicht diesen wunderschönen Diskurs von der sozialen Verpflichtung des Eigentums, vom Wert des human factor – vergißt das aber in Brasilien?“, fragt er ironisch. Und richtet auch an die Investoren einen Appell:“Sie dürfen nicht nur auf rasche Superprofite schauen, sondern müssen hier beim Respektieren von Menschenrechtsnormen und Sozialstandards ein Beispiel geben! Mit Menschenleben darf man nicht spielen – Investoren sollten sich nicht zu Komplizen skandalöser Zustände machen!“

 Brasilien ist die zehntgrößte Wirtschaftsnation, Sao Paulo ihr reichster , ökonomisch führender Teilstaat. „Und dennoch verdeckte Sklaverei, viele Arbeiter sterben vor Erschöpfung!“ Kaum zu fassen, aber Zuckerrohrarbeiter auf den endlosen Plantagen verdienen monatlich allerhöchstens umgerechnet etwa 300 Euro. Wer als Zuckerrohrschneider mit dem schweren Haumesser pro Tag nicht mindestens acht Tonnen schafft, fliegt raus. Immer mehr Arbeiter nehmen deshalb harte Drogen wie Crack, um durchzuhalten, die körperlichen Schmerzen zu ertragen. „Das sind bitterarme, häufig schlecht ernährte Wanderarbeiter aus dem tausende Kilometer entfernten Nordosten – man braucht sich nur vorzustellen, wie die am Ende des Arbeitstages aussehen – fix und fertig!“ Unter den Zuckerrohrplantagen liegt das bis Argentinien reichende, weltgrößte Süßwasservorkommen. „Das wird durch den massiven Pestizideinsatz kontaminiert.“

Über dreitausend Kilometer von Padre Peres entfernt, fordert in Amazonien der aus Österreich stammende Bischof Erwin Kräutler sogar einen Stopp für weitere Zuckerrohrplantagen, kritisiert den Ethanolboom ebenfalls scharf. „Wer im Weg ist, wird erschossen“, sagt Kräutler zu den vielen Morden an Umwelt-und Menschenrechtsaktivisten, die sich den Vernichtern der Schöpfung in den Weg stellten. Der Bischof selbst überlebte Attentate, ist von Mord bedroht, wird rund um die Uhr durch Polizisten bewacht. Daß man in Europa meist so gleichgültig gegenüber den Zuständen in Lateinamerika ist, erbittert ihn. „Es ist kurzsichtig zu sagen, damit habe ich nichts zu tun! Wir sind in einer einzigen Welt. Wir tragen auch Verantwortung für andere Teile der Welt und die Menschen, die dort leben. Gerechtigkeit heißt, daß wir uns gerade für diese Völker, die heute im Abseits stehen, einsetzen – und das ist auch Aufgabe der Kirche. Profitgier zerstört Amazonien!“

Aber was stimmt denn nun? Deutsche Politiker, deutsche Wirtschaftsexperten sagen doch immer, die Ethanolproduktion schädige Brasiliens Regenwälder nicht, in Amazonien wachse gar kein Zuckerrohr, nur viel weiter südlich – und Brasiliens Staatschef Lula sagt das auch. Der französische Menschenrechtsanwalt und Franziskaner Xavier Plassat, der in Brasilien die Anti-Sklaverei-Aktionen der Bischofskonferenz leitet, widerspricht  diesen „Experten“ und auch Lula:“Das ist die Unwahrheit. Lula sagte all dies in Europa just an dem Tag, als auf einer Zuckerrohrplantage in Amazonien über eintausend Sklavenarbeiter befreit worden sind! Ein alter Hut, daß in vier Amazonas-Teilstaaten seit Jahren Zuckerrohr angebaut wird!“

Moment mal: Sagen nicht Lula, seine zu einer Wunderheilersekte zählende Umweltministerin Marina Silva, zudem europäische Politiker nicht immer, Ethanol-Treibstoff werde nachhaltig erzeugt, europäische Nachhaltigkeitskriterien für den Ethanol-Import würden bereits erfüllt? „Allein der massive Einsatz von Sklavenarbeitern bei der Ethanolerzeugung beweist, daß von Nachhaltigkeit keine Rede sein kann“, betont Padre Antonio Canuto, Generalsekretär der bischöflichen Landpastoral (CPT). „Wenn unsere Ministerin Marina Silva der deutschen Seite erklärt, daß die Ethanolproduktion weder zu Lasten des Regenwaldes noch der Nahrungserzeugung gehe, sagt sie nicht die Wahrheit!“ Roberto Malvezzi, Umweltexperte der Bischofskonferenz und Misereor-Partner, ist gerade von einer Vortragsreise durch Deutschland zurückgekehrt, stimmt im Interview Padre Canuto zu, weist auf die grauenhafte Ausbeutung ungezählter Sklavenarbeiter. „Der Zuckerrohranbau zerstört nicht nur Amazonien, sondern auch unsere wertvollen Savannenregionen und das Pantanal!“ In dieses tierreichste Feuchtgebiet der Erde reisen auch viele europäische Touristen – manche bemerken, wie man auch das zerstört. Dort hatte sich bereits 2005 der bekannte brasilianische Umweltaktivist Francisco Barros aus Protest gegen die forcierte naturvernichtende Ethanolproduktion selbst verbrannt.

 

Weltfußballer Kakà und die kriminellen Wunderheilersekten

Seit Jahren greifen sich die Sektenexperten an den Kopf: Daß brasilianische Fußballprofis wie Kakà von AC Mailand engste Beziehungen zu  berüchtigten kriminellen Wunderheilersekten pflegen, deren Zugpferde sind, wird selbst in Deutschland, Österreich und der Schweiz fast kritiklos hingenommen. Und daß die auf Millionensaläre und Luxus versessenen Stars ihre Popularität skrupellos und clever ausnutzen, um für diese straff neoliberal wie Wirtschaftsunternehmen geführten Sekten ganz offen selbst in den Stadien und in den Sportmedien frech Reklame machen – bisher jedenfalls kein Problem. Besonders bizarr, wenn sich sogar Kirchenblätter am Personenkult um die Sekten-Profis beteiligen. Was ist da los, was läuft da hinter den Medien-Kulissen? Kakà, Paulo Sergio, Jorginho, Roberto und all die anderen Geld-Kicker werden fast durchweg verharmlosend falsch als „evangelisch“, als treue, bibelfeste Mitglieder „evangelischer Freikirchen“ des Tropenlandes beschrieben. „Freikirche“ klingt gut und positiv – die klare, objektive Bezeichnung „Sekte“ wäre schlecht für Image und Geschäft der Fußball-Millionäre. Ausgerechnet Kakà wurde in Europa wider besseres Wissen anläßlich seiner Auszeichnung zum Weltfußballer 2007 als ordentlicher, sauberer, Skandal-freier Profispieler gewürdigt(Tagessalär laut italienischer Sportpresse umgerechnet 17000 Euro) Die Hamburger „Zeit“ nannte ihn gar „Gottes schöner Botschafter“. Alles spricht dafür, daß dem Herrgott gerade Kakà höchst zuwider wäre. Denn seit Jahren ermittelt die brasilianische Justiz gegen die Wunderheilersekte „Renascer em Cristo“ – und nun auch mit den italienischen Behörden gegen dessen prominentestes Mitglied und internationales Aushängeschild – Kakà selbst. Seine sehr engen Kontakte zu den beiden Führern der evangelikalen Sekte, die selbsternannte „Bischöfin“ Sonia und ihren Mann, „Apostel“ Estevam Hernandes, sind bestens bekannt. Beide büßen seit dem letzten Jahr in den USA eine zehnmonatige Freiheitsstrafe wegen Geldwäsche und Devisenschmuggels ab – in Brasilien besteht gegen sie wegen Betrügereien und Steuerhinterziehung ein Haftbefehl. Bischöfin Sonia hatte nicht nur bei der extrem niedrig gebildeten und deshalb stark manipulationsanfälligen Unterschicht, sondern selbst bei der brasilianischen Oberschicht Erfolg, weil sie deren Konsumgewohnheiten auch noch religiös verbrämte:“Gott gibt mir internationale Kreditkarten, eine Villa in Miami, Luxusbetten und sogar eine Schönheitsoperation – Halleluja!“

 Sonia Hernandes, ich habe sie oft live in Sao Paulo erlebt, ist ein begnadetes Rhetorik-und PR-Talent, dazu eine hervorragende Gospelsängerin, weiß die Anhänger mitzureißen. Im Geschäftlichen ist sie knallhart: Für das einem schwer Krebskranken gewidmete Wunderheilergebet, so heißt es, verlangte sie von den Angehörigen umgerechnet über 11200 Euro im voraus.

Brasiliens Staatsanwalt Marcelo Mendroni hat die italienische Justiz eingeschaltet, damit Kakà unter anderem wegen seiner Zahlung von mehreren Millionen Euro an die Sektenführer verhört wird. Betont hat er mehrfach, stets zehn Prozent seines Jahressalärs zu überweisen. Kakà telefoniere täglich mit den beiden Inhaftierten, sei früher häufig in deren Privatvilla gewesen. Staatsanwalt Mendroni will zudem wissen, ob das Ehepaar Hernandes auch in seinem italienischen Privathaus ein und aus ging. Mendroni charakterisierte die Sektenspitze als kriminelle Organisation, die Dokumente fälsche, Geld wasche und sich unrechtmäßig Spenden und andere Mittel aneigne. Dennoch habe Kakà die gesamte Sekte und deren Führer immer wieder öffentlich verteidigt. Jahrelang sei der von den Sektenanhängern monatlich eingeforderte Geldbetrag direkt in die Taschen von Sonia und Estevam Fernandes geflossen und habe deren Privatvermögen auf umgerechnet 52 Millionen Euro erhöht.

 Nachdem die FIFA letzten Dezember Kakà ausgezeichnet hatte, war dieser nach Sao Paulo geflogen und hatte die Trophäe während eines ekstatischen Massen-Kultes dem Haupttempel der Sekte zur dauernden Ausstellung gestiftet. Kakà hatte dort 2005 pompös geheiratet, den früheren Weltfußballer Ronaldo an der Seite. Was Bände spricht.

„Renascer em Cristo“ ist Brasiliens zweitgrößte neupfingstlerische Sekte mit mehreren Millionen Anhängern. Die Regierung von Staatschef Luis Inacio Lula da Silva hatte ihr Millionen an Steuergeldern für Alphabetisierungskurse überwiesen, die jedoch laut bisherigen Ermittlungen kaum abgehalten wurden. In den USA ordnete die Justiz an, sieben Tempel der Sekte zu schließen.

“Apostel“ Estevan Hernandes war ein sehr erfolgreicher Marketingexperte multinationaler Unternehmen, bevor er 1986 mit seiner Frau die lukrative Sekte gründete, zu der Radio-und TV-Sender, Verlage und eine Plattenfirma gehören. Sehr professionell produzierte und vermarktete Musik von Gospel und Samba bis Rock und Soul zählt zu den Zugpferden von Renascer em Cristo.

Die Kontakte der Sekte zur hohen Politik sind sehr gut, einer der 45 Sektenbischöfe sitzt sogar im Nationalkongreß, in dem es von Pfingstkirchlern wimmelt.  Insofern ist nicht ausgeschlossen, daß der Apostel und die Bischöfin noch einmal davonkommen. Bischof Edir Macedo, Führer der größten neupfingstlerischen Wunderheilersekte „Igreja Universal“ und zudem Besitzer der zweitgrößten(!)Fernsehanstalt Brasiliens, konnte wegen ähnlicher Delikte die Justiz immer wieder erfolgreich abschütteln. Diese Sekte dominiert Brasiliens Republikanische Partei, die mit Josè Alencar, einem Milliardär und Großunternehmer, sogar den Vize von Staatschef Lula stellt. Sogar Brasilien Umweltministerin Marina Silva ist in einer Wunderheilersekte aktiv. Dies alles erklärt, warum die strengen Gesetze gegen Scharlatanerie seit Jahren nicht mehr angewendet werden.

Daß jetzt gegen Kakà ermittelt wird, ist für die Sektenchefs „religiöse Verfolgung“, ein Werk des Satans. „Der Weltfußballer verdient sein Geld auf ehrliche Weise und macht damit, was er will!“

Brasiliens evangelikale Sekten propagieren zynisch das Reichwerden durch Gott, die „Theologie der Prosperität“.  „Wer ein üppig-reiches Leben führt“, so Sektenchef Edir Macedo, „genießt die Segnungen des Herrn.“ Fußball-Millionäre in Jesus-T-Shirts passen da genau in den Streifen.

 

„Siebzig Tage ohne Morde – ein Sieg!“(2005)

Der irische Priester Jaime Crowe im Slum Jardim Angela von Sao Paulo/erstaunliche Erfolge im Kampf gegen die Gewalt

Superreiche Kulturmetropole mit Bürgerkrieg und Genozid – scheinbar absurd, unvorstellbar, pure Fiktion. Doch in einem Land bizarrster Sozialkontraste wie Brasilien galt dies noch unlängst für Sao Paulo, die drittgrößte Stadt der Welt.   Lateinamerikas Wirtschaftslokomotive zählt über tausend deutsche Firmen, wird auch deshalb von weit mehr Deutschen angesteuert als Rio de Janeiro. Und wenn Formel-Eins-Pilot Michael „Schumi“ Schumacher auf der berühmten Interlagos-Piste von Sao Paulo Rennen fährt, sehen auch in Deutschland und Österreich ungezählte Sportfans die Übertragungen. Doch Bilder zeigen oft nur wenig von der Wahrheit. Denn schon in Hörweite der Rennwagen, des Tamtams um Boxenluder und Prominente, liegt der riesige, unüberschaubare Slum Jardim Angela. Daß bereits 1996 die UNO just diese Region zur gewaltgeprägtesten des Erdballs erklärt, hat auch in Europa schlichtweg kaum jemanden interessiert, gerührt.

Von Lateinamerikas Wallstreet, der Avenida Paulista, mit dem Rumpelbus etwa zwei Stunden bis Jardim Angela zu fahren – man tat es mit mulmigem Gefühl. Denn die Angst vor Gewalt und Banditenterror stand deutlich in den Gesichtern der über dreihunderttausend Bewohner. Noch 2003 wirkt auch der katholische Priester Jaime Crowe, der die Kirchengemeinde „Santos Martires“ leitet, sichtlich angespannt und gestreßt. “Wir sind mitten in einem nichterklärten Bürgerkrieg, hier ist ein Genozid im Gange, der vor allem junge Menschen trifft“, beklagt der Ire. „Der Staat, die Autoritäten haben uns im Stich gelassen – es fehlt an allem – Hospitäler, Schulen und vor allem Arbeit. Jährlich werden an die fünfhundert Bewohner ermordet.“

An der gesamten Slumperipherie der reichsten Stadt Lateinamerikas waren es sogar über achthundert Gewalttote – im Monat.  Mancher Kindersoldat der hochgerüsteten Banditenmilizen des organisierten Verbrechens tötete bis zu vierzig Menschen. Doch für den Slum Jardim Angela gilt dies heute nicht mehr. Die Lage hat sich grundlegend gebessert – die Menschen wirken nicht mehr verängstigt. Padre Crowe ist sichtlich optimistisch –  sein irisch-britischer Humor dringt wieder durch. Doch bei den Fakten, Vergleichen wird er ernst. “1996 hat uns die UNO herausgestellt – neun Jahre später ist die Mordrate hier um mehr als die Hälfte gesunken. Siebzig Tage lang wurde dieses Jahr in Jardim Angela nicht ein einziger Mensch getötet – für September registrierte man nur zwei Morde. Für uns ist das ein enormer Erfolg, ein Sieg – denn wir waren an monatlich bis zu fünfzig Gewaltopfer  gewöhnt.“

Der sechzigjährige Crowe und sein Team aus kirchlichen Menschenrechtsaktivisten erreichten diese Resultate durch eine brasilienweit einmalige Strategie. 1996 gründet er das „Forum zur Verteidigung des Lebens“, bei dem inzwischen etwa einhundert Organisationen, Katholiken und Lutheraner, mitmachen. „Wir haben die Zustände an die Öffentlichkeit gebracht, die Zivilgesellschaft mit vielen kleinen Aktionen und Projekten mobilisiert, Druck auf die Präfektur, alle Autoritäten ausgeübt, uns mit den politisch Verantwortlichen gestritten, Dialog und Kooperation hergestellt, den Rechtsstaat auch für Jardim Angela gefordert. Denn die notwendigen Gesetze sind ja da, werden vom Staat aber gerade in den Slums nicht angewendet.“  Früher gab es in Jardim Angela und den angrenzenden Slums weder Zivil-noch Militär-oder Gemeindepolizei. Wieso eigentlich?  Soll absichtlich zugelassener Banditenterror im Interesse der Machteliten das Protestpotential der brasilianischen Slumbewohner ersticken, diese davon abhalten, für ihre Rechte zu kämpfen?  Manche Kardinäle, Bischöfe und Padres, aber auch Sozialwissenschaftler vertreten diese These seit langem. Der Historiker Josè Murilo de Carvalho, Uni-Professor in Rio und zudem gewähltes Mitglied der ehrwürdigen Dichterakademie:“Das organisierte Verbrechen blockiert die Politisierung der Slumbewohner, hält sie ruhig, verhindert Rebellionen, dient somit der Aufrechterhaltung von politischer Stabilität.“ Mehrere Kabinettsmitglieder der Lula-Regierung, darunter Kulturminister Gilberto Gil und der jetzt zum Chef der Arbeiterpartei aufgestiegene damalige Arbeitsminister Ricardo Berzoini, ließen sich laut Presseberichten von gefürchteten, berüchtigten Banditenbossen die Besuche in Rio-Slums vorher genehmigen, fuhren dann, wie von den Gangstern gefordert,  ohne Polizeischutz oder Bodyguards in die Elendsviertel ein. Laut Paulo Sergio Pinheiro, Experte für Gewaltfragen an der Universität von Sao Paulo,  wurde von den Ministern damit die neofeudale Diktatur der Banditenmilizen über deren Parallelstaat der Armenviertel sozusagen offiziell anerkannt: “Geschähe soetwas in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien, würde das im Parlament heiß diskutiert, würde die Regierung gestürzt.“

Umso erstaunlicher, daß es Padre Jaime Crowe und seinem „Forum zur Verteidigung des Lebens“ gelang, Sao Paulos Autoritäten dermaßen unter Druck zu setzen, sogar öffentlich bloßzustellen, bis sie endlich bereit waren, die Slumbewohner vor den Gangstern zu schützen. „Noch 2002 hatten wir hier nur dreißig Polizisten – jetzt sind es über sechshundert, wurde ein ganzes Bataillon der Militärpolizei hier stationiert!“

 Medizinische Versorgung fehlte ebenfalls. „Vor drei Jahren hatten wir dem Staat wegen der sechs armseligen Gesundheitsposten mit einer Klage gedroht – jetzt haben wir 26 Betreuungsstellen, ein erstes Hospital ist im Bau.“

Kein Zweifel, der seit 36 Jahren in Sao Paulo lebende Ire ist ein Fuchs, verfügt über beste Kontakte zu politischen Kreisen, weiß sich interne, vertrauliche Daten zu beschaffen, verblüfft damit Politiker, packt sie notfalls öffentlich bei der persönlichen Ehre.  „Woher haben sie die Zahlen, Padre Jaime?“, fragen manche wütend. „Ist doch egal, woher, stimmen die Daten etwa nicht?“ Von der Gegenseite daraufhin Schweigen.

Dialog veränderte das bisher rein repressive Vorgehen der Polizeibeamten. „Wird ein Jugendlicher mit Drogen erwischt, bringen sie ihn statt zur Wache zu unserem Projekt für Suchtbehandlung.“ Und fange ein Heranwachsender  mit Raub und Überfällen an, steckten sie ihn ins Gemeindeprojekt für gefährdete Jugendliche. Die Kirche bietet auch berufsbildende Kurse an, sorgt sich um die Aidsprävention. Mit der Casa Sofia  hat Jardim Angela erstmals ein Frauenhaus für Opfer häuslicher Gewalt.

Ausgerechnet die größtenteils in Aachen aufgewachsene Afganin Maryam Alekozai machte während der Gewaltphase im Slum ihr soziales Jahr: “Tagsüber, nachts fallen Schüsse, immer wieder verlieren Kinder ihre Väter. Der Unterschied zwischen einem fünfjährigen Mädchen hier und in Deutschland ist so unglaublich groß! In den Kinderaugen sehe ich Haß, ganz tiefen Haß – und Wut! Man blickt nicht in Kinderaugen, sondern eigentlich in Augen von Erwachsenen, die voller Aggressionen sind.“ Für viele andere Slums von Sao Paulo oder Rio gilt das weiterhin, doch nicht mehr für Jardim Angela.  “Ich habe all die Verbrechen miterlebt, sah die Toten liegen“, erinnert sich die Schwarze Maria Aparecida. „Gottseidank ist das vorbei, Untaten sind viel seltener – wegen all den Aktionen der Kirchengemeinde sieht man jetzt Erfolge. Und das motiviert die Leute, sie wurden selbstbewußter.“ Wer kriminell gewesen sei, überlege sich dreimal, ob er wieder Böses tue – viele hätten das ganz aufgegeben.  Doch laut Maria Aparecida gibt es immer noch rivalisierende Banditengangs, ist Jardim Angela längst keine Oase des Friedens. “Wir dürfen jetzt nicht nachlassen, denn unglücklicherweise bestehen die Ursachen der Gewalt ja weiter“, betont Priester Crowe. „Eine Arbeitslosenrate von siebzig Prozent bedeutet Misere, es fehlt Wohnraum.“ Crowe und seine Kirchengemeinde legen sich nicht mit der Drogenmafia an. „Das ist Sache der Polizei.“ Die könnte, meint er, den Gangstern das Handwerk legen. „Ich weiß, wo die Verkaufspunkte sind, die Polizei weiß es noch viel genauer – warum tut sie nichts dagegen, wendet sie die Gesetze nicht an?“

Beim nationalen Oktoberreferendum über ein Verbot des Kleinwaffenhandels gab es nur in drei armen Vierteln Sao Paulos eine ganz knappe Mehrheit der Waffengegner – Jardim Angela gehörte dazu.  „Das beweist, wie stark wir hier die Mentalität verändert haben – die Leute spüren die Gewalt am eigenen Leibe, wollen deshalb das Verbot.“ Leider sei es nicht durchgekommen. Wir haben in Brasilien eine Kultur der Gewalt und der Korruption – das alles ist sehr tief verwurzelt. Doch wir dürfen unsere Träume nicht aufgeben.“ Für die Bischofskonferenz wird jene Gewaltkultur sogar weiter gefördert – mit über fünfzigtausend Morden jährlich liegt Brasilien weltweit an der Spitze. Nicht zufällig verurteilen derzeit die UNO und auch Amnesty International Brasilias Menschenrechtspolitik. Oberrabbiner Henry Sobel beklagte in Sao Paulo, daß grauenhafte Foltermethoden aus der Diktaturzeit weiterhin routinemäßig angewendet würden. „Ich bin entsetzt – wie kann es in dem Tropenland soviel Gewalt und gleichzeitig so viel Straflosigkeit geben?“, sagte der Senegalese Doudou Diene, Sonderberichterstatter der UNO für Rassismus, Ausländerfeindlichkeit und Intoleranz jetzt ausgerechnet in Sao Paulo.

In allen brasilianischen Millionenstädten wachsen die Slums unerhört rasch, steigt die Zahl der brasilianischen Millionäre sprunghaft, machen die Banken der vierzehnten Wirtschaftsnation Gewinne wie noch nie. Geld für die Elendsbekämpfung hätte Brasilien theoretisch wie Heu. „Mit unseren Aktionen“, so Padre Crowe,  „zeigen wir aller Welt, daß eine andere Stadtperipherie möglich ist, wenn investiert wird. Ich habe viel Hoffnung.“

 

 

„Prophetische Aktion“ in Brasilien:  Mutiger Bischof will mit zweitem Hungerstreik  gigantische Flußumleitung stoppen – Staatschef direkt herausgefordert

„Notfalls gebe ich mein Leben für das Volk und den Fluß“

Welle der Solidarität auch aus Europa, von Misereor und Adveniat

Mitten in der Vorweihnachtszeit rüttelt der katholische Bischof Luiz Flavio Cappio das Tropenland auf, stört mit seinem Protest sogar den künstlich angeheizten Konsumrummel der Megacities Rio de Janeiro und Sao Paulo. Gleich neben riesigen Shopping Centern und vor Kathedralen tun es inzwischen Hunderte dem mutigen Bischof nach – treten ebenfalls in den Hungerstreik. So wurde die Regierung von Staatschef Lula noch nie herausgefordert. Cappio verlangt mit seinem zweiten „Greve de Fome“ den sofortigen Stopp eines gigantischen, milliardenteuren Flußumleitungsprojekts, das von der Armee begonnen worden ist. „Ich werde meinen Protest notfalls bis zum Tode fortsetzen!“

  Cappio ist Franziskaner – der Katholik Francisco Anselmo de Barros, einer der wichtigsten, bekanntesten Umweltaktivisten Brasiliens, hat ebenfalls den Heiligen Franziskus zum Vorbild, nach dem ein großer Nordost-Strom benannt ist. 2005, als Bischof Cappio zum ersten Mal in den Hungerstreik tritt, verbrennt sich Barros selbst, um ein Zeichen gegen die immer brutalere Umwelt-und Naturvernichtung in Brasilien zu setzen. „Der Rio Sao Francisco wird umgeleitet, statt ihn zu revitalisieren“, klagte Barros ebenso wie Bischof Cappio  an. Dieser hat inzwischen durch seinen Hungerstreik im nordostbrasilianischen Sobradinho über vier Kilo Gewicht verloren. Die Capela des Heiligen Franziskus, in der Cappio seine Aktion führt, wurde innerhalb weniger Tage zum neuen nationalen Wallfahrtsort. Kardinal Geraldo Majella, Primas von Brasilien, erklärt ihm dort ebenso seine Solidarität wie dutzende Bischöfe, hunderte Padres, zehntausende Gläubige aus allen Ecken des Riesenlandes. Die gegen Sklavenarbeit und ungerechte Landverteilung kämpfende Bodenpastoral sowie der Indianermissionsrat der Bischofskonferenz sprechen von einer „prophetischen Aktion“ – denn Katholik Francisco Anselmo de Barros, der sich selbst verbrannte, und Bischof Cappio beweisen frappierende Weitsicht: Der Sohn italienischer Einwanderer wächst im Teilstaate Sao Paulo auf, kämpft gegen die Diktatur, schließt sich der Arbeiterseelsorge an, macht sich später als Geistlicher, typisch franziskanisch, mit unbekanntem Ziel zu Fuß in den archaischen, an biblische Problemlagen erinnernden Nordosten auf, findet in der Diözese Barra am Ufer des Sao Francisco seine Wirkungsstätte, wird deren Bischof. Den Strom, immerhin über 2700 Kilometer lang, wandert er ab, kennt ihn heute so genau wie kaum ein anderer. Cappio beobachtet, wie immer mehr giftige Industrieabwässer ebenso wie die Kloake von Millionenstädten eingeleitet, hochgefährliche Pestizide von Riesenplantagen hineingespült werden. Fischsterben ist die Folge. Cappio berät sich immer wieder mit Experten und vielen Betroffenen, darunter Fischern, Indianern, Kleinbauern, Landlosen. Die Uferwälder werden bis auf Restbestände abgeholzt, was zu Versandung und stark absinkendem Wasserstand führt. Einen so geschädigten Fluß will die Regierung für viele Milliarden Steuergelder auch noch umleiten? Selbst die Weltbank spricht sich dagegen aus – in hunderte Kilometer langen Kanälen würde zudem ein Großteil des Wassers bei Tropenhitze unnütz verdunsten.

 

Der neuerliche Hungerstreik ist für Staatschef Lula eine unangenehme Überraschung, trifft ihn mitten in verschiedenen Korruptionsaffären.

Noch im Präsidentschaftswahlkampf von 2003 ist Lula populistisch gegen die Flußumleitung. Doch dann geschieht Bezeichnendes: Lula wählt sich ausgerechnet Josè Alencar, einen Milliardär, Großunternehmer und früheren Dikaturaktivisten zum Vize – und läßt sich, wie verlautet, „umstimmen“. Vize Alencar gehört zur Republikanischen Partei, die von einer Wunderheilersekte, der Universalkirche vom Reich Gottes, dominiert wird. Lulas Umweltministerin Marina Silva, die für Brasiliens desaströse Umweltsituation direkt politisch mitverantwortlich ist, zählt ebenfalls zu einer großen Wunderheilersekte, der Assembleia de Deus. Just im Sekten-TV Brasiliens, das die katholische Kirche permanent attackiert, kritisiert Lula den Hungerstreik des mutigen Bischofs: „Er

 bringt mich in eine komplizierte Situation. Doch zwölf Millionen Brasilianer brauchen das Wasser zum Überleben. Daher werde ich mich auf die Seite dieser Armen und nicht dieses Bischofs stellen. Die Bauarbeiten werden fortgesetzt.“

Cappio reagiert sofort:“Hätte der Präsident die Wahrheit gesagt, würde ich ihn sofort unterstützen – denn wir kämpfen ebenfalls für die Trinkwasserversorgung der Armen in den Dürrezonen. Doch Lula sagt nicht die Wahrheit – das Umleitungsprojekt dient lediglich wirtschaftlichen Interessengruppen, darunter Baukonzernen, Großgrundbesitzern. Ich führe hier meinen Protest, weil Lula seine Versprechen gebrochen, mich und die gesamte Gesellschaft getäuscht hat.“ Denn beim ersten Hungerstreik von 2005 sichert Lula nach elf Tagen den Stopp des Projekts und einen landesweiten Dialog über die nachhaltige Entwicklung des Nordostens zu, aus dem der Ex-Gewerkschaftsführer Lula stammt. Doch dann rückt das Militär aus, beginnt mit den Bauarbeiten.

Einmal wird Cappio in den Präsidentenpalast vorgelassen, sagt Lula klare Franziskaner-Worte:“Senhor, ich habe mitgekämpft, damit sie Presidente werden. Doch sie haben ihre Wurzeln und jenes Volk vergessen, das sie gewählt hat. Senhor – heute sind sie Geisel des Kapitals, großer in-und ausländischer Wirtschaftsgruppen.“ Wie reagierte Lula? „Als ich das sagte, senkte er den Kopf. Ich kann einfach nicht hinnehmen, daß jemand, der zum Präsidenten der Armen gewählt wurde, dann zugunsten der Reichen Brasiliens und der ganzen Welt regiert.“

Bischof Cappio weist auf die zahlreichen, weit kostengünstigeren Alternativprojekte für eine effiziente  Wasserversorgung der Trockenregionen. “Den Alternativen gibt man deshalb keinen Wert, weil für sie keine Riesensummen nötig sind. Die Flußumleitung dagegen kostet sehr viel Geld, das man weit sinnvoller verwenden könnte.“

 

Frauen allein in überfüllte Männer-Gefängniszellen gesperrt – Massenvergewaltigungen

1996 kämpft der aus Österreich stammende Bischof Erwin Kräutler in seinem Bistum des Amazonasteilstaates Parà eine völlig unschuldige Frau frei, die sieben Monate lang in einer total überfüllten Männerzelle immer wieder vergewaltigt wird. Der Fall erregt enormes Aufsehen und manche Gutgläubige selbst in Deutschland und Österreich denken, nunmehr werde solchen barbarischen, bis dahin üblichen  Menschenrechtsverletzungen ein für alle Mal ein Riegel vorgeschoben. Den Amtsantritt von Staatschef Lula, einem Ex-Gewerkschaftsführer, im Jahre 2003 sehen naive Gemüter in Europa gar als Garantie für mehr Bürgerrechte, besonders der Armen. Doch es ändert sich nichts: Im November 2007 entdeckt die Presse nach einem anonymen Hinweis in einem Polizeigefängnis der Parà-Stadt Abaetetuba eine junge Frau in einer mit zwanzig Schwerkriminellen völlig überbelegten Zelle und bringt den Fall in die Schlagzeilen. Was Brasiliens Öffentlichkeit wie damals, als Bischof Kräutler Alarm schlug, ebenfalls schockiert: Wiederum sind hochrangige weibliche Polizei-und Justizbeamte direkt für diese sadistische Tat verantwortlich. Eine Art von KZ-Wächterinnen-Mentalität? Das fragen sich hier nicht wenige. Die junge Frau wird eines simplen Diebstahlsdelikts beschuldigt und erlebt fünfzehn Tage lang in der Männerzelle den puren Horror: Immer wieder Vergewaltigungen, Schläge, Brandmale – die Kriminellen drücken auf ihrer Haut die Zigaretten aus. Vermutet wird, daß die sexuelle Ausbeutung der Frau durch die Männer in voller Absicht ermöglicht werden sollte. Denn offensichtlich war man interessiert, daß der Fall möglichst lange unentdeckt bleibt: Polizisten scheren der Frau sofort die Haare, um sie den anderen Zelleninsassen ähnlicher zu machen. Das vergitterte Fenster der Polizeizelle konnte man von der Straße aus sehen – womöglich hörte von dort aus jemand die Schreie der vergewaltigten Frau.

 Die Reporter des Amazonasteilstaates Parà, einmal hellhörig geworden, recherchieren weiter, entdecken binnen weniger Tage drei weitere Fälle dieser Art.

Die junge Frau, inzwischen in Sicherheit, beschreibt das Ausmaß der Verrohung, die Komplizenschaft der Beamten: Denn einmal in der Woche war sogenannte „Visita intima“, strömen in Brasilien die Lebenspartnerinnen der Gefangenen in die Haftanstalten – zum Geschlechtsverkehr in Spezialzellen. “Donnerstags kamen die Frauen dieser Männer – das war der einzige Tag, an dem sie mich in Ruhe ließen.“

Brasiliens katholische Kirche, speziell die Gefangenenseelsorge der Bischofskonferenz prangert auch unter Lula die entsetzlichen Zustände in den Gefängnissen an. In Europa schauen viele weg, tun das als Stimmungsmache gegen einen „progressiven“ Staatspräsidenten ab. Gleiches gilt für die Scheiterhaufen in Millionenstädten wie Rio de Janeiro, wo man sogar Bürgerrechtler lebendig verbrennt.

Jetzt ist der Katzenjammer groß, muß man gegenüber bohrenden Journalisten notgedrungen Position beziehen. Besonders erbärmlich gebärdet sich Parà-Gouverneurin Ana Julia Carepa,  aus Lulas Arbeiterpartei(PT). Sie muß einräumen, von diesen sadistischen Vorgängen gewußt zu haben.  „Unglücklicherweise ist das eine beklagenswerte Praxis, von der der wir wissen, daß sie seit langem existiert – nicht nur in Parà.“ Doch seit ihrem Amtsantritt hat die Gouverneurin nichts gegen diese gravierenden Menschenrechtsverletzungen unternommen, ebensowenig wie Lulas Zentralregierung. Oppositionspolitiker in Brasilia sprechen von „primitivem Sadismus“, der Teilstaat sei in der Hand von Banditen.

–Bischof Erwin Kräutler  und der Fall von 1996—

 Kräutler setzt sich persönlich für Selma Simas ein, völlig unschuldig und doch des Mordes bezichtigt. Sie ist damals 44, muß sieben Monate in einer mit 35 bis 50 Männern völlig überfüllten Zelle verbringen, wird immer wieder attackiert, mit Geschlechtskrankheiten infiziert, ist danach eine völlig gebrochene Frau.

 Auffällig, wie hochrangige weibliche Staatsbeamten im Macholande Brasilien vorgehen: Die zuständige Polizeichefin zeigt keinerlei Mitleid, und eine Staatsanwältin, die zufällig an der Zellentür vorbeigeht und von Selma Simas um Hilfe angefleht wird, reagiert zynisch und ironisch, sogar sexistisch. Der damalige Generalstaatsanwalt von Parà erklärt öffentlich:“Im Hinterland gab es noch nie Frauenzellen, die Gefangene bleibt dort, wo Platz ist!“

Bischof Kräutler nach der schließlich erkämpften Freilassung:“Sie war buchstäblich in der Hölle, wurde gedemütigt, geschändet, wie ein Objekt, sozusagen am Fließband ausgebeutet, vergewaltigt. Was Salma Simas geschah, passiert in Parà nach wie vor. Hier muß ich einfach Schritte unternehmen, die man in Deutschland oder Österreich als Bischof nicht tun müßte.“

Inzwischen äußerte sich die UNO-Menschenrechtskomission in Genf zu den neuesten Fällen. Zugleich wurde ein UNO-Dokument verbreitet, das auf systematische Folter in Gefängnissen und Polizeiwachen  in der Amtszeit von Lula weist. Wenn eine Frau in eine Männerzelle gesperrt und daraufhin vorhersehbar sexuell mißbraucht werde, handele es sich um einen Vorgang, der mit Zustimmung der Autoritäten geschehe. Diese Autoritäten, so die UNO weiter, seien damit für einen Fall von Folter verantwortlich.

 Die brasilianische Ministerin für Frauenpolitik, Nilcea Freire, erklärte in Brasilia kurioserweise, zum ersten Mal von derartigen Zuständen erfahren zu haben. Diese sind indessen allgemein und detailliert bekannt, seit langem auch europäischen Menschenrechts-NGO.

Immer wieder werden in Männerzellen sexuell mißbrauchte Frauen schwanger, infizieren sich mit Aids.

In dem von vielen europäischen Urlaubern angesteuerten Nordost-Teilstaate Rio Grande do Norte an der Atlantikküste werden laut Kirchenangaben Frauen mit männlichen Jugendlichen sowie Transvestiten zusammengesperrt. Zudem vergewaltigen immer wieder Gefängniswärter weibliche Häftlinge.

Der Amazonas-Teilstaat Parà, in dem die Produktion von Exportsoja für Europa ebenso boomt wie die stark mit Pestiziden behandelte Monokultur Zuckerrohr für die Agrotreibstoff-Herstellung, ist laut Expertenanalysen berüchtigt wegen krasser Menschenrechtsverletzungen, darunter Sklavenarbeit.

 Bischof Kräutler steht wegen Morddrohungen unter ständigem Polizeischutz – in seinem Bistum wurde 2005 die nordamerikanische Urwaldmissionarin Dorothy Stang von Pistoleiros erschossen.

 

Interview mit Franziskanerpriester Johannes Bahlmann, Ordensoberer in Sao Paulo und Rio de Janeiro

 

Massaker, Blutbäder, Todesschwadronen, lebendig verbrannte Obdachlose, von Mord bedrohte Ordensbrüder – könnt ihr in Deutschland, in den deutschen Kirchen überhaupt vermitteln, unter welchen Extrembedingungen die Franziskaner in Sao Paulo Seelsorge leisten, Menschen in Not helfen?

 

Ich nenne es „vergessener Krieg“, in dem wir hier leben – all die unglaublichen, absurden Geschehnisse unseres Alltags kann man vielen Deutschen nur schwer begreiflich machen. Diese komplexe Lage hier ist in Deutschland nur schwierig zu vermitteln. Nur wer hier gewesen ist, die Dinge mit eigenen Augen gesehen hat, kann eigentlich nachvollziehen, in welche Realität wir Franziskaner eingebunden sind. Selbst in verschiedensten Kreisen Brasiliens geht es mir so: Vieles Furchtbare wird verdrängt, man blockt ab, will sich damit nicht auseinandersetzen, will es nicht wahrhaben. In den Medien wird viel über den Irakkrieg, Kriege in Afrika berichtet – und dabei oft vergessen, daß hier in Sao Paulo ebenso viele Menschen oder sogar noch mehr als in manchem fernen kriegerischen Konflikt  getötet werden, auch wir hier im Grunde genommen wie in einem Krieg leben. Es gab sogar Massenmorde an Obdachlosen. Wir Franziskaner sind hier in friedensstiftender Mission, wollen hier Frieden schaffen.

 

Habt ihr selbst in Euren Sozialprojekten mit Gewalt zu kämpfen?

 

Eine friedensstiftende Aktion war in unserem eigenen Obdachlosenheim nötig: Den Koch hatte man erschossen, der Projektleiter war gleichzeitig Rauschgifthändler und nutzte das Heim als Drogenumschlagplatz. Unser Mitbruder dort bekam immer wieder Morddrohungen. Mit dem Papier-Recyclingprojekt haben wir ähnliche Probleme. Brasiliens mächtigstes Verbrechersyndikat PCC ist sehr aktiv –  Kriminelle werden in unsere Projekte infiltriert, suchen dort Unterschlupf. Es gibt in Sao Paulo Müllverwertungsprojekte, in denen Abfallsammler wie Sklaven gehalten werden.

 

In der Megacity ist das Heer der Obdachlosen nicht zu übersehen – euer Kloster ist von ihnen regelrecht umlagert. Was tut ihr für sie?

 

1647 wurde unser Kloster gegründet, als Sao Paulo noch ein Dorf war. Schon damals haben wir unsere Nahrung mit den Armen geteilt. Jede Nacht backen wir Brot, verteilen es morgens um sieben an die Bewohner der Straße, geben ihnen Tee, holen sie in einen großen Klostersaal, betreuen alle spirituell und psychologisch. Wir geben diesen Entwurzelten Geborgenheit, ein Zuhause. Unser Ziel ist, möglichst viele in die Gesellschaft wiedereinzugliedern. Daß viele Obdachlose geistig behindert sind, ist für uns eine zusätzliche Herausforderung.

Ungezählte hausen weiter auf den Straßen, weil es eben viel zu wenige Projekte dieser Art gibt.

 

 

 

In Sao Paulo, Lateinamerikas reichster Stadt, werden jährlich etwa 6000 neue Leprafälle gezählt, in ganz Brasilien über 50000 – mehr als neunzig Prozent der Leprakranken Nord-und Südamerikas entfallen auf das Tropenland, nirgendwo auf der Erde ist die Lepradichte höher. Was könnt ihr tun?

 

Empörend, daß es die mittelalterliche Elendskrankheit hier immer noch gibt! Wir halten es wie der Heilige Franziskus, der ohne jegliche Berührungsängste auf Lepröse zuging, sie umarmte. Seit über 500 Jahren widmen wir uns hier den Aussätzigen – wobei sich immer wieder Franziskaner anstecken, selber leprös werden. Bei einem unserer Mitbrüder im Kloster wurde die Krankheit gerade entdeckt. Ich selbst koordiniere die Lepraprojekte ganz Brasiliens. Wir betreuen die Menschen der Leprakolonien, sorgen aber auch dafür, daß Infizierte von den staatlichen Gesundheitsposten, selbst hier in Sao Paulo, auch tatsächlich medizinisch behandelt werden. Denn das ist keineswegs garantiert. Viele denken: Wenn herauskommt, daß ich Lepra habe, werde ich entlassen, von der eigenen Familie nicht mehr akzeptiert – also besser gar nicht erst zum Gesundheitsposten gehen! Doch so wird alles nur noch schlimmer. Viele brasilianische Politiker interessiert die Krankheit nicht, weil sie nur die Armen betrifft, nicht die Reichen. Uns Franziskanern ist wichtig, bei der Leprabekämpfung mit möglichst vielen Lepraexperten wie dem deutschen Missionar Manfred Göbel, den Maltesern und anderen Hilfsdiensten zu kooperieren, von deren Erfahrungen zu lernen.

 

Aids ist in Brasilien weiterhin eine Epidemie, längst nicht unter Kontrolle – auch die Franziskaner beklagen, daß Medikamente für die Aidskranken fehlen, Infizierte deshalb sogar sterben, die ganze Wahrheit über die Seuche versteckt wird. Wie engagiert ihr euch?

 

 Theoretisch ist die medizinische Behandlung der Aidskranken per Gesetz bestens geregelt, müßte jeder Betroffene regelmäßig und gratis seinen Medikamentencocktail bekommen. Doch in fast allen Bereichen, ob Lepra oder Obdachlose, erfüllt der Staat seine gesetzlichen Pflichten nicht – so daß wir dann über unsere Sozialprojekte Druck ausüben, politisch aktiv werden, notfalls sogar gegen die Regierung vorgehen. Ja, wir legen uns mit den Autoritäten an, da entstehen Spannungen. Es muß doch jemanden geben, der auf solche Tatsachen hinweist, Opposition betreibt!

 

Da sind wir bei eurer Philosophie, euren Überzeugungen. Auffällig ist, wie eng und problemlos ihr hier in Sao Paulo zugunsten der Armen und Verelendeten, der sozial Ausgeschlossenen  mit Parteien und Gruppierungen zusammenarbeitet, die manche zu den radikalen System-und Regierungsgegnern rechnen.

 

Uns leitet dabei der Heilige Franziskus, der mit seinen Ideen und Visionen auch der heutigen Zeit weit voraus ist: Wie er wollen wir die Grenzen, Mauern und Todeslinien in dieser Gesellschaft überwinden, auch Unkenntnis und Abschottung in Privilegiertenghettos. Wir akzeptieren die Menschen in ihrer Andersartigkeit, arbeiten mit allen zusammen, die guten Willens sind, machen genau wie Franziskus keine Unterschiede, sehen die anderen als Brüder und Schwestern an. Daher agieren wir gemeinsam mit vielen politischen Gruppierungen, die sich dasselbe Ziel gesetzt haben. Das heißt jedoch nicht, daß wir uns mit ihnen vermischen, dieselben Meinungen und Ideen vertreten, uns vereinnahmen lassen. Wir haben unsere Identität – die haben ihre. Priorität hat stets die humanistische, barmherzige, solidarische Aktion. Dafür hat Franziskus immer wieder die unterschiedlichsten Menschen an einen Tisch geholt – und so machen wir es auch.  Wir sehen als unsere Aufgabe, in den verschiedensten Realitäten präsent zu sein.  So viele Bewohner werden mit der Stadt, mit dem in jeder Hinsicht ungesunden Leben hier nicht mehr fertig, rennen uns regelrecht die Türen ein, flehen um Hilfe. Ein kleines Almosen reicht da nicht – wir wollen und müssen mehr tun.

 

 

Sao Paulo wird auch „größte deutsche Industriestadt“ genannt – wegen der rund eintausend deutschen Unternehmen, von VW bis Mercedes und Bayer.  Unterstützen sie euch?

 

Derzeit planen wir mit Hilfe der deutsch-brasilianischen Industrie-und Handelskammer ein kleines Projekt für zehn Obdachlose, die in einer deutschen Firma beschäftigt werden sollen. Die Handelskammer will zudem ein Projekt für Körperbehinderte fördern. Von ADIDAS haben wir Produkte bekommen. Eine engere Zusammenarbeit, wie wir sie uns jetzt vorstellen, gab es noch nicht. Uns ist ist wichtig, nicht von in-und ausländischen Firmen oder Organisationen unterstützt zu werden, die nur ihr Gewissen beruhigen und uns für Eigenwerbung benutzen wollen. Bislang ist uns das gelungen.

 

 

Eure Arbeit kostet Geld – woher kommen Spenden?

 

Das Gros stammt von Einzelpersonen – denn  wir machen Telemarketing, rufen bei Stadtbewohnern an, bitten um Spenden. Natürlich unterstützen uns auch Misereor, Adveniat, die Missionszentrale der Franziskaner. Doch ich denke, die katholische Kirche braucht bessere Netzwerke und muß sich effizienter artikulieren. Man sagt, nur fünfzehn Prozent aller geplanten Sozialprojekte werden schließlich realisiert – das gilt auch für die kirchlichen.

 

Die Fazenda der Hoffnung in Brasilien

Im Franziskaner-Entzugsprojekt freuen sich zweitausend Ex-Drogensüchtige auf den Papst/ “Wir werden ihn mit Samba empfangen“

 Rio de Janeiro und der Wirtschaftsmoloch Sao Paulo sind die beiden wichtigsten – und grauenhaftesten Umschlagplätze für Crack, Kokain, Heroin und LSD in Lateinamerika. Den Drogenhandel managen Verbrechersyndikate, deren Banditenmilizen im Parallelstaat der Slums über Millionen von Armen, Verelendeten in Feudalmanier herrschen, Mißliebige lebendig verbrennen oder zerstückeln. Im Drogenrausch köpfen, zerhacken Söhne selbst die eigenen Mütter, wie die brasilianischen Medien berichten.

Doch mitten zwischen Rio und Sao Paulo liegt idyllisch vor grünen, bewaldeten  Hügeln die „Fazenda der Hoffnung“, ist ein Lichtblick in all der Tristesse. 1979 kommt der deutsche Franziskaner Hans Stapel in die nahe Gemeinde Guaratingueta als Priester, sieht Brasiliens Drogenelend, wird von Süchtigen um Hilfe gebeten. „Frei Hans“, wie man ihn nennt, reagiert sofort, baut ein weltweit einzigartiges Entzugsprojekt auf. Heute sind dort sogar Russen, Russinnen aus Moskau, Schweizer und Deutsche, neben den vielen Brasilianern verschiedenster Konfessionen. Auch in 32 weiteren Fazendas des Riesenlandes werden Süchtige jeweils mindestens ein Jahr betreut, behandelt –  zudem in Argentinien, Paraguay, Mexico, den Philippinen. Und in zwei Projekten sogar in Deutschland. Insgesamt sind es derzeit über zweitausend, weit über die Hälfte davon in Brasilien. „Wir nehmen sie alle nicht als Kranke auf, sondern als liebesbedürftige Menschen“, sagt Frei Hans. Den meisten fehlten Werte – „sie wissen nicht, wofür sie leben.“ Nach dem Eintritt in die Fazenda der Hoffnung ändert sich dies auf der Stelle, wird das Evangelium Jesu sozusagen zum Alltag. „Wir wollen ihnen Hoffnung und echte Ideale geben – ihnen zeigen, daß es ist möglich, sich von Drogen zu befreien!“

Der andere Weg aus Sucht und Abhängigkeit ist erstaunlich erfolgreich – selbst gemäß unabhängigen Studien werden über achtzig Prozent der bislang rund 15000 Hilfesuchenden geheilt, bleiben „clean“.

2005 kommen Olga und Alexander auf die Fazenda, spritzen sich zuvor auf dem Klo des Moskauer Airports die letzte Dosis Heroin in die Venen, haben Arme und Beine voller Einstiche. Nach mehreren Entzugskliniken wurden beide stets rückfällig. Bis ihnen die Mutter zwei Flugtickets in die  Hand drückt:“Laßt euch in Brasilien wirklich heilen.“

 Was sie jetzt erleben, bietet keine Suchtklinik. Morgens halb sieben beginnt der Tag mit Meditation, Gebeten, bekommen alle Worte zur Motivation, zum Nachdenken mit auf den Weg. „Wenn wir in einer Gemeinschaft leben oder einer Spiritualität folgen, sollten wir freier und unabhängiger von Dingen sein“, lautet ein Aufruf. Und es wird gefragt:“Warum ist das sexuelle Leben heute so banal geworden?“ Jeder sollte „die Sprache der Liebe“ benutzen, lieblose Worte vermeiden. „Und kürze aus deinem Vokabular Wörter, die unter der Gürtellinie liegen.“

Nach dem Morgenkaffee beginnt achtstündige Arbeit, denn die Fazenda wird nicht durch Spenden getragen. Die Ex-Junkies pflanzen Mais, Maniok oder Bohnen, züchten Tiere, recyceln Plastikflaschen, produzieren Kunsthandwerk, CDs oder – Pizzas und Lasagne. „Là vem a Russa“, da kommt die Russin, heißt es in ganz Guaratingueta, wenn Olga in den Straßen die Fazenda-Fertiggerichte anbietet, dafür viele feste Kunden hat.

 Abends Gottesdienst, Sport, Gesprächsgruppen für Gedankenaustausch. Zehn bis vierzehn „Recuperandos“ wohnen jeweils in einem Haus zusammen, Aidskranke werden speziell betreut.

 Letztes Jahr ist Frei Hans zufällig in Rom, als der Papst beschließt, in Brasiliens größtem Wallfahrtsort Aparecida die Generalversammlung der lateinamerikanischen Bischöfe zu eröffnen. Der Franziskaner sagt ihm, von Aparecida sei es nur ein Katzensprung bis zur Fazenda –  Benedikt XVI. würde von immerhin zweitausend jungen Menschen erwartet. Frei Hans ist perplex, als der Papst prompt antwortet:“Ich komme.“ Am 12. Mai trifft er entweder per Hubschrauber oder mit dem Papstmobil ein, wird sogar eine neue Kirche weihen. Klaus Rautenberg, deutscher Projektkoordinator:“Wir werden den Papst mit Samba empfangen!“

 

Weltweiter Boom für „Fazendas der Hoffnung“ des Franziskanerordens – Bauernhöfe zum Drogenentzug/ meiste in Brasilien

„Die ist schwer Crack-süchtig, nicht mehr zu retten“, sagen City-Bewohner Sao Paulos über die junge Frau, die wie irre hin und her läuft, sichtbar psychisch gestört ist. An einer Ampelkreuzung der Megametropole mit den über tausend deutschen Firmen bettelt sie aggressiv Passanten und Autofahrer um Geld für noch mehr Crack an, stürzt sich regelrecht in die Wagenfenster. Dann wieder stammelt sie Unverständliches oder stößt gröbste obszöne Beschimpfungen aus.  Ist sie die nächste Patientin von Franziskanerpriester Hans Stapel? Der Paderborner kennt das „Cracolandia“ genannte City-Viertel Sao Paulos sehr gut, in dem rund um die Uhr hunderte Kinder und Jugendliche in Horden ganz offen und allen Ernstes gleich neben Polizeistationen massiv Crack konsumieren. Weil in dem Tropenland der Rauschgiftkonsum und damit auch die Gewaltkriminalität in den letzten Jahren geradezu sprunghaft angestiegen sind, wird Priester Stapel von manchen Politikern geradezu bestürmt, das Netz von bisher 46 brasilianischen Fazendas möglichst rasch zu vergrößern. In den letzten Tagen hat er gleich drei weitere Bauernhöfe eingeweiht, auf denen jeweils mehrere hundert junge Menschen von ihrer Drogensucht geheilt werden. „Das Rauschgift ist heute überall, da gibts keine Ausnahme. Gewalt und Drogen gehen zusammen“, sagt Stapel auf der Fazenda der Hoffnung in Guaratinguetá bei Sao Paulo, die er 1979 als erste gegründet hatte. „Die meisten brasilianischen Jugendlichen haben heute keinen Lebenssinn mehr – es fehlen ihnen positive Werte, Spiritualität, Religion.  Wo lernen sie dies noch: Teilen, neu anfangen, verzeihen, schenken, sich verschenken, andere glücklich machen.“  Oft sei es ein harter Weg, bis ihnen bewußt werde, daß Drogen, der von allen Seiten propagierte Konsum, Geld und Sex, nicht zufrieden machen. „Bis sie dann auf unseren Fazendas christliche Werte des Evangeliums vermittelt bekommen, die wir mit ihnen tagtäglich leben.“

Die neuesten „Fazendas da Esperança“ liegen überraschend im brasilianischen Nordosten, fern der großen Millionenstädte. Kokain und ausgerechnet Crack, die gefährlichste und billigste harte Droge wird inzwischen sogar in Dörfern des Hinterlands verdealt. In Sao Paulo kostet eine Dosis, die „Pedra“, Stein, genannt wird, umgerechnet weniger als  einen Euro sechzig. Im Nordosten ist sie weit billiger. “Zweimal Crack genommen, und schon ist man süchtig“, sagt Franziskaner Stapel. „Crack vernichtet den Verstand, stimuliert zu Gewalt und Wahnsinnstaten. Wir haben viele geistig gestörte Crack-Patienten. Für die gibts keine Heilung mehr, die bleiben ihr Leben lang verrückt.“ Gerade hat ihm eine Mutter ihr Leid geschildert, Fotos des völlig zerstörten Hauses gezeigt. In einem Tobsuchtsanfall hat ihr Sohn, den Stapel sogar kennt, unter Drogeneinfluß alles zertrümmert, die eigene Mutter attackiert. „Ich besitze jetzt nichts mehr, was soll ich machen?“, fleht sie den Priester an. Immer mehr Politiker, sogar Gouverneure brasilianischer Bundesstaaten, werden sich der gesellschaftlichen Gefahren bewußt und bestürmen den Franziskaner regelrecht, in ihren Regionen möglichst rasch Fazendas zu eröffnen. Schon jetzt sind in Brasilien rund 95 Prozent der Drogen-Rehabilitationszentren in kirchlichen Händen – und die Regierung räumt ein, daß kirchliche Projekte wie die der Franziskaner weit erfolgreicher arbeiten als die staatlichen. Dennoch, so kritisiert Stapel, erhalten die „Fazendas der Hoffnung“ nur geringe öffentliche Unterstützung, verglichen mit den enormen Summen, die in immer mehr Gefängnisse für Drogenkriminelle gesteckt werden. Der Priester ist zwangsläufig zum internationalen Drogenexperten geworden. Er weiß, daß viele Süchtige ihren Konsum durch Dealen finanzieren, aber auch durch Diebstahl, Raub, Überfälle. „Die meisten unserer Patienten sind Kandidaten fürs Gefängnis – falls sie nicht zuvor schon umgebracht werden.“ Denn in Brasilien gilt überall: Wer Drogen auf Pump kauft, Schulden nicht pünktlich zurückzahlt, wird zur Abschreckung von den Banditenkommandos des organisierten Verbrechens erbarmungslos gejagt, dann gefoltert und ermordet, auf Scheiterhaufen aus Autoreifen sogar lebendig verbrannt. Oft wird Stapel von brasilianischen Politikern sogar rasche finanzielle Hilfe versprochen. „Bist die kommt, dauert es lange, gibt es viel Bürokratie, werden ja öffentliche Gelder nicht so einfach freigegeben. Für Gefängnisse werden indessen Abermillionen investiert.“ An öffentlichen Mitteln für Anti-Drogen-Programme fehlte es der Regierung von Staatschef Lula keineswegs, denn Brasilien ist immerhin die zehntgrößte Wirtschaftsnation.  “Die denken noch“, so Stapel bitter-ironisch, „mit nem bißchen Polizei und neuen Gefängnissen könnte man das Problem lösen. Sie begreifen noch nicht, daß es sich um eine landesweite Epidemie handelt.  In der Drogenfrage war Brasilien viele Jahre geradezu leichtsinnig. Wenn wir sie jetzt nicht ernst nehmen, wird die Zukunft weit schwieriger. Noch mehr Gewalt und Kriminalität, Kinder unter Drogen gezeugt,  viele geistig Kranke.“ Schon jetzt kosten Rauschgift und Gewalt das Tropenland einen steigenden Anteil seines Bruttosozialprodukts – von den Hospitalkosten für schwer psychisch Kranke und Überfallopfer bis hin zum Ausfall vieler qualifizierter Arbeitskräfte – durch Mord. In Brasilien werden jährlich rund 55000 Menschen getötet – das sind über zehn Prozent der weltweit verübten Morde. Nicht einmal fünf Prozent der Täter werden gefaßt und abgeurteilt.

2007 hatte sich der Papst die „Fazenda der Hoffnung“ von Guaratinguetá, nahe dem wichtigsten brasilianischen Wallfahrtsort Aparecida,  angesehen. Gleich nach dem Morgenkaffee beginnt dort achtstündige Arbeit – ein Teil der jungen Menschen geht aufs Feld, pflanzt Mais, Maniok oder Bohnen, andere züchten Tiere, der Rest recycelt Plastikflaschen, produziert Kunsthandwerk, CDs oder Pizzas für den Straßenverkauf. Abends gibt es Gottesdienst, Sport, Gesprächsgruppen für Gedankenaustausch. Auch gemäß unabhängigen Studien werden über 80 Prozent der Drogensüchtigen in den weltweit 60 „Fazendas der Hoffnung“ geheilt, bleiben clean. Die Fazendas tragen sich weitgehend selbst – der Neu-und Ausbau wird durch Spender rund um den Erdball, aber auch Firmen und Hilfswerke finanziert. „Nach dem Papstbesuch haben wir schon 18 neue Bauernhöfe geöffnet – in Deutschland machen wir im Mai den vierten auf. Das Schöne ist – ein Papst stellt sich einfach auf die Seite dieser Leute, verurteilt sie nicht als Banditen. Er sagt, ihr seid die Hoffnung, ihr sollt Botschafter der Hoffnung sein. Er gibt ihnen Mut und einen Auftrag. Das bewirkt bei vielen Menschen etwas in den Köpfen.“

 

Waffen in der Basilika?

Im religiösen Brasilien sind Votivgaben nach wie vor enorm populär

Revolver, Pistolen, Gewehre und reichlich Munition in der Basilika von Brasiliens wichtigstem Wallfahrtsort Aparecida bei Sao Paulo, den sogar der Papst besuchte – wie geht das zusammen? Aus den Waffen wird fern dem Gotteshause auf Menschen gefeuert oder lösen sich unbeabsichtigt Schüsse – die schwer Verwundeten beten in Todesangst zur schwarzen Madonna Aparecida, Brasiliens Schutzpatronin, sie möge ihnen das Leben retten. Als Dank für wundersame Heilung bringen die Genesenen diese Mordwerkzeuge in den größten „Saal der Versprechen“ (Sala de Promessas) des Tropenlandes. Sage und schreibe rund 18000 solcher Votivgaben werden dort jeden Monat neu deponiert – man steht und staunt! Eine halbe Wand voller Gitarren – den früheren Besitzern gelingt tatsächlich die so ersehnte musikalische Karriere. Und dann wieder Auto-Lenkräder, Sturzhelme, Unmengen von Fotos, ein schlichtes, anrührendes Blechschild: Danke für den Arbeitsplatz. Doch besonders auffällig die von der Decke baumelnden Körperteile aus Wachs – ob Knie, Fuß, Kopf oder Brüste – sie alle funktionieren wieder nach den Medizinern aussichtslos erscheinender Krankheit, selbst Krebs wurde besiegt. Obrigado, Nossa Senhora! Sogar Fußballprofi Ronaldo läßt sein Weltmeistertrikot in der Basilika, dankt der Schutzpatronin für die gelungene Knieoperation. Und wer hätte es gedacht – selbst Nordamerikaner in Not lösen ihr Gelübde ein, reisen aus den USA und Kanada nach Aparecida: „Thank you, dear Mother, for the Bless reached“, ist zu lesen. Doch besonders wertvoll sind die von dem deutschen Maler Thomas Driendl nach 1800 geschaffenen Ex-Votos, auf denen ein Ertrinkender und auch eine blinde Sklavin zu sehen sind.

Mehrere Jahrhunderte zuvor gab es eine regelrechte Künstlerzunft der „Wunder-Maler“, an die sich jedermann wandte, der zahlen konnte. Heute sind die „Riscadores de Milagres“ nur noch in Aparecida und dem weit kleineren, doch ebenfalls sehr besuchenswerten Wallfahrtsort Bom Jesus de Matosinhos des Nachbar-Teilstaats Minas Gerais anzutreffen – wer als Kulturtourist in die die beiden Orte kommt, sollte den Künstlern bei der Arbeit zuschauen. Kaum jemand kennt wohl so viele außergewöhnliche Errettungs-Geschichten wie sie.

In Europa sind Votivgaben seit der Steinzeit bekannt – gibt es die Votivkirche und die Pestsäule in Wien, die Votivschiffe in christlichen Kirchen am Mittelmeer, doch auch in Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein. Aber nur in Brasilien, dem größten katholischen Land, hat sich der von den Portugiesen mitgebrachte Ex-Voto-Brauch in einem Klima tiefer Volksfrömmigkeit geradezu spektakulär erhalten und immer wieder erneuert. Übertrieben Gläubige zu sehr in Richtung Kitsch und Absurdum, platzte Kirchenoberen gelegentlich der Kragen: So läßt just in Aparecida 1854 Bischof Antonio de Mello sämtliche Ex-Votos verbrennen, weil sie zu grotesk, profan und geschmacklos gerieten. Sicherlich keine leichte Aufgabe für des Bischofs Nachfolger von heute, angesichts der Flut neuer – und gelegentlich ebenfalls arg fragwürdiger  Votivgaben ständig ältere auszusondern und trotzdem die interessantesten, künstlerisch wertvollsten übrigzubehalten.

Nach 1900 kreuzen regelmäßig Passagierdampfer von ähnlichen Ausmaßen wie die Titanic vor Brasiliens Küste und werden zum Schrecken der Fischer, die damals weder schnelle Motorkutter noch Navigationsgeräte besitzen. Immer wieder können Segelbarken besonders nachts den Riesendampfern nicht schnell genug ausweichen und werden gerammt, in die Tiefe gerissen. Traditionell versprechen die brasilianischen Seeleute ihren Heiligen daher Ex-Votos für den Fall, solche recht häufigen Havarien zu überleben. Denn damals zählt zum Volksglauben, daß nur ein ordentliches kirchliches Begräbnis die Rettung der Seele garantiert. Wer indessen auf hoher See umkomme und ertrinke, schwebe dagegen als Gespenst über die Weiten des Ozeans und sei verloren. Schiffsunglücke und dramatische Brückeneinstürze sind daher ein häufiges Motiv der auf Holz gemalten Votivgaben. Besonders originelle finden sich im  Sakralmuseum der südlich von Rio de Janeiro gelegenen Küstenstadt Angra dos Reis, vor allem aber in dem für seine schönen Barockkirchen weltberühmten Teilstaate Minas Gerais. An zahlreichen Orten Brasiliens ist zudem Tradition, die Ex-Votos an festen Tagen in einer Prozession zur Kirche zu bringen. Als  außergewöhnlich gilt die „Procissao do Senhor dos Passos“ vor Ostern in der Stadt Sao Cristovao des nordöstlichen Teilstaates Sergipe: Tausende gehen barfuß, mit einer Dornenkrone, und tragen etwa drei Stunden lang zudem Arme und Beine aus Holz, Krücken, Schulzeugnisse, Fotos und vielerlei andere überraschende Votivgaben mit sich. Doch die größten Ex-Votos-Sammlungen Brasiliens befinden sich in Aparecida, Juazeiro do Norte(Teilstaat Ceará) und Bom Jesus da Lapa(Bahia). In letzterem Wallfahrtsort stutzt man wegen der vielen Miniatur-Särge: Dem Schutzheiligen wird sehr symbolisch dafür gedankt, daß man noch einmal davongekommen ist, noch nicht in der Erde verbuddelt wurde. Weil gerade im Nordosten die Zahl der Analphabeten immer noch enorm ist, hielt sich aus der Kolonialzeit der Berufsstand der „Fazedores de Cartas“: Sie schreiben den Votanten die Geschichte der Errettung oder anderweitigen göttlichen Hilfe auf jeglichen Untergrund, heute nicht selten bereits per Computer. Gemäß den einschlägigen Experten halten indessen keineswegs nur die einfachen, armen Brasilianer, sondern auch die Mittel-und Oberschichtler am Ex-Voto-Brauch fest. In kaum einem „Sala de Milagres“ (Wunder-Saal) fehlen  Doktor-und Anwaltstitel oder Ernennungsurkunden von Bürgermeistern und anderen Politikern.

 

Chico Whitaker

Alternativer Nobelpreis für katholischen Rebell aus Brasilien

Preisverleihung am 8. Dezember in Stockholm

Auf seinem Konzertflügel im Arbeitszimmer stapeln sich Bücher, Aktenberge, Zeitungen – vom Balkon blickt der praktizierende Katholik auf das häßliche Betonmeer der Megacity Sao Paulo, drittgrößte Stadt der Welt. „Früher habe ich gerne Chopin und Liszt gespielt, Bilder gemalt, war viel in der Natur – heute komme ich kaum noch dazu, die Arbeit frißt mich auf!“ Der sympathisch, bescheiden wirkende 75-Jährige zählt seit jeher zu Brasiliens „Subversiven“ und wird dafür jetzt auch noch hoch geehrt. „Der Premio Nobel Alternativo stärkt uns katholischen Menschenrechtlern Brasiliens den Rücken, gibt mir viel Kraft zum Weitermachen!“ Whitaker lehnte sich gegen die Militärdiktatur auf, mußte deshalb mit seiner Frau und den vier Kindern für fünfzehn Jahre ins Exil. 1985 treten die Generäle ab, doch auch die Regierungen der nachfolgenden „Fassaden-Demokratie“, wie Whitaker sie nennt, haben an ihm keine Freude. Bis heute prangert er Folter, Sklavenarbeit, die rasch wachsenden Slums, die politische Macht des organisierten Verbrechens an. Und hat mit einem engen Mitstreiter die Idee zum Weltsozialforum. 2001 findet es erstmals in der Katholischen Universität des südbrasilianischen Porto Alegre statt. „Ich kann schlecht Nein sagen, wenn man mich ständig bittet, Texte zu schreiben oder irgendwo auf der Erde Vorträge zu halten. Denn da öffnen sich Türen, um Ideen zirkulieren zu lassen, von denen so viele noch nichts wissen! Es gibt jene, die die Welt besser, sozialer, humaner gestalten wollen – und jene, die noch nicht wissen, daß sie es  können. Da müssen wir mit konkreten Aktionen ein Beispiel geben – damit die Leute begreifen,  es ist möglich!“ In der Bewegung der Globalisierungskritiker, so meint er, haben viele immer noch Illusionen. „Alles Volk auf die Straße, um auf revolutionärem Wege die Dinge zu ändern, ein vorgefertigtes Gesellschaftsmodell einzupflanzen – das klappt nicht mehr. Man muß Stück für Stück jene Strukturen verändern, durch die Menschen isoliert und individualistisch leben müssen. Ein anderes Produktionssystem, andere Konsumgewohnheiten sind nötig – oder unsere Erde geht zugrunde.“Von den Parteien hat Whitaker die Nase voll – war selber Mitglied der Arbeiterpartei von Staatschef Lula, sogar Abgeordneter. Bis er Anfang des Jahres wegen der zahlreichen Regierungsskandale um Stimmen-und Parteienkauf austrat. Ihn freut, daß man selbst in Deutschland den Parteien und eigensüchtigen Politikern immer weniger vertraut, die Zivilgesellschaft aufbegehrt: „Sie muß das Monopol der Parteien auf politische Aktion brechen – das Weltsozialforum dient dafür als wichtige Erfahrung. Hier in Sao Paulo kursiert folgende Idee – bei den nächsten Gemeindewahlen kandidieren nicht mehr Personen, sondern Programme zur Stadtverbesserung!“ Sao Paulo stinkt nach krebserregenden Autoabgasen. Sogar ein Netz von Fahrradwegen, das gerade den Armen der 2000 Slums am meisten nützte, wird von der Präfektur verhindert.

Letzten Oktober wurde der populistische Staatschef Lula wiedergewählt. Auch in Deutschland loben viele sein Anti-Hunger-Programm. „Das sind Almosen, die dazu dienen sollen, das Volk unterwürfig und abhängig zu halten“, kontert der unbequeme Whitaker. „Damit nicht alles bleibt, wie es ist, dürfen wir Lula jetzt nicht mehr ruhig schlafen lassen, muß die Zivilgesellschaft Druck machen.“ In der zehntgrößten Wirtschaftsnation, die Exportweltmeister bei Soja, Fleisch, Zucker und Biosprit ist, kämpft laut Whitaker die Mehrheit der 185 Millionen Brasilianer ums Überleben. „Andererseits soviel Luxus hier für die Reichen – das ist doch eine Tragödie!“ Anders als stets behauptet, habe unter Lula die gesellschaftliche Ungleichheit spürbar zugenommen. Typisch Whitaker: „Ich plane deshalb jetzt im Nationalrat der christlichen Kirchen Brasiliens eine Kampagne für konkrete Schritte gegen die Sozialkontraste mit.“ Zuvor führt er Proteste der Bischofskonferenz gegen den Stimmenkauf bei Wahlen, formuliert sogar ein Verbotsgesetz: „Der Nationalkongreß hat es angenommen, über vierhundert Politiker wurden bereits gefeuert!“ Lulas Amtsvorgänger ließ wichtige Staatsbetriebe wie das Bergbauunternehmen „Vale do Rio Doce“ privatisieren – heute ist es der zweitgrößte Minenkonzern der Erde. Die Kirche kritisiert den Verkauf nach wie vor. “Ich denke, Vale do Rio Doce sollte wieder ein Staatsunternehmen werden, die Gewinne könnten dann sozialen Zwecken dienen.“

Nächsten Mai kommt der Papst ins größte katholische Land – doch der unruhige katholische Rebell sieht Brasiliens Kirche derzeit nicht in ihrer besten Phase. „Sie ist mir manchmal viel zu langsam, eher im Rückzug. Doch immer wieder gibt es unter uns auf einmal Propheten, die Mut machen und mit neuem Schwung die anderen mitreißen.“ 

 

Der Papst und die Sklavenarbeiter

Kirche kämpft seit Jahrzehnten gegen „moderne“ Sklaverei in Lateinamerika

Im Mai reist Benedikt XVI nach Brasilien und wird sich auch über den Kampf der Kirche gegen die Sklavenarbeit informieren. In Lateinamerikas größter Demokratie gibt es laut Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation immerhin noch bis zu 40000 „Trabalhadores Escravos“. Der größte Teil davon wird auf Großfarmen Amazoniens ausgebeutet, vor allem im nördlichen Teilstaate Parà, wo der aus Österreich stammende Bischof Erwin Kräutler einen schweren Stand hat. Weil Kräutler gemeinsam mit den Menschenrechtsaktivisten der Landseelsorge die Sklavenhalter von heute anprangert, erhält er immer wieder Morddrohungen, steht derzeit unter Polizeischutz. Der Papst reist in die Wirtschaftsmetropole Sao Paulo, drittgrößte Stadt der Welt, in der eine besonders perfide Form der Sklavenarbeit existiert. Im Zentrum der Megacity, nur wenige Fußminuten von Bankenpalästen und der lateinamerikanischen Leitbörse entfernt, kommt man an mehrgeschossigen Gebäuden vorbei, die von außen wie normale Wohnhäuser aussehen. Doch fast alle Appartements sind vollgestopft mit Industrie-Nähmaschinen, an denen Frauen und Männer aus Bolivien von morgens bis spät in die Nacht Hosen und Shorts, Blusen und Hemden nähen. Über hunderttausend solcher Textilarbeiter sind es in ganz Sao Paulo, doch auf den Straßen trifft man relativ selten einmal einen Bolivianer. Luiz Bassegio leitet die Migrantenseelsorge der brasilianischen Bischofskonferenz und kennt die Hintergründe sehr genau: “Diese Bolivianer waren in ihrer Heimat arbeitslos, stammen aus den Slums von La Paz oder aus dem bitterarmen Hinterland,  wurden von gerissenen Anwerbern hierhergeschleust, haben keine Aufenthaltspapiere, schuften 16 bis 18 Stunden täglich ohne Arbeitsvertrag in etwa dreitausend illegalen Textilfabriken, in denen sie auch schlafen. Sie werden dort regelrecht eingesperrt, kriegen schlechtes Essen, haben höchstens den Sonntag frei. Das sind sklavenähnliche Bedingungen!“

Um das Honorar für die Anwerber zurückzuzahlen, bekommen die Bolivianer gewöhnlich ein halbes Jahr und länger überhaupt keinen Lohn – man nimmt ihnen den Paß oder sonstige Ausweise ab, hindert sie selbst mit Gewalt daran, die Fabrik zu verlassen. Wer aufmuckt, dem wird angedroht, ihn bei der brasilianischen Fremdenpolizei anzuzeigen. Pedro ging es so:“Mein Boß hat mir die Papiere weggenommen, mich eingesperrt – aber ich habe es geschafft, bin geflüchtet.“

Abeiterinnen werden häufig vergewaltigt. Von zehn Fällen klarer Menschenrechtsverletzungen betreffen sechs stets Frauen. Die Bolivianer sind Analphabeten oder haben nur geringste Schulbildung, sprechen meist kein Portugiesisch. Die Besitzer der Fabriquetas, wie man hier sagt, sind Brasilianer, Koreaner – doch größtenteils ebenfalls Bolivianer, die eine Marktlücke entdeckten: Durch ihr Ausbeutungssystem unterbieten sie die Preise brasilianischer Hersteller und selbst Chinas bei weitem, beliefern gewinnbringend sogar große Textilkaufhäuser und Boutiquen. Luiz Bassegio:“Auch Ketten wie C & A und andere Multis nehmen viel Ware ab!“

Ein Bolivianer, der beispielsweise schicke, modische Shorts herstellt, arbeitet daran pro Stück etwa zwei Stunden – und bekommt dafür dann umgerechnet allerhöchsten 45 Cents. Theoretisch. Denn im Migrantenzentrum der katholischen Kirche ist die häufigste Klage der Bolivianer, daß Fabriqueta-Besitzer überhaupt nichts zahlten, die Arbeiter nach einiger Zeit feuerten – und aus Bolivien neue anheuerten. Ein Mutter mit drei Kindern hatte aufgemuckt, landete sofort auf der Straße – und berichtete, was eigentlich mit den vielen bolivianischen Kindern wird:“Zur Schule gehen sie alle nicht, werden neben den Nähmaschinen angebunden, damit sie nicht stören, oder in ein Zimmer gesperrt.“

Wie kann die Kirche diesen Arbeitern helfen? “Wir sind in einer schwierigen Lage“, sagt Migrantenseelsorger Bassegio. „Die meisten dieser Textilfabriken sind zwar illegal, doch die staatlichen Aufsichtsbehörden würden nur bei einer Anzeige reagieren. Die Arbeiter ohne Aufenthaltserlaubnis haben natürlich Angst, die Polizei zu rufen. Würden wir von der Kirche Anzeige erstatten, verlören all die Bolivianer ihre Arbeit, flögen auf die Straße. Das kommt daher natürlich nicht in Frage.“ Die behördliche Kontrolle ist zudem eher ein schlechter Witz. Wird doch einmal ein Fabriqueta-Boß gestellt, droht man ihm hohe Bußgelder und sogar die Ausweisung an, wenn er nicht binnen zehn Tagen ordentliche Dokumente, auch die Arbeitspapiere der Näherinnen und Näher, vorlegt. Gemäß einer Staatsanwältin passiert dennoch nichts:“Innerhalb der zehn Tage wird die Fabrik kurzerhand an einen unbekannten Ort verlegt.“ Und Sao Paulo ist eben riesig, dort leben 24 Millionen Menschen. Seelsorger Bassegio hat daher sehr bizarre Probleme zu lösen, wird gelegentlich zum Detektiv, um die bolivianischen Sklavenarbeiter zu unterstützen:“Wir versuchen möglichst vielen von ihnen klarzumachen, daß sie aufgrund bilateraler Abkommen durchaus Rechte haben. In unserem Migrantenzentrum haben wir bereits elftausend Bolivianern dabei geholfen, eine Aufenthalts-und Arbeitserlaubnis zu bekommen, haben mit ihnen die nötigen Formulare ausgefüllt, verlangte Dokumente besorgt. Die meisten wissen, daß das geht, haben aber Angst, es zu versuchen.“

Nötig ist beispielsweise ein polizeiliches Führungszeugnis aus Bolivien – aber wie das beschaffen, wenn man in der Fabrik eingesperrt ist, zudem gar kein Geld für eine Reise nach Bolivien hätte? „Die Bosse wollen natürlich verhindern, daß ihre Arbeiter sich Rechte erwerben, solche Dokumente haben.“

Brasiliens Kirche hält für mehr als absurd, daß ausgerechnet in Lateinamerikas reichster Stadt noch diese Art von Sklavenarbeit existiert – und unter den Augen des Staates immer mehr Bolivianer in dunklen, muffigen Hinterhoffabriken voller Ratten und Schaben an Tuberkulose und tödlichem Denguefieber erkranken. Migrantenseelsorger Bassegio: „Brasilia muß endlich handeln. Die Kirche macht deshalb Druck auf die Regierung, die offenbar nicht weiß, wie sie mit diesen vielen Bolivianern umgehen soll. Alle zurückschicken? Wir meinen – hier geht es um universelle Bürgerrechte. Keine einzige Gewerkschaft nimmt sich der Bolivianer an. Bei unserer Arbeit bekommen wir Hilfe von den deutschen Katholiken, von Misereor und Adveniat – dafür sind wir sehr dankbar!“

 

Brasilien tankt Alkohol aus Zuckerrohr(2006)

Das Tropenland ist Pionier bei alternativen Kraftstoffen/doch schwerwiegende Negativpunkte

Marcelo Lemos in Sao Paulo stoppt an der Tankstelle vor der Zapfsäule mit der Aufschrift „Alcool“, denn der aus Zuckerrohr gewonnene Sprit ist gerade wieder einmal unschlagbar billig. Ein Liter kostet nur umgerechnet 49 Cents. Fahrer, die sich nebenan Diesel oder Benzin einfüllen lassen, schauen neidisch herüber, müssen für den Liter immerhin neunzig Cents berappen. Lemos hat sich gerade einen VW Golf mit hochmodernem Flex-Fuel-Motor gekauft, der vergällten Zuckerrohrschnaps bestens verträgt. Und wenn, was im wirtschaftlich instabilen Brasilien durchaus vorkommt, auf einmal Benzin wieder billiger ist, tankt der Ingenieur eben das. Der Motor stellt sich automatisch darauf ein. Dem Normal-oder Superbenzin, mit dem etwa 17 Millionen Autos fahren,  ist seit langem in Brasilien rund ein Viertel Ethanol aus Zuckerrohr beigemischt, denn das Tropenland experimentiert bereits seit den Ölkrisen der siebziger Jahren erfolgreich mit dem alternativen Kraftstoff und hat dabei weltweit eine vielbeachtete Pionierrolle. Etwa drei Millionen PKW haben sogar nur Ethanolmotoren. Man riecht es im brasilianischen Straßenverkehr – eine leichte Zuckerrohrschnapsfahne liegt in der Luft. Staatschef Luis Inacio Lula da Silva ist euphorisch – dank der rasant steigenden Ethanolproduktion, von der ein Großteil exportiert wird, könnte das Tropenland in den Kreis der Energiemächte aufrücken. Der brasilianische Biosprit-Weltmarktanteil liegt immerhin bei annähernd vierzig Prozent, gefolgt von den USA mit etwa dreißig Prozent. VW do Brasil, größtes Privatunternehmen Lateinamerikas, fährt auf der Biosprit-Welle, wird ab 2007 nur noch Flex-Fuel-Autos herstellen. Brasilianische Regierungs-und Industrievertreter schwärmen derzeit in alle Welt aus, suchen selbst ärmsten afrikanischen und mittelamerikanischen Staaten einen Technologietransfer und eine möglichst hohe Beimischung von Ethanol zum Benzin schmackhaft zu machen. Mit brasilianischem Zuckerrohr-Alkohol natürlich. Auch das Umweltargument zieht: Autos, die mit „Alcool“ betrieben werden, stoßen bis zu achtzig Prozent weniger CO2 aus als Benzin-PKW – und verbrauchen auf hundert Kilometer etwa zwei Liter weniger.

Dank sensationell niedriger Preise ist Brasilien bereits seit Jahren der weltgrößte Zuckerexporteur, liefert in EU-Staaten wie Deutschland. Und auch bei Ethanol sind die Produktionskosten unschlagbar gering. Der Liter Biosprit ist gemäß jüngsten Angaben daher um die Hälfte billiger als der in Europa hergestellte, wird für umgerechnet nur 25 Cents angeboten. Entsprechend groß ist das Interesse von Industrienationen wie Deutschland an der boomenden brasilianischen Biosprit-Branche – deutsche Investoren wollen sich einkaufen, am Bau –zig neuer Destillierfabriken mitwirken. 

- Biosprit ist gar nicht „bio“—

 Indessen wird die von Regierung und Wirtschaft betriebene Pro-Ethanol-Propaganda in Brasilien durch kritische Töne aus der katholischen Kirche und von Umweltorganisationen heftig gestört. Denn Zuckerrohr ist eine sehr umweltschädliche Monokultur. Weil Dünger und Agrargifte nach dem Motto „Viel hilft viel“ eingesetzt werden, sterben Flüsse und Seen, wird der Boden stark mit Schadstoffen belastet. Zudem gibt es einen ähnlichen Effekt wie beim Soja: Je höher die Nachfrage aus der Ersten Welt, umso brachialer, brutaler die illegale Regenwaldvernichtung, damit noch mehr Anbauflächen entstehen. Nach den Abholzungsrekorden der letzten Jahre, die vor allem auf das Konto der Sojabranche gehen, droht nun zusätzliche Naturzerstörung wegen des Hungers der Industrieländer nach alternativen Kraftstoffen.

–Selbstverbrennung, Sklavenarbeit, Hungerlöhne—

Um ein Zeichen zu setzen, die Weltöffentlichkeit zu warnen, hat sich daher letztes Jahr Francisco de Barros, einer der bekanntesten, angesehensten Naturschützer Brasiliens, aus Protest gegen neue umweltvergiftende Alkoholfabriken selbst verbrannt.

Die Kirche widmet sich indessen vor allem dem Hauptknackpunkt: Brasilianischer Zucker und Biosprit sind vor allem deshalb so billig, weil sie teils durch Sklaven-und Kinderarbeit, durch abstoßendes Sozialdumping erzeugt werden. „Hier ist eine verdeckte Sklaverei im Gange – Arbeiter sterben sogar vor Erschöpfung, brechen tot zusammen“, sagt der katholische Priester Antonio Garcia Peres in Guaribas bei Sao Paulo. Achtzig Prozent des brasilianischen Zuckerrohrs werden von mehreren hunderttausend Wanderarbeitern geerntet, mit dem Haumesser abgeschlagen. Die Männer und Frauen bekommen dafür monatlich nur umgerechnet höchstens hundert bis zweihundert Euro. „Die Wohnlager erinnern mich an deutsche KZs“, betont Padre Peres von der Wanderarbeiter-Seelsorge, „doch die Profite der Unternehmer sind geradezu astronomisch hoch.“ In den Zucker-und Destillierfabriken verdienen die brasilianischen Arbeiter im Vergleich zu ihren europäischen Kollegen ebenfalls nur einen lächerlich geringen Lohn – umgerechnet maximal 320 Euro. Ein Auto, gar eines von VW mit Flex-Fuel-Motor, können sie sich dafür nie im Leben leisten. Das ist nur für Mittel-und Oberschichtler erschwinglich. Luis Bassegio, Koordinator der nationalen Wanderarbeiter-Seelsorge, beklagt, daß es nicht einmal Gewerkschaften gibt, die sich für die Zuckerrohrarbeiter einsetzen. „Deshalb tun wir von der Kirche, was wir können. Deutsche kirchliche Hilfswerke wie Misereor und Adveniat unterstützen uns dabei – denen sind wir viel Dank schuldig.“

 

: Erst Bandit und gefürchteter Killer, dann Priester

Tausende Ex-Gangster machen als spektakuläre Prediger Furore, gründen Kirchen/ „Ich hatte tausende Frauen“

Wo Pastor Salles auftritt, sind die Kirchen rappelvoll, können es Tausende kaum erwarten, daß er in seiner unnachahmlichen Weise schreit, stöhnt, schluchzt, heult wie ein Schloßhund. Wer als Mitteleuropäer da hineingerät, Brasiliens religiöse Szenerie noch nicht kennt, versteht womöglich die Welt nicht mehr. Darf das denn wahr sein, bin ich wirklich in einer Kirche und nicht im grotesken Spektakel eines gerissenen Scharlatans – und wieso protestiert denn keiner? Doch je stärker der Tobak von Pastor Salles, je lauter die zustimmenden Halleluja-Rufe der Gläubigen. „Ich war reich, hatte Villen und tausende Frauen – in Rio de Janeiro hörten tausende schwerbewaffnete Banditen auf mein Kommando“, beeindruckt der Prediger. „Ich war ein Bankräuber und Berufskiller – so viele Opfer flehten vergeblich um Barmherzigkeit!“ Pastor Salles wild gestikulierend vorm Altar, tadellos gekleidet in feinstem Tuch, mit weißem Hemd und Krawatte – noch unlängst ein Bandenchef, der gnadenlos mit der Mpi um sich schoß, Rivalen und Polizisten ins Jenseits beförderte; das läßt die Leute mehr und mehr erschauern. „Ich war besessen vom Teufel, ich war ein Monster, ein Psychopath“, ruft er aus und kommt zu weiteren gräßlichen Details:“Jawohl –  wie von den Dämonen gefordert, habe ich mit meiner Frau unseren sechs Monate alten Sohn getötet, in der Pfanne gebraten, sein Fleisch gegessen – so viele barbarische Verbrechen habe ich begangen, ich war schon in der Hölle!“ Sechzehn Kugeln bekam er in den Leib, überlebte die Folter im Knast, machte Russisch Roulette. Doch dann, oh Wunder, wurde er bekehrt, ließen die Teufel von ihm ab, holte er, „von Gott auserwählt“,  die eigene, tot im Sarg liegende Mutter zum Leben zurück. „Die Umstehenden lachten, als ich sagte, Mama, erhebe dich – und sie stand wirklich auf!“ Wo Pastor Salles predigt, lacht auch bei dieser Stelle niemand schallend oder fordert gar Beweise – mit aufgerissenen Augen und Mündern glaubt man ihm aufs Wort. Ist derartiges denkbar in einer katholischen Kirche des Riesenlandes? Natürlich nicht – dort wäre er chancenlos, würde von Anfang bis Ende heftig verspottet. Doch im größten katholischen Land der Erde sind Sekten und Religionsgemeinschaften auf dem Vormarsch, die vor nichts zurückschrecken, den extrem niedrigen Bildungsgrad der Unterschicht nur zu oft schamlos ausnutzen. Um die Gottesdienste spektakulär „aufzupeppen“, noch mehr gebefreudige Anhänger zu gewinnen, kamen diese „Kirchen“ bereits in den achtziger und neunziger Jahren auf die Idee, unter Ex-Gefangenen und selbst in den Haftanstalten nach geeigneten Predigern zu suchen. Im fortgeschrittenen Alter, oft mit schweren Behinderungen nach vielen Einschüssen, haben Männer aus der Welt des Verbrechens gewöhnlich auf dem Arbeitsmarkt keinerlei Chancen. Soziologin Mariana Cortes von der Bundesuniversität Ueberlandia stellte bei mehrjährigen Untersuchungen fest, daß allein in Brasiliens Kultur-und Wirtschaftsmetropole Sao Paulo, der immerhin drittgrößten Stadt der Welt, tausende Banditen daher zu Priestern mutierten, eine regelrechte religiöse Szene bilden.  „Die dunkelsten Punkte ihrer Biographie machen sie zum Trumpf, zu einem Spektakel – wollen auf diese Weise nicht nur Geld verdienen, sondern auch gesellschaftliche Anerkennung, Sozialprestige gewinnen.“ Denn das hatten sie bereits als Banditenchefs im Parallelstaat der Slums, der von Verbrechersyndikaten dominiert, terrorisiert wird. Ein tolles Gefühl, mit der umgehängten Mpi durchs Gassengewirr der Elendsviertel zu schlendern und als Herr über Leben und Tod von den Bewohnern mit tiefster Unterwürfigkeit respektiert zu werden. Heute gehen sie teilweise durch die selben Viertel, ernten wiederum tiefen Respekt, werden oft als Wundertäter, Wunderheiler verehrt, die man alle paar Schritte um Rat und Hilfe bittet. Probleme mit den einstigen Kumpanen vom organisierten Verbrechen gibt es nicht – die in den Slums agierenden Sekten kommen mit den Banditenmilizen gewöhnlich bestens zurecht.

–„Der Teufel wars, nicht ich!“–

 Was Mariana Cortes am Fragwürdigsten, Absurdesten findet: „Morde und andere grauenhafte Verbrechen werden stets dem Teufel in die Schuhe geschoben, er wird zum Sündenbock. Damit stellen sich diese Priester als Opfer dar, leugnen die eigene Schuld und Verantwortung für ihre Taten, gebärden sich gar als Sieger und Hoffnungsträger.“ Sogar die Wissenschaftlerin kann es bis heute kaum fassen, daß das funktioniert, selbst beim Massenpublikum solcher als „gemäßigt“ geltenden Pfingstkirchen wie der „Assembleia de Deus“(Gottesversammlung), großartig ankommt. Das ist Brasiliens führende Religionsgemeinschaft, die manche wegen ekstatischer Wunderheilungen und Teufelsaustreibungen, wegen Massensuggestion und anderen Psychotricks den Sektenkirchen zurechnen. Sie hat über zehn Millionen Anhänger und ist besonders politisch einflußreich. Brasiliens Umweltministerin Marina Silva und die bisherige Sozialministerin Benedita da Silva gehören ebenso wie dutzende Abgeordnete und Senatoren zur Assembleia de Deus, die sich in zahlreiche Nebenrichtungen aufspaltete. Durch solche Pastoren wie Pastor Salles an Glaubwürdigkeit zu verlieren, scheint diese Kirche nicht zu befürchten. Doch auch Pastor Paulinho Bang Bang, Renato Cesar oder Francys Lins ziehen ähnlich melodramatisch-wild vom Leder, ihre Geschichten, schärfer als die schrillsten Krimis, gibt es auf CD und DVD. In Sao Paulo hat sich eine Plattenfirma nur auf diese Klientel spezialisiert, veröffentlichte bereits Tonträger von fünfzig solcher Priester, hat rund dreihundert weitere Kandidaten auf der Warteliste. Aber stimmen denn deren bombastische Aussagen –  oder ist alles erstunken und erlogen? Laut Soziologin Mariana Cortes läßt sich nur schwer sagen, was davon Dichtung und Wahrheit ist. In den brasilianischen Slums ereignen sich unter der Banditendiktatur täglich barbarische Dinge, die das Vorstellungsvermögen eines Mitteleuropäers gewöhnlich weit übertreffen. „Solche Priester montieren nicht selten reale Slumereignisse zu einer Story und stellen sich als Täter, Urheber dar, basteln sich manchmal eine Biographie zusammen.“ Viele sind damit höchst erfolgreich, ziehen im ganzen Land herum, können von jedermann gegen entsprechende Gage engagiert werden. Oder gründen sogar eine eigene Kirche. Absolute Religionsfreiheit ist in der brasilianischen Verfassung garantiert. Jedermann kann eine neue Glaubensrichtung ausrufen, sich von heute auf morgen zum Priester erklären – denn eine theologische Ausbildung wird nicht verlangt. „Eine neue Kirche zu eröffnen, ist einfacher als eine Kneipe aufzumachen“, sagt der Soziologe Ricardo Mariano. In Sao Paulo startet jeden zweiten Tag eine nichtkatholische Kirche mit Gottesdiensten. „Nie zuvor wurden so viele Tempel gegründet, um Geld zu machen“, sagt Theologe Fernando Altemeyer von der Katholischen Universität der Megacity. Mancher Neupriester hat rasch Erfolg, wird reich – doch andere gehen mit ihren Kirchen pleite. Religionsexpertin Mariana Cortes weiß, was die in etwa 17000 verschiedene Richtungen geteilten Pfingstkirchen Brasiliens natürlich verschweigen:“Gar nicht so wenige dieser ehemaligen Gangster packen es nicht, verkaufen nicht genug CDs und DVD, geben schließlich auf – und entsinnen sich ihres früheren Gewerbes, kehren zum Verbrechen zurück.“ Auf den Tonträgern sind stets die Kontakt-Telefonnummern. Ruft man dort an, will den Pastor für eine Show-Predigt ordern, hört man nicht selten von den Angehörigen: „Der ist schon wieder im Knast.“

Über die brasilianischen Sektenkirchen wird wegen der politisch heiklen Hintergründe in deutschsprachigen Medien aus politischer Korrektheit meist nur sehr unkritisch berichtet. Daß die neoliberale, von der katholischen Kirche heftig kritisierte Umweltpolitik der Lula-Regierung von einem Sektenmitglied mitgeführt wurde, ist gewöhnlich kein Thema. Bezeichnend ist, daß evangelikale Sekten, auf die Frei Betto Bezug nimmt, nach dem Umbrüchen von 1989/1990 nun auch erstmals in osteuropäischen Ländern angesiedelt werden, sogar in Rußland.

 

„Amazonien braucht eine Kultur des Lebens!“

Franziskaner Johannes Bahlmann aus NRW neuer Bischof in Óbidos am Rio Amazonas/ „Da wollte ich schon aus Abenteuerlust immer hin!“

Im nordrhein-westfälischen Visbek bei Vechta ist er aufgewachsen, arbeitet auf dem Bauernhof, liebt das Landleben. Als Franziskaner dann der Hammer: Bahlmann wird Ordensoberer von Rio de Janeiro und  der Megacity Sao Paulo – zählt zu den intelligentesten, kritischsten Köpfen der lateinamerikanischen Wirtschaftsmetropole mit ihren über zwanzig Millionen Einwohnern. Heere von Obdachlosen, 2000 Slums, Stadtkrieg, Todesschwadronen, unsägliche Kontraste zwischen Arm und Reich – und zahlreiche Franziskaner-Projekte immer an den Brennpunkten, bei den gesellschaftlich Ausgeschlossenen. Jetzt auf einmal Superlative ganz anderer Art: Bahlmann macht einen Sprung von über 3500 Kilometern bis in die grade mal 46000 Einwohner zählende Stadt Óbidos direkt am Rio Amazonas, führt künftig eine Urwald-Prälatur mehr als halb so groß wie Deutschland. Ab sofort nennt er sich „Dom Frei Bernardo“ – beim Blick von der Kirche auf den Riesenfluß richtet er  gleich eine Einladung an engagierte, unkonventionelle Christen: „Kommt nach Óbidos, besucht mich hier, laßt uns gemeinsam Amazonien schützen, die Schöpfung bewahren!“

 

Als mäßig informierter Mitteleuropäer, den Kopf voller Amazonienklischees, könnte man sagen, der Bahlmann hats gut getroffen, raus aus dem abgasverseuchten Betonmeer Sao Paulos, rein in üppige, paradiesische Urwald-Natur?

 

Da ist was dran. Doch Amazonien heißt auch rechtsfreier Raum, mit einer Kultur des Todes. Als ich mich als ganz junger Franziskaner für Brasilien entschied, schwang Abenteuerlust mit, wollte ich was ganz Neues machen, sah ich mich als Missionar schon im Boot auf einem Urwaldfluß. Wenn ich meine von Mitstreitermangel geplagten Franziskanerbrüder Amazoniens besuchte, baten die mich dazubleiben, die Arbeit im Süden aufzugeben. Jetzt nehme ich alle Erfahrungen, alle Projekte in den Norden mit, wo ich vom Gefühl her immer schon hinwollte.

 

Amazonasbischof Erwin Kräutler aus Österreich ist jetzt beinahe ihr „Nachbar“ – er hat Attentate überstanden, wird derzeit wegen Morddrohungen rund um die Uhr von Polizei bewacht, protestiert gegen grauenhafte Sklavenarbeit, Terror gegen Indianer und Landlose, skrupellose Naturvernichtung. Nur in vier Prozent der Mordfälle Ihrer Region wird überhaupt ermittelt…

 

Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Erwin Kräutler, brauche seine Erfahrungen. Was ist heute in Amazonien wichtig? Wir müssen eine Kultur des Lebens schaffen, die Kultur des Todes darf nicht weiter gefördert werden. Denn manchmal scheint es, als gewinne sie die Oberhand. Die katholische Kirche muß sich deshalb noch viel mehr engagieren, kann noch viel mehr tun. Mir geht es um soziale Strukturen, um Politik und Ökonomie – doch ganz oben auf der Werteskala steht der Mensch Amazoniens. Auch als Bischof will ich wie ein Franziskanermissionar als Seelsorger auf die Menschen zugehen, will sie ganz individuell wahrnehmen. Das zählt ja überall auf der Welt zu den großen Herausforderungen unserer Kirche. Und angesichts der immensen Dimensionen meiner Prälatur werde ich wie Bischof Kräutler die meiste Zeit unterwegs sein, Gemeinden, Siedlungen, Indiodörfer aufsuchen. Ja, ich will bei der Seelsorge neue Akzente setzen.

 

Sie sind als zähe und durchsetzungsfähig bekannt – welche Idee spukt Ihnen jetzt am meisten im Kopfe herum – taugen gar manche Sao-Paulo-Projekte für Amazonien?

 

Eine Idee hat mit meiner Einladung an engagierte Christen zu tun, mich in Óbidus zu besuchen: Ich möchte dort ein internationales Franziskanerkloster gründen, das auch allen Laien offen stehen soll, die im Geiste des Heiligen Franziskus leben und arbeiten möchten. Dieses Kloster soll auch ein Studienzentrum werden, wo Lösungsvorschläge für Amazonien entstehen. Angesichts der dramatischen Situation müssen wir Gegen-Interessen, einen Gegenpol schaffen. Denn die Berufung Amazoniens ist Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie. Wir müssen diese grüne Lunge der Welt schützen – oder sägen sprichwörtlich den Ast ab, auf dem wir sitzen. Soviele Klischeevorstellungen über Brasilien, über Amazonien sind in Europa noch so lebendig, selbst in den deutschen Kirchen! Jeder, der neu nach Óbidus kommt, wird es halten müssen, wie ich jetzt: Erst einmal als einfacher Franziskaner, in aller Bescheidenheit von den Menschen dort lernen, sich umsehen, den Blick auf das Dortige schärfen. Zehn Jahre habe ich gebraucht, um mich in dieser Weise in Brasilien einzugewöhnen – und erst dann auch Entscheidungen treffen zu können. Brasilien ist das Land mit der höchsten Lepradichte – in Sao Paulo habe ich die Lepraprojekte koordiniert, werde jetzt auch in Amazonien gegen diese mittelalterliche Krankheit weiterkämpfen. Auch in Amazonien herrscht Misere – ich finde mich bei der gleichen Schicht wieder, die sozial ausgeschlossen ist, mit schier unbeschreiblichen Alltagsproblemen kämpft.

Amazonien ist wegen der Rauschgiftproduktion, der vielen internationalen Drogenrouten berüchtigt – Kokain und Crack werden auch in den angrenzenden Staaten erzeugt und konsumiert. In Sao Paulo hatten Sie das Drogenelend direkt vor dem Franziskanerkloster – toleriert von den Autoritäten, zerstören sich Kinder gleich zu Hunderten das Gehirn, den Körper mit Crack. Vor Ihrem Bischofssitz schippern nicht nur deutsche Kreuzfahrtschiffe, sondern auch Drogenkuriere vorbei…

Der Drogen-Horror läßt mich auch in Amazonien nicht los. Was man tun kann – und muß, habe ich sozusagen von der Pike auf gelernt, beim Paderborner Franziskanerpriester Hans Stapel, in all seinen Sozialwerken. Ich war in Guaratinguetá nahe Sao Paulo bei der Gründung seiner ersten „Fazenda der Hoffnung“ für Drogensüchtige dabei – habe die ersten vier Jugendlichen, die aus der Droge rauswollten, mitbetreut. Tagsüber mit den Vieren Gemüse angebaut, abends dann Gespräche, Gedankenaustausch über das Wort Gottes. Hans Stapel und ich hätten nie zu träumen gewagt, daß die „Fazendas der Hoffnung“ geradezu einen Boom erleben, es weltweit schon sechzig gibt, drei sogar in Deutschland. Diese unschätzbaren Erfahrungen in der Drogen-Rehabilitation wende ich jetzt auch in meiner Urwald-Prälatur an.

 

Terrorwelle in Brasilien – sadistische Verbrechersyndikate demonstrieren Macht im Präsidentschaftswahlkampf(2005)

Hunderte Opfer, brennende Busse, Bevölkerung in Angst/Kirche prangert inkompetente Regierung an

Nach der selbstverschuldeten Pleite bei der Fußball-WM lassen sich Brasiliens Top-Spieler vorerst lieber nicht zuhause blicken, um dem Volkszorn zu entgehen. Doch mehrere zehntausend frustrierte Fans, die extra nach „Alemanha“ gereist waren, mußten zurück, wußten, was sie erwartet. „Das Beste an Deutschland war die paradiesische Sicherheit“, sagt Esdra Macedo, 38,  aus Sao Paulo, der drittgrößten Stadt der Welt mit über tausend deutschen Firmen. „Jetzt sind wir wieder Freiwild für Gangster und Killerkommandos.“ Schon auf der Fahrt vom Airport zur Wohnung sieht sie Busse, Krankenwagen und Banken in Flammen, dazu Leichen am Straßenrand. Jugendliche Banditen mit schnellen Motorrädern feuern aus handlichen israelischen Uzi-Mpis auf Polizisten, lauern auch deren Frauen und Kindern auf, um sie zu liquidieren. Oder preschen an überfüllte Nahverkehrsomnibusse heran, werfen Molotowcocktails durch die Fenster, zünden Menschen an. In Rio de Janeiro schrecken Gangstertrupps nicht einmal davor zurück, direkt vor einer Schule aus MGs auf eine Polizeistreife zu schießen: Panik auf dem Pausenhof, hunderte Kinder werfen sich auf die Erde, siebzehn werden verwundet.

–„Wir sind Terroristen, sind Taliban“—

Auf den überall offen verkauften Gangsta-Rap-CDs hatte Brasiliens größtes Verbrechersyndikat „Erstes Kommando der Hauptstadt“/PCC seit Jahren angekündigt: „Wir sind Terroristen, sind Taliban – unser Feind ist der Staat, dessen Polizisten mähen wir nieder, quälen sie zu Tode, verbrennen sie lebendig.“ Jetzt ist es soweit. Mitten im Präsidentschaftswahlkampf demonstriert der PCC wie nie zuvor seine Macht, erzwingt mit den Terroranschlägen auch Hafterleichterungen für einsitzende Banditen. Seit Mai wurden über 250 Aufstände in Brasiliens total überfüllten Haftanstalten gezählt, die als „Schulen des Verbrechens und der Verrohung“ gelten.

  Laut Marina Maggessi, Chefinspektorin von Rios Zivilpolizei, killen die Banditen allein am Zuckerhut jährlich rund 1500 Beamte. Sie ist wütend, daß sich sogar weltbekannte Fußballprofis mit berüchtigten Gangsterbossen anfreundeten:“Das sind Tyrannen – sie verbrennen Menschen am lebendigen Leib, zerstückeln Mißliebige – wenn sich Sportstars mit solchen Verbrechern mischen, ist dies wirklich das Ende!“

 Für die Kirche im größten katholischen Land haben die Regierenden völlig versagt. Sao Paulos Bischof Pedro Luis Strighini: „Das Verbrechen ist heute eine organisierte Kraft in einer desorganisierten Gesellschaft, bedroht die demokratischen Institutionen. Der Staat zeigt sich hilflos und inkompetent. Größte Herausforderung auch für die Kirche ist, die Bevölkerung zu öffentlichen Protesten gegen die Gewalt und ihre Ursachen zu mobilisieren, Druck auf die verantwortlichen Politiker auszuüben.“ Solange in der immerhin dreizehnten Wirtschaftsnation, so Strighini, die tiefverwurzelte Korruption und die perversen Sozialkontraste zwischen Arm und Reich nicht abgeschafft würden, gewinne das Verbrechen weiter an Macht.

In Sao Paulos Kathedrale pflichtet ihm Oberrabbiner Henry Sobel während eines ökumenischen Protestgottesdienstes bei:“Der Brasilianer ist heute Geisel des organisierten Verbrechens.“

–Jugendliche als Beute der Banditenkommandos—

Auch Brasiliens katholische Jugendseelsorge schlägt Alarm: Denn alleine an Sao Paulos Slumperipherie, Hochburg und Parallelstaat der Banditenkommandos, lungern mehrere Millionen junger Menschen zwischen 14 und 25 Jahren lediglich herum, gehen nicht zur Schule, machen keine Lehre, sind auf dem Arbeitsmarkt völlig chancenlos. Und daher das gefundene Fressen fürs organisierte Verbrechen, lassen sich leicht für Straftaten jeder Art rekrutieren. Nicht zufällig setzt der PCC bei der jetzigen Anschlagswelle vor allem Jugendliche ein, von denen viele bei regelrechten Kamikaze-Attacken auf Polizeistationen erschossen werden. „Der Staat garantiert den jungen Menschen weder Bildung, Gesundheit, Zugang zum Arbeitsmarkt noch eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung“, beklagt die Jugendseelsorge. „So werden sie leichte Beute der Verbrechersyndikate, ist ein Großteil schon tot, bevor er das Erwachsenenalter erreicht.“ Nicht zufällig herrscht in den Elendsvierteln ein starker Frauenüberschuß, „teilen“ sich immer mehr Brasilianerinnen regelrecht einen Mann, entstehen polygamieähnliche Strukturen. —Apathie und Desillusionierung—

Staatschef Lula hatte beim Amtsantritt versprochen, die Verbrechersyndikate auszurotten. Stattdessen senkte er die Sicherheitsausgaben drastisch.

Auch deshalb reagieren die meisten Brasilianer jetzt weitgehend apathisch, fatalistisch und desillusioniert auf die neueste Terrorserie, von der auch die große deutsche Gemeinde Sao Paulos, über zweihunderttausend Deutschstämmige und fünfzigtausend Paßdeutsche, direkt betroffen ist. Dr. Wolfgang Bader, Direktor des Goethe-Instituts:“In Europa gäbe es einen Aufschrei der Zivilbevölkerung, Proteste der Nichtregierungsorganisationen – was ich auch hier erwartet hätte. Enttäuschend, daß dies nicht passiert.“

Immerhin werden in Brasilien jährlich mehr als fünfzigtausend Menschen getötet, selbst laut UNO-Angaben mehr als im Irakkrieg.

–Privilegiertenghettos hinter hohen Mauern—

Derzeit werden die allermeisten Morde und Terroranschläge an Sao Paulos Peripherie mit ihren über zweitausend Slums verübt, die Viertel der Mittel-und Oberschicht sind deutlich weniger betroffen. Dort schotten sich die Betuchten in  geschlossenen luxuriösen Wohnanlagen, den Condominios fechados, hinter hohen Mauern und Stacheldraht, mit hochbewaffneter brutaler Privatpolizei, immer perfekter gegen Misere und Gewalt ab. Wegen der jüngsten Attentate boomen die Condominios wie verrückt, über tausend gibt es bereits landesweit. „Zwischen den Slums wirken diese Privilegiertenghettos wie Festungen“, sagt Eva Turin, die zum Soziologenteam der Bischofskonferenz gehört. „Hier sieht man, wie der Staat mit seiner Stadtpolitik die soziale Ausgrenzung der Armen sowie die gesellschaftlichen Spannungen verschärft.“

 

Brasiliens „religiöse Atomisierung“

Gläubige zirkulieren ohne Hemmungen zwischen Religionen, Wunderheiler-Sekten, Afro-Kulten

Im größten katholischen Land der Erde macht den Bischöfen ein neuer Trend zu schaffen: Gläubige wechseln die Religionen beinahe wie das Hemd, bedienen sich bei Kirchen, Sekten und Afro-Kulten je nach Lust und Laune, greifen wie auf einem spirituellen Markt zu den grellsten, scheinbar attraktivsten Angeboten. Mal zum Kardinal in die Kathedrale, danach in den Sektentempel, weil dessen Wunderheiler so schön wild-ekstatisch die Leute von Krebs, Aids, Blind-und Taubheit kuriert, Gelähmte gar wieder aus Rollstühlen aufstehen läßt. Und, warum nicht, immer mal zum Meditieren in den Tempel der Buddhisten, auch dort auf der Suche nach dem Übersinnlichen. Und wenn man jemandem Tod und Pestilenz an den Hals wünscht, weil er einem beispielsweise den geliebten Ehepartner ausspannen will, mit diesem gar schon fremdgeht, gibts dafür den afrobrasilianischen Macumba-Kult: An Straßenecken Rio de Janeiros, und sogar am Strand der Copacabana findet man regelmäßig in bösester Absicht plazierte große Macumba-Tonschalen mit Reis, abgehackten Hahnenfüßen, brennenden Kerzen, einer Schnapsflasche. In einem Land, in dem die meisten einen erschreckend niedrigen Bildungsgrad haben, wird dieser Trend auch bei Katholiken durch große Unkenntnis der kirchlichen Doktrinen und Normen noch gefördert. Vielen scheint das Fragwürdige, Absurde ihres Tuns gar nicht bewußt. Wie eine neue Studie des katholischen Instituts für Religionsforschung/CERIS in Rio de Janeiro  weiter ergab, nimmt unter den mehr als 180 Millionen Brasilianern der Katholikenanteil kontinuierlich ab.  Katholiken wechseln vor allem zu Sekten, besonders zu den sogenannten Pfingstkirchen, die auf jene Wunderheilungen, aber auch auf spektakuläre Teufelsaustreibungen spezialisiert sind. In ganz Lateinamerika wird „religiöse Atomisierung“ als ein neues Phänomen genannt –  immer mehr Menschen zirkulieren zwischen den Religionen. “Daß die Katholikenzahlen zurückgehen, ist weder für uns noch für die Bischöfe eine Neuigkeit“, sagt CERIS-Soziologin Silvia Fernandes.  „Innerhalb von nur fünf Jahren reduzierte sich der  Katholikenanteil um rund acht auf nunmehr 67 Prozent. Wer davon profitiert, sind die Pfingstkirchen – Katholiken laufen vor allem zu ihnen über, erhöhten deren Anteil in Brasilien auf vierzehn Prozent.“

Lutheraner, Kalvinisten und Methodisten folgen mit elf Prozent – rund acht Prozent der Brasilianer bezeichnen sich als religionslos oder atheistisch.

–Bischöfe: „Wo machen wir Fehler?“—

Brasiliens Bischofskonferenz räumte dazu ein, daß die katholische Kirche in ganz Lateinamerika bereits seit dem Ende der neunziger Jahre ihre Hegemonie eingebüßt habe und mit einem rasch wachsenden religiösen Universum konfrontiert sei. Erzbischof Luciano Mendes meinte, man könne Katholiken, die die Kirche verlassen wollten, nicht festhalten. „Aber wir müssen uns fragen, wo wir Fehler machen.“ Augenmerk sollte auf jene gelegt werden, die „keiner Kirche angehören, aber an Gott glauben“.  Die Pfingskirchen müßten ernstgenommen werden. Das Institut CERIS ermittelte, warum so viele zu ihnen überlaufen. „Die meisten Gläubigen waren mit der Doktrin, den als rigide empfundenen Moralnormen der katholischen Kirche, etwa bei Verhütungsmitteln,  nicht einverstanden“, betont Soziologin Fernandes. „Anderen imponiert, daß die Priester der Pfingstkirchen die Leute ganz direkt und sehr emotional ansprechen, sich der einzelnen Person mehr widmen, als dies katholische Geistliche gewöhnlich tun, damit volksnäher wirken.“ 

Gerade die Armen, Verelendeten aus den Slums laufen am meisten zu den Pfingstkirchen über. CERIS-Expertin Fernandes kennt deren Dreh ganz genau:“  Dort bieten die Priester einen sehr konkreten Gott an, der angeblich schon heute von Krankheiten heilt, schon heute eine Arbeitsstelle beschafft, Alkoholprobleme löst, Wohlstand gibt.“ Die „Assembleia de Deus“, Gottesversammlung, ist Brasiliens größte Sektenkirche, verhält sich antikatholisch, biblisch-fundamentalistisch und politisch konservativ, hat Dutzende Abgeordnete im Nationalkongreß. Brasiliens Umweltministerin Marina Silva, politisch verantwortlich für Rekord-Raten der Urwaldvernichtung, gehört zur Gottesversammlung. Die Universalkirche vom Reich Gottes, zweitgrößte Sektenkirche, dominiert sogar die einflußreiche rechtskonservative „Liberale Partei“(PL), die den Vize von Staatschef Luis Inacio Lula da Silva, den Milliardär und Großunternehmer Josè Alencar,  stellt. In Brasilien geht auch in der Politik vieles, was in Ländern wie Deutschland oder Österreich völlig unmöglich wäre.

Und was imponiert noch bei den Sektenkirchen? „Ein einfacher armer Bauarbeiter ohne Bildung, ohne gesellschaftlichen Status kann in deren Tempeln  ans Mikrophon treten und predigen, sogar Priester werden, kann ruhig sehr fehlerhaft sprechen. Dort hat er Status, ist jemand. Sowas beeindruckt die Leute,  wirkt therapeutisch – sie fühlen sich integriert, aufgenommen!“

Führt ein konservativer Papst des fernen Roms zu mehr Austritten? CERIS-Soziologin Fernandes bestreitet dies: „So denken die Menschen hier nicht – auf die nahen religiösen Autoritäten, besonders die katholischen Priester, kommt es an.“ Sind sie zu streng, zu abgehoben, zu unpersönlich, schauen sich die Gläubigen nach Alternativen um. Sie tun dies inzwischen geradezu massenhaft.

–„Doppelte Religionszugehörigkeit“—

 „Atomizacao religiosa“, religiöse Atomisierung heißt der neue Fachbegriff.  “Die Leute wechseln  zwischen den Religionen hin und her – das scheint total verrückt. Gläubige kombinieren esoterische Praktiken mit denen des Christentums. Schon sprechen Menschen von doppelter  Religionszugehörigkeit, nennen sich katholisch-pfingstkirchlich, oder katholisch-spiritistisch.  Es gibt keine Wertehierarchie mehr, die definiert, was richtig oder falsch ist.“  Durch diese „Atomizaçao religiosa“ werde die katholische Kirche enorm herausgefordert. „Sie ist gezwungen, sich den neuen spirituellen Wünschen der Individuen anzupassen. Doch die Bischöfe fragen sich – welchen Preis bezahlen wir dafür, wo sind die Grenzen?“

Nur ein einziger lotet diese Grenzen offensiv aus, scheut keine Experimente, hat großen Erfolg – der charismatische Priester, Sänger und Schauspieler Marcelo Rossi aus Sao Paulo, Brasiliens populärster Prediger. Er ist Mitgründer und Symbolfigur der starken katholischen Bewegung „Charismatische Erneuerung“. Sie pflegt ein sehr emotionales, spirituelles Glaubensleben. Zu Gottesdiensten unter freiem Himmel strömen bis zu zwei Millionen Menschen. Vor allem Marcelo Rossi ist zu verdanken, daß sogar Sektenmitglieder zur katholischen Kirche überwechseln. Als Rossi Anfang der neunziger Jahre seine Bewegung aufbaute, hatte er in der Bischofskonferenz viele erbitterte Gegner. “Weil sich die religiöse Szene Brasiliens so stark wandelte“, analysiert Christina Fernandes, „ist Rossis charismatische Erneuerung  heute sehr willkommen und der Kirche im Wettbewerb auf dem religiösen Markt sehr nützlich. Die Charismatiker sind inzwischen in die Seelsorge integriert und halten sich besonders streng an die katholischen Normen. Schließlich hatte man diese Bewegung immer verdächtigt, sich vom Katholizismus abspalten und den Pfingstkirchen annähern zu wollen.“

 

Märtyrerin im Amazonasurwald

US-Missionarin Dorothy Stang von Pistoleiros feige ermordet – fast täglich töten sie kirchliche Menschenrechtler

Todesliste mit über 160 Namen – doch Europas Regierungen schauen tatenlos zu

Urwaldpfarrer Josè Amaro ist erschöpft, nervös – er könnte der nächste sein. „Ständig patrouillieren hier schwerbewaffnete Killer, sagten ganz offen, sie hätten schon die Kugeln für Dorothy und mich bereit, unsere Tage seien gezählt. Wir dachten nie, daß die Pistoleiros so rasch handeln.“ Die Missionarin kennt die zwei auf sie angesetzten Männer, redet mit ihnen, sucht sie von dem Verbrechen abzubringen, vergeblich. Am Tatmorgen Anfang Februar stoppen beide die 73-Jährige auf einem Urwaldweg –  sie hat die Bibel dabei, zitiert daraus. Doch die Pistoleiros denken nur an das Kopfgeld, feuern aus einem Revolver und einer Pistole sechsmal auf Dorothy. „Furchtbar – fünfzehn Jahre tagtäglich Seite an Seite in dieser Urwaldsiedlung Anapu mit jemandem arbeiten, kämpfen, für die Armen, die Rechtlosen, und auf einmal ist dieser Mensch tot. Ich weiß nicht, was mit mir geschehen wird.“

 Padre Amaro führt ein Projekt zur nachhaltigen, schonenden Waldnutzung weiter, das die Missionarin begann. Es war Großgrundbesitzern, illegalen Holzfirmen ein Dorn im Auge, deshalb sollte die Initiatorin sterben. „Die Lage ist hier gravierend, viele Familien, viele Kinder hungern.“ Das Absurde – der Urwald wird vernichtet, um noch mehr Soja für den Export nach Europa anbauen, noch mehr Fleisch von Weiderindern auch nach Deutschland, Österreich verkaufen zu können. Brasilien ist bereits der weltgrößte Fleischexporteur, obwohl der Hunger im Lande längst nicht beseitigt ist.  „Es schmerzt, das zu sehen – das Weidegras, die Rinderherden sind den Mächtigen hier wichtiger als Menschenleben.“ Padre Amaro appelliert an die Christen, alle Menschen der Erde, auf Amazonien zu schauen. „Wir verteidigen nicht nur unser eigenes Leben, sondern auch die Ökosysteme, die Natur, die Regenwälder, so wichtig fürs Weltklima – es darf doch nicht alles zerstört werden.“ Deutschland ist zwar Hauptfinanzier des 1991/92 gestarteten Pilotprojekts der G-7-Staaten zum Schutz der brasilianischen Urwälder – doch letztes Jahr wurden mindestens 23000 Quadratkilometer vernichtet. Die Urwaldzerstörung, so die Bischofskonferenz und auch Greenpeace, wird mit brutaler Gewalt und sogar Sklaverei vorangetrieben. Doch die Regierung in Berlin, alle G-7-Staaten schweigen dazu – für die kirchlichen Menschenrechtler Amazoniens unbegreiflich. „Wir dachten, die Killer wagen es nicht, eine so bekannte Frau, noch dazu aus den USA, umzubringen“, sagt in der Anapu-Region die katholische Gewerkschaftsführerin Maria Joel Souza. Sie ist Witwe, hat jetzt noch mehr Angst um ihr Leben:“Mein Mann war auch Gewerkschaftspräsident – sie haben ihn bedroht, erschossen; seinen Nachfolger ebenfalls. Jetzt habe ich den Posten übernommen, und mich wollen sie auch umbringen. Ich will hier überleben – das ist mein Appell!“ Der politische Mord an Missionarin Dorothy geschah in der Prälatur des aus Österreich stammenden Bischofs Erwin Kräutler – viele andere kirchliche Menschenrechtler hat er ebenfalls zu Grabe getragen, seit Jahren immer wieder auch international die neofeudalen Zustände in Lateinamerikas größter Demokratie angeprangert. „Dorothy ist eine Märtyrerin – sie widersetzte sich den Zerstörern Amazoniens und deren grenzenloser Geldgier!“

Über 160 Bischöfe, Pfarrer, Gewerkschafter, Anwälte und Indianerführer stehen auf einer Todesliste, erhielten Morddrohungen wie Dorothy Stang. Brasiliens Richterin Danielle Bührnheim forderte vor vier Monaten von den Autoritäten, darunter dem Regierungs-Staatssekretär für Menschenrechte, dringend den Schutz der Missionarin. Doch keiner reagierte. Wird Urwaldpfarrer Josè Amaro überleben?

 „Wir sind noch weit entfernt 

von Normen der Zivilisation“

Befreiungstheologe und Bestsellerautor Frei Betto:

Brasilien immer noch ein Folterstaat (2006)

Torturen im Irak interessieren in Europa viele, die weit gravierenderen in Brasilien dagegen kaum. Die Menschenrechtsorganisationen und die katholische Kirche des Tropenlandes prangern seit Jahrzehnten kontinuierlich an, daß auch nach dem Übergang zur bürgerlichen Demokratie die Folter alltäglich ist. Ein nennenswertes Echo aus Europa gab es darauf nie, in der Amtszeit von Staatschef Lula aus den bekannten Gründen gleich gar nicht. Jetzt ging Lulas Ex-Berater Frei Betto im Präsidentschaftswahlkampf mit einer bemerkenswerten Anklage an die Öffentlichkeit: In Brasilien greift der Staat zu Methoden aus der Nazizeit, verwandelt Gefängnisse in Konzentrationslager, wendet die Folter hauptsächlich gegen Arme an. Der 61-jährige Befreiungstheologe war zwei Jahre lang Lulas Berater im Präsidentenpalast von Brasilia, bis er diesen Posten aus Unzufriedenheit mit Lulas Politik verließ. Lula hat indessen größte Chancen, im Oktober wiedergewählt zu werden.

„Wir sind noch sehr weit entfernt von den Normen der Zivilisation“, sagt der Dominikaner im Interview in Brasiliens Wirtschafts-und Kulturmetropole Sao Paulo. „Brasilien hat noch nicht einmal eine Agrarreform verwirklicht, was Deutschland bereits im 16. Jahrhundert tat. In Brasilien wurde zu allen Zeiten gefoltert. Während der über 350 Jahrehttp://www.ila-web.de/brasilientexte/bilderbras/freibetto.jpg beibehaltenen Sklaverei hielt man die Folter für legitim – sie wurde sogar von der katholischen Kirche praktiziert, die ja Sklaven hatte. Heute ist Folter zwar als Verbrechen definiert, wird aber weiterhin systematisch angewendet.“ Frei Betto kennt sich aus: Während der Militärdiktatur(1964 – 1985) wurde er mit vielen anderen Dominikanern eingekerkert, erlitt Torturen. „Der gravierendste Fall war Frei Tito de Alencar Lima, der infolge brutaler Folter geistesgestört wurde, mit 28 Jahren Selbstmord beging. Ich berichte darüber in meinem Buch Batismo de Sangue, das jetzt verfilmt wurde – Anfang 2007 ist Kinostart.“

Heute wird laut Frei Betto vor allem in den brasilianischen Haftanstalten gefoltert. Als Beispiel nennt er den Gefängniskomplex von Araraquara nahe Sao Paulo, den man in ein Konzentrationslager verwandelt habe. Brasiliens Kirche protestierte deshalb bei den Vereinten Nationen. Doch auch in den Polizeiwachen sei Folter Routine, die Methoden stammten aus der Militärdiktatur. “Gegen Verdächtige aus der Unterschicht wird heute nicht ermittelt, sondern man foltert sie auf den Polizeiwachen, um Geständnisse zu erpressen. Man verpaßt ihnen Elektroschocks, taucht den Kopf in einen Wassereimer, verbrennt ihnen die Haut mit der Zigarette oder treibt ihnen Messer unter die Fingernägel. All das sind üble Greuel. Viele Festgenommene bekennen sich daraufhin zu Verbrechen, die sie gar nicht begangen haben und kommen deshalb für viele Jahre hinter Gitter. In der Großstadt Recife wurde jetzt ein alter Mann nach über zehn Jahren entlassen. Er war völlig unschuldig und in der Haft erblindet.“ In Sao Paulo wurde vor mehreren Jahren ein Nobelrestaurant überfallen, acht Festgenommene waren gemäß amtlichen Angaben rasch geständig, sahen einer langen Gefängnisstrafe entgegen. Zufällig stieß die Polizei auf die wahren Täter – die acht hatten sich unter der Folter zu dem Überfall bekannt.

Laut Frei Betto ließ Staatschef Lula jetzt per Dekret ein Nationalkomitee zur Kontrolle der Folter gründen. „Wieso nicht zur Bekämpfung, nur zur Kontrolle? Mit Kontrolle will man gewöhnlich etwas Existierendes überwachen, Mißbrauch und Übertreibungen verhindern. Doch die Folter muß ausgerottet werden wie der Hunger!“

–Viele Brasilianer für Polizeifolter—

Der Ex-Berater ruft seine Landsleute auf, Folterungen mutig anzuzeigen. Es müsse die Angst aufhören, im Namen des Staates und des Gesetzes begangene Greueltaten öffentlich anzuprangern. Frei Betto weiß indessen auch aus Meinungsumfragen, daß ein beträchtlicher Teil der Brasilianer für das Foltern von Verdächtigen ist, solcher Polizeigewalt applaudiert. In Sao Paulo, drittgrößte Stadt der Welt mit über tausend deutschen Unternehmen, betonten immerhin 24 Prozent der Bewohner, in manchen Vierteln sogar 31 Prozent, daß die Polizei immer, oder wenn nötig, foltern sollte, damit Tatverdächtige gestehen. Folter werde damit mehr unterstützt als im Jahre 2000. Bemerkenswert: Die Mehrheit der Befürworter sind Frauen zwischen 16 und 25 Jahren, mit Grund-und Mittelschulbildung.

„Das ist dramatisch und zeigt, daß die Leute hier nach der Philosophie Auge um Auge, Zahn um Zahn handeln. Als ich eingekerkert war, stammten fast alle Folterinstrumente der Polizei aus Großbritannien. Es gibt also Leute, die sich mit dem Entwickeln solcher Dinge befassen.“

Außerhalb Brasilien halten viele die Lula-Regierung für progressiv. Aber warum ließ sich die Folter in vier Amtsjahren nicht, wie versprochen, abschaffen? In den Wahlkämpfen von Lulas Arbeiterpartei PT spielte die gravierende Menschenrechtslage keine, oder kaum eine Rolle. „Alles was ich darüber denke, steht in meinem neuesten Buch A Mosca Azul – Reflexao sobre o Poder.“ Frei Betto zählt zu den führenden Intellektuellen Brasiliens, war an der PT-Gründung maßgeblich beteiligt, hat 53 Bücher geschrieben – auch das neueste ist ein Bestseller. Er wirft darin Lula und der PT-Spitze Prinzipienverrat, Bruch von Wahlversprechen vor. Auch in Deutschland wird Lulas Lobby nicht müde, den Staatschef ausgerechnet als Linken zu definieren, obwohl er dies seit jeher bestreitet. Auch für Frei Betto ein kurioser Fall. Als Staatschef „hat er öffentlich deklariert, nie der Linken angehört zu haben – er vermied strukturelle Reformen, wie die des Bodens. Die Macht verändert die Personen nicht, führt aber dazu, daß sie ihr wahres Gesicht zeigen.“ Nach wie vor stecken Lula und die PT-Führung tief im Korruptionssumpf, werden immer neue Details bekannt. Auch Lulas Auslandslobby spielt die Fälle herunter. Frei Betto, der zwei Jahre die Vorgänge vor Ort im Präsidentenpalast beobachtete, sieht dagegen „verratene Ideale, geraubte Träume“. „Der kleinen PT-Führungsspitze gelang in wenigen Jahren, was die Rechte nicht einmal in Jahrzehnten, nicht einmal in den schwärzesten Jahren der Diktatur schaffte: Die Linke zu demoralisieren, zu zersetzen.“

–Folter schürt Haß und Sozialkonflikte—

Wenn ungezählte Unschuldige auch unter Lula gefoltert werden, kann man von diesen, ihren Angehörigen schwerlich Sympathien für den Staat erwarten. Diese Menschen haben Wut und Revolte im Leib. Durch die Folter, so analysiert Frei Betto, werden in der Unterschicht, in den Slums der Haß auf das System, Sozialkonflikte und Gewalt weiter geschürt.

“Man will eben keinen sozialen Frieden im Lande. Und oft foltert die Polizei nicht einmal, sondern tötet gleich. Nach den jüngsten Terroranschlägen des organisierten Verbrechens in Sao Paulo haben die Sicherheitskräfte über hundert Menschen liquidiert, von denen die meisten keinerlei Schuld hatten. Häufig foltert die Polizei nur deshalb, um an das Raubgut von Banditen, darunter Rauschgift heranzukommen und es sich anzueignen. Unser Polizei-und Gefängnissystem ist nicht nur gewaltgeprägt, sondern auch korrupt.“

Nach der ersten Anschlagsserie, die vom Verbrechersyndikat PCC während der Fußball-WM gestoppt und danach fortgesetzt wurde, hatte auch der Direktor des Goethe-Instituts von Sao Paulo, Dr. Wolfgang Bader, einen Aufschrei der Zivilgesellschaft erwartet. Doch erstaunlicherweise reagieren die meisten Brasilianer weitgehend apathisch und fatalistisch, sieht die Kirche das Verbrechen als „eine organisierte, spürbar an Macht gewinnende Kraft in einer desorganisierten Gesellschaft“. Dr. Bader überrascht, daß die brasilianische Zivilgesellschaft jetzt ganz anders reagiert, als man es etwa in Europa, in Deutschland gewohnt ist. Die erwartete Großempörung habe es nicht gegeben – der Aufschrei, gar Strategien von Assoziationen der Zivilbevölkerung fehlten – und das sei enttäuschend.

Frei Betto nennt dies unerklärlich und beklagenswert. “In Brasilien herrscht ein Klima der Mutlosigkeit, der Enttäuschung, auch der Lethargie und politischen Apathie – selbst angesichts der Korruptionsskandale im Nationalkongreß. Die Leute reagieren nicht, obwohl sie derzeit besonders intensiv reagieren müßten. Wir haben heute eine recht desorganisierte Gesellschaft. Viele denken, es ist sinnlos, sich zu engagieren – wir haben so viele Jahre gekämpft, und jetzt haben wir dieses Resultat. Der Moment der Flaute wird noch verstärkt durch die Verführungen des Konsumismus, den neoliberalen Prozeß. Ich hoffe, es gibt im Oktober irgendeine Reaktion an den Wahlurnen. Wir haben auch noch sehr viel sexuellen Mißbrauch von Kindern in Brasilien, Zehntausende von Sklavenarbeitern.“

Auch in den deutschen Medien wurde kaum Notiz davon genommen bzw. heruntergespielt, daß sich Lula ausgerechnet einen Milliardär, Großunternehmer und Diktaturaktivisten zum Vize erwählte. Und mit ihm jetzt erneut in den Wahlkampf zieht. Wie wäre das in Deutschland – ein Boß der Deutschen Bank, von Siemens oder Daimler-Chrysler als Angela Merkels Vizekanzler? „Brasiliens katholische Kirche“, so Frei Betto, „hat die Regierung, und auch Lulas Vize stets heftig kritisiert – ich denke, das macht sie gut und richtig. Wir müssen weiter im Namen der Armen unsere prophetische Mission erfüllen und die Menschenrechte verteidigen.“

 „Stille Gewalt des brasilianischen Staates gegen Arme“

Lulas Präsidentenberater Frei Betto

kritisiert Regierungspolitik(2004)

Der bekannte brasilianische Befreiungstheologe und derzeitige Berater von Staatschef Luis Inacio Lula da Silva, Frei Betto, hat der Regierung unsoziale Politik gegen die arme Bevölkerungsmehrheit vorgeworfen. Am Dienstag, dem Tag des „kontinentalen Aufschreis “ der sozial Ausgeschlossenen Lateinamerikas, schrieb er in Brasiliens größter Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“, der Staat agiere seit Kolonialzeiten zugunsten der reichsten Bevölkerungsschichten, wende indessen gegen die Masse der gesellschaftlich ausgegrenzten Armen „stille Gewalt“ an. Durch wirtschaftliche Maßnahmen würden Millionen von Menschen zunehmend Einkommen, Arbeit, Land und selbst essentiell wichtige Verbrauchsgüter entzogen, mache man ihnen sogar das Überleben unmöglich. „Den Verarmten bleibt nichts weiter übrig, als in provisorischen Camps auf dem Lande oder in Stadtslums zu hausen – ohne Recht auf Gesundheit, Bildung und Information.“ Die stille Gewalt des Staates werde durch Gesetze weder gestützt noch verurteilt, jedoch mit den derzeitigen sozialen Strukturen und den Paradigmen der Marktwirtschaft legitimiert. „Und somit wird daher das Wachstum einer Nation nur an der Zunahme des Bruttosozialprodukts gemessen – nicht aber an der Lebensqualität der Bevölkerung oder einer höheren Kaufkraft der Arbeiter.“

Auch in den neoliberalen deutschen Kommerzmedien erhält die Lula-Regierung derzeit größtes Lob wegen Wirtschaftswachstum, Primärüberschuß, zunehmenden Exporten – wie üblich werden indessen Reallohnverluste und Slumwachstum unter Lula unterschlagen. Das durchschnittliche Arbeitereinkommen in der zwölftgrößten Wirtschaftsnation liegt derzeit selbst laut offiziellen Angaben nur bei umgerechnet rund 260 Euro. „Wesentliches Charakteristikum des kapitalistischen Systems ist, einige wenige reich zu machen –  auf Kosten der Armut vieler – vor allem in der jetzigen neoliberalen Phase, wo Finanzspekulation gegenüber produktiven Investitionen überwiegt.“ Brasilien, so  der Dominikaner Frei Betto weiter, fehle eine Strategie für nachhaltiges Wachstum. Die Politik erniedrige sich selbst, wenn sie Utopien aufgebe. „Notwendig ist ein Staat, der auf die stille Gewalt verzichtet und den Kampf gegen die Ungleichheit als Priorität setzt – selbst wenn dies den  Besitzern von Geld und Macht mißfällt.“ Folge jener Art von Gewalt sei auch das jüngste Massaker an Obdachlosen in Sao Paulo, bei dem unbekannte Täter in der City unweit von Banken und Geschäftshäusern sieben schlafende Wohnungslose erschlagen hatten.

Die lateinamerikanische Wirtschaftsmetropole Sao Paulo, zudem eigentliche Hauptstadt Brasiliens, wird von der Elite-nahen Präfektin Marta Suplicy aus Lulas rechssozialdemokratischer Arbeiterpartei(PT) regiert – nach bisherigen Wahlvorhersagen wird sie bei den Stichwahlen Ende Oktober gegen ihren Herausforderer Josè Serra von der konservativen „Sozialdemokratischen Partei“(PSDB) des Lula-Amtsvorgängers Fernando Henrique Cardoso, unterliegen. Marta Suplicy ist Vizechefin der Arbeiterpartei.

„Speichelleckerei, Prinzipienverrat, Inkompetenz“

Anfang 2004 hatte Frei Betto bereits in der „Folha de Sao Paulo“ beschrieben, wie in Brasilia derzeit Politik gemacht wird: Speichelleckerei, Inkompetenz, Prinzipienverrat, Effekthascherei, gröbste Lügen, Krokodilstränen, Wiederholung alter politischer Sünden. Irritationen über eingeforderte Wahlversprechen und Kritik. In die Politik steige man ein „ohne Prüfung der Kompetenz, fordert man kein Attest moralischer Integrität – in dieser Suppe der Gewählten vermischen sich Ehrliche und Gerissene, Rechtschaffene und Korrupte.“

Frei Betto kennt wie Luiz Bassegio, Koordinator des „kontinentalen Aufschreis, Lula bereits aus der Diktaturzeit, den Metallarbeiterstreiks sehr gut. Kurz bevor er mit Lula in den Präsidentenpalast einzog, hatte er diesem öffentlich einige Warnungen mit auf den Weg gegeben: Gewählte „Hoffnungsträger“ lateinamerikanischer Länder liefen stets Gefahr, „machtbesoffen“ zu werden, den Kontakt mit der Basis zu verlieren, sich mit Speichelleckern zu umgeben, die Fähigkeit zur Selbstkritik zu verlieren, Privilegien und Luxus zu genießen, während es der Bevölkerung am nötigsten fehle. Nach wenigen Monaten bereits mußte Frei Betto erfahren, daß Lula ausgerechnet im Sozialbereich sparte, die Massenarbeitslosigkeit weiter ankurbelte, sich dem Establishment anbiederte, archaischen politischen Praktiken frönte. Mit gewisser Bitternis erklärte er darauf den Leuten:“Wir sind an der Regierung, aber nicht an der Macht.“

Frei Betto und Fidel Castro

Zu einer besonders delikaten Aufgabe Frei Bettos wurde Lulas Visite im September 2003 bei Fidel Castro, mit dem der Dominikaner noch enger als Lula selbst befreundet ist. Washington hatte Lula offiziell aufgefordert, während des Besuchs öffentlich die Menschenrechtspolitik der Castro-Regierung zu kritisieren – wozu es jedoch nicht kam. Frei Betto vermittelte vielmehr ein Gespräch Lulas mit dem Kardinal von Havanna, der dabei eingeräumt habe, daß die fünfundsiebzig in jüngster Zeit zu Gefängnisstrafen verurteilten Castro-Gegner in eine Konspiration gegen die kubanische Regierung verwickelt gewesen und von der US-Vertretung in Havanna entsprechend beeinflußt worden seien. „Wenn Cuba so fürchterlich ist – warum fahren dann dorthin mehr Touristen als nach Brasilien?“, sagt Frei Betto, der mehrere europäische Menschenrechtspreise erhalten hat.

Als in Lulas erstem Amtsjahr Führer der Landlosenbewegung (MST) wie Josè Rainha, Diolinda da Silva und Mineirinho eingekerkert wurden, stellte sie Frei Betto in eine Reihe mit wegen ihrer Überzeugung verfolgten Persönlichkeiten der Geschichte, wie Galileo, Edith Stein, Gandhi und Martin Luther King. „Verurteilt werden Landlosenführer, die sich für elementare Rechte einsetzen, obwohl doch das Großgrundbesitzertum auf der Anklagebank sitzen müßte. Ich danke Gott für die Existenz des MST. Eigentum, das gemäß kirchlicher Doktrin nicht seine soziale Funktion erfüllt, ist kriminell – das Recht auf Leben steht höher als Eigentumsrecht.“

Sexsklaven

Jahrzehntelang werden Brasiliens kirchliche Menschenrechtsaktivisten sogar von Europa aus belächelt, weil sie unermüdlich die Perversität von Menschenhandel und Prostitution anprangern, beim Kampf gegen die Schlepperbanden des organisierten Verbrechens ständig ihr Leben riskieren. Die Warnungen werden als überholte katholische Prüderie abgetan. Doch nun ist überraschend sogar die UNO aufgewacht, spricht von offener, brutaler Sex-Sklaverei. „Die Europäer glauben, daß die Sklaverei vor Jahrhunderten abgeschafft wurde – doch schaut euch um, die Sklaven sind mitten unter euch“, betont der zuständige UN-Exekutivdirektor Antonio Maria Costa bei der Vorstellung seiner alarmierenden Studie in Madrid. Laut Costa werden derzeit über 140.000 Frauen als „Sex-Slaves“ ausgebeutet – ein beträchtlicher Teil seien brasilianische Prostituierte, deren Gesamtzahl die UNO in Europa auf rund 75.000 beziffert. Der Jahres-Profit liege bei 2,5 Milliarden Euro. „Ein sehr altes Problem wird endlich zur Kenntnis genommen.“ Als wichtigste Empfängerländer nennt die UNO sowohl Deutschland, Österreich, die Schweiz als auch Spanien, Italien, Frankreich und Portugal. Letzterer EU-Staat mußte jetzt einräumen, daß unter den Sex-Sklavinnen des Landes immerhin 40 Prozent aus der einstigen Kolonie Brasilien stammen.

An der Mündung des mächtigen Amazonasstroms kann Bischof José Luiz Azcona auf der Flußinsel Marajó da nur abwinken – in all den Menschenhandels-Details kennt er sich inzwischen besser aus, weil die Sexsklaverei sein Bistum ganz direkt betrifft. Aber wird das über 40.000 Quadratkilometer große Marajó nicht in der europäischen Tourismusreklame immer als tropisches Inselparadies gerühmt und gerade Naturfreunden ans Herz gelegt? Bischof Azcona schaut genauer hin:“Man bedroht mich mit Mord, weil ich die sexuelle Ausbeutung von Kindern ebenso anklage wie den Frauenexport von Marajó nach Europa, zur Zwangsprostitution – und weil ich Politiker und Unternehmer als die Täter und Hintermänner nenne!“

Azconas Bistum Marajó liegt im riesigen nordbrasilianischen Teilstaat Pará von der mehrfachen Größe Deutschlands – laut UNO suchen die Menschenhändler vor allem in armen, verelendeten Dörfern des Hinterlands nach neuen Opfern. „Das ist hier wie Niemandsland“, beklagt Azcona, „der Staat ist nicht präsent, illegale Waffenhändler und die Drogenmafia haben ebenfalls freie Hand.“ Immer wieder bekommt er zu hören, das in den Menschenhandel verwickelte Rauschgiftbusiness sei gut und positiv, weil es den ärmsten Familien doch wenigstens etwas zu essen sowie Arzneimittel garantiere. „Daran sieht man, daß dieser Krieg hier schwieriger zu gewinnen sein wird als im kolumbianischen Medellin oder in Rio de Janeiro. Unsere Gesellschaft ist krank – die Mentalität der Menschen muß sich ändern.“

Was Azconas Gegner besonders aufbringt: Der Bischof klagt nicht nur an, sondern hat bereits zahlreiche polizeiliche Ermittlungen sowie einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß bewirkt, der sich viele konkrete Vorschläge gegen den Menschenhandel anhören mußte. Denn Zwangsprostitution – ob in Brasilien oder in Europa – beginnt fast immer nach dem gleichen Schema, wie auch kirchliche Sozialarbeiterinnen und Anwältinnen analysieren: Opfer des Frauenhandels entstammen zumeist dem Heer völlig zerrütteter, verwahrloster Unterschichtfamilien, in denen funktionelle Analphabeten dominieren. Destrukturierte Familien sind unfähig, den Mädchen eine Werte-Orientierung zu geben – schlimmer noch, stimulieren, zwingen sie nur zu oft zur Prostitution, um davon zu profitieren. Daß sich Mädchen an die Straße stellen und sich Autofahrern feilbieten, gilt vielerorts bereits als normale, ganz „banale“ Beschäftigung, wird von den Familien legitimiert. Wer Mädchen, jungen Frauen aus diesem Umfeld gar die Flucht aus der Misere, einen „Traum“-Flug in Länder der Ersten Welt verspricht, hat daher gewöhnlich leichtes Spiel.

Selbst in den armseligsten Hütten der von Lepra, Tuberkulose und Malaria heimgesuchten Dörfer von Pará steht gewöhnlich ein Fernseher – allabendlich hocken dort die halbnackten Kinder auf dem Lehmboden und verfolgen bewundernd jene TV-Serien mit den vielen schicken, aufgepeppten Edelhuren, die in tolle Sportwagen einsteigen, Villen der Reichen frequentieren. Monique Laroche, Leiterin der bischöflichen Pastoral für marginalisierte Frauen, weiß genau, wie das auf Heranwachsende wirkt: „Sogar im Fernsehen wird es so dargestellt, als sei Prostitution ein lukrativer Beruf der Zukunft, mit Glamour und Kick. Gerade Mädchen der Unterschicht mit sehr niedriger Bildung denken dann, wenn Prostitution weder negativ noch problematisch ist, gehe ich eben auf den Strich. Doch dann sitzen sie regelrecht in der Falle, da Prostitution die körperliche und geistige Gesundheit der Frauen gravierend zerstört.“ Huren, so beobachtet Monique Laroche, „werden gewöhnlich von einer Zuhältermafia oder brutalen Verbrecherkommandos beherrscht, erleiden viel Gewalt, sind häufig tief psychisch gestört und drogenabhängig, halten sich dann für den Müll, den Abschaum der Stadt.“

Dies gilt haargenau auch für die Sex-Sklavinnen Europas, wie der UNO-Bericht hervorhebt. Aus Spanien ist bekannt, daß Brasilianerinnen von Zuhälter zu Zuhälter verkauft werden. Vielen sei vor dem Abflug aus dem Tropenland durchaus klar, für welches Gewerbe man sie ausgesucht habe, ahnten indessen nichts von den grauenhaften Arbeitsbedingungen, sagen dortige Sozialwissenschaftler. „Diese Brasilianerinnen wechseln von einem Bordell ins andere durch ganz Spanien, verlieren schließlich den Begriff von Geographie und Zeit. Viele werden zum Drogenkonsum überredet – wissen aber nicht, daß sie süchtig sind – so unglaublich das klingt. Pro Nacht schläft jede mit acht Kunden, erhält jeweils etwa 50 Euro, bekommt indessen schwerlich davon wenigstens einen Teil – alles geht an die Mafia!“ Die UNO schätzt, daß alle zwei Jahre die Sex-Sklavinnen durch neue ersetzt werden. In Brasilien kennt fast jedermann Fälle, in denen junge Frauen der Unterschicht sich zunächst allein in Europa verdingen und später sämtliche vier bis fünf Schwestern nachholen. In den Prostitutionsstraßen von Genf sei brasilianisches Portugiesisch inzwischen die meistgesprochene Sprache. Auf der Ferieninsel Mallorca sind ebenfalls die meisten Prostituierten aus dem Tropenland. In London beklagen Brasilianerinnen, immer nur „Fette, Häßliche und Stinkende“ als Kunden zu haben.

Bischof Azcona von Marajó wird keineswegs als einziger Geistlicher Brasiliens wegen des Kampfes gegen Menschenhandel verfolgt – allein im Nord-Teilstaat Pará erhalten Bischof Flavio Giovenale in Abaetetuba und sein aus Österreich stammender Kollege Erwin Kräutler in Altamira sowie Dutzende von Priestern aus denselben Gründen ebenfalls Morddrohungen. Inzwischen protestieren auch Brasiliens Feministinnen immer energischer gegen Kinder- und Zwangsprostitution, sehen ihr Land im Frauenhandel sogar weltweit an der Spitze.

In Rio de Janeiro läßt sich beobachten, wie minderjährige Mädchen für umgerechnet 80 Cents ihren Körper verkaufen, das Geld dann in die zerstörerischste Droge Crack umsetzen. Yvonne Bezerra de Mello, Künstlerin, Slum-Sozialarbeiterin aus der Oberschicht Brasiliens, sagt illusionslos:”Nicht selten hausen in den Armenvierteln Rios auf nur neun Quadratmetern zehn Personen; Jungen und Mädchen sehen täglich homo-und heterosexuellen Verkehr, betrachten diesen Umstand gleichwohl als natürlich und nicht etwa unmoralisch oder Sünde. Auch der Umgang mit Rauschgift ist alltäglich. Für die Mädchen zählt zu den gängigen Erfahrungen, mit acht, neun oder zehn vergewaltigt zu werden. Viele träumen davon, daß 16-bis 17-jährige Banditen sie zur Frau erwählen. Im Alter von 14 Jahren sind viele schon Mütter.  Die Zahl der Babies, die mit Schädigungen bzw. mit Aids zur Welt gebracht werden, ist enorm.“

 Padre Jorge Pierozan und die Zigeuner Brasiliens. Der Ex-Zirkusclown ist ihr Seelsorger, betreut die Nomaden mit Sensibilität und Fingerspitzengefühl. (2009)

 „Wenn ich meine Zigeuner in ihren Camps besuche, fühle ich mich wie in einer lebendigen Oper, wie auf einem anderen Planeten”, schwärmt der katholische Priester Jorge Pierozan aus Brasiliens Wirtschaftsmetropole Sao Paulo. Dort hausen rund 150000 der etwa 800000 Zigeuner des Landes zumeist nahe den Bahnhöfen in Zelten und Hütten. „Sie hören kein Radio, sehen kein Fernsehen –  was außerhalb ihrer Lager geschieht, beeinflußt Sitten und Gebräuche nicht”, sagt er im Website-Exklusivinterview. In Brasilien ist Padre Pierozan soetwas wie die oberste Autorität in Zigeunerfragen, leitet zusammen mit Bischof Paulo Moreto die nationale Nomadenseelsorge –  eine Arbeit, die ihm sichtlich Spaß macht, seinem Temperament und Naturell entspricht. Denn vor dem Priesteramt war Pierozan jahrelang Zirkusclown –  und kennt aus dieser Zeit das Leben der Fahrenden wie kaum ein anderer. Jetzt hat der Vatikan „Orientierungen für eine Pastoral der Zigeuner” in der ganzen Welt herausgebracht –  Pierozan trug mit Vorschlägen, Hinweisen zur Formulierung bei. Festgeschrieben werden das Recht auf eine eigene Identität, die Achtung der Kultur und aller gesunden Traditionen der Zigeuner.  Daß dabei differenziert werden solle, die Zigeuner neben ihren Rechten aber auch Pflichten gegenüber den anderen Völkern zu beachten hätten, ist ganz im Sinne von Padre Pierozan. Wie jedes Volk der Erde hätten auch die Zigeuner bestimmte kulturelle Eigenheiten, die man nicht verteidigen könne, meint er. Die Seelsorge verlangt von ihm viel Improvisationstalent: ”Unsere Zigeuner leben im Heute, planen nicht weit voraus, sind morgen womöglich schon woanders. Also gehe ich in ihr Lager und frage, wollt ihr, daß ich eure Kinder schon am Nachmittag taufe? Ich erkläre ihnen den Sinn des Ganzen, katechisiere sie auf der Stelle –  und nach dem Taufakt gibts natürlich ein rauschendes Fest mit Tanz und Musik, schießen die Zigeuner Feuerwerksraketen ab, ballern Schüsse in die Luft.” Konflikte, Probleme sind natürlich vorprogrammiert. Denn einige Gruppen pflegen ihre Kinder in einem anderen Lager erneut taufen zu lassen –  um zusätzliche Taufpaten zu gewinnen, die als Beschützer dienen können. „Ich erkläre den Zigeunern dann, daß das heilige Sakrament der Taufe gemäß den Kirchennormen nur einmal im Leben gewährt wird. Aber wenn mich der Clan für eine solche neue Zigeunertaufe ruft, segne ich das Kind natürlich.” Nach wie vor werden von den Familien Kinderehen vereinbart, gelten die Mädchen, ähnlich wie bei den Indianern, bereits nach der ersten Menstruation als heiratsfähig. Häufig lernen sich beide nur wenige Tage vor der Trauung zum ersten Mal kennen. Auch da kommt Padre Pierozan in eine heikle Situation, nennt ein Beispiel: ”Das Mädchen ist erst dreizehn, der Junge erst fünfzehn. Beide entdecken, daß sie zusammen schon Kinder haben, Vater und Mutter sein könnten –  und werden zusammenwohnen, werden gemäß dem Clanritual heiraten. Aber eigentlich verbietet das doch der Staat, erlaubt das auch die Kirche nicht. Was tun? Ich gehe also hin, segne sozusagen den Brautstand, die Verlobung, aber noch nicht die Ehe. Wenn die beiden Kinder haben, taufe ich die natürlich. Wenn beide dann erwachsen sind, ruft mich der Chef des Clans und dann holen wir die Eheschließungszeremonie nach, machen alles ganz korrekt. Diese Kinderehen funktionieren, halten das ganze Leben lang, denn darüber wacht der Clan. Die Kirche muß sich solchen Gepflogenheiten eben anpassen.”

Bei den brasilianischen Indianern, etwa halb so viel an Zahl wie die Zigeuner, stellt sich die katholische Indio-Seelsorge ebenfalls auf das sehr frühe Geschlechtsleben ein. Isarire Lukukui, Ex-Häuptling der Karajà-Indianer:”Indiomädchen schlafen gleich nach der Geschlechtsreife mit jemandem, bekommen, falls sie das wollen, mit elf, zwölf Jahren die ersten Kinder.”

Gemäß den neuen Vatikanorientierungen soll in den Zigeunergemeinden die Gleichstellung von Mann und Frau gefördert, die Würde der Frau geachtet werden.  Denn ebenso wie bei den Indianerstämmen, regiert auch bei den brasilianischen Zigeunern teils extremer Machismus. Padre Jorge Pierozan bestätigt das. „Zu den machistischen Regeln gehört, daß eine Zigeunerfrau nie alleine auf die Straße gehen darf –  womit verhindert werden soll, daß sie ihren Mann betrügt. Selbst der Jungverheiratete muß zeigen, daß er ein echter Macho ist, der sich überall mit Courage und Wut durchsetzt, der Herr im Hause ist. Und so schlägt er bisweilen seine Frau sogar in aller Öffentlichkeit, demonstriert damit Macht vor allen Leuten. Vor solchen Dingen verschließt die Kirche natürlich nicht die Augen. Ich versuche derartiges zu korrigieren.”

Pierozan weiß, daß solche Art von Gewalt gegen Frauen leider die gesamte Macho-Gesellschaft Brasiliens prägt –  und sogar weiter ansteigt. Zur Zigeunerseelsorge gehören auch Alphabetisierungs-und Hygienekurse, das Schlichten von Konflikten mit der Polizei. „Die Ciganos sind Kinder Gottes, menschliche Wesen wie ich –  wenn niemand sie verteidigt, ist es die Rolle der Kirche, sich für sie einzusetzen, ihnen eine Stimme zu geben.”

Brasiliens Massengräber

„Wenn die Toten da reingeschmissen werden, sind das Szenen wie in diesen

Holocaustfilmen“, beklagen sich Anwohner von Massengräber-Friedhöfen der größten lateinamerikanischen Demokratie. In der Tat wird seit der Diktaturzeit vom Staat die Praxis beibehalten, nicht identifizierte, zu „Unbekannten“ erklärte Tote in Massengräbern zu verscharren.

Die Kirche protestiert seit Jahrzehnten dagegen und sieht darin ein gravierendes ethisch-moralisches Problem, weil es in einem Land der Todesschwadronen damit auch sehr leicht sei, unerwünschte Personen verschwinden zu lassen. In der Megacity Sao Paulo mit ihren mehr als 23 Millionen Einwohnern empört sich der weltweit angesehene Menschenrechtspriester Julio Lancelotti: „In Brasilien wird monatlich eine erschreckend hohe Zahl von Toten anonym in Massengräbern verscharrt, verschwinden damit Menschen auf offiziellem Wege, werden als Existenz für immer ausgelöscht. Wir von der Kirche nehmen das nicht hin, versuchen möglichst viele Tote zu identifizieren, um sie  dann auf würdige Weise christlich zu bestatten. Wir brauchten einen großen Apparat, ein großes Büro, um alle Fälle aufklären zu können – dabei ist dies eigentlich Aufgabe des Staates!“

Padre Lancelotti erinnert daran, daß während der 21-jährigen Diktaturzeit in

Sao Paulo von den Machthabern 1971 eigens der Friedhof Dom Bosco geschaffen wurde, um dort zahlreiche ermordete Regimegegner heimlich gemeinsam mit jenen unbekannten Toten, den sogenannten Indigentes, in Massengräber zu werfen. Wie die Menschenrechtskommission des Stadtparlaments jetzt erfuhr, wurden seit damals allen Ernstes 231.000 Tote als Namenlose verscharrt – allein auf diesem Friedhof. Heute kommen Monat für Monat dort zwischen 130 und 140 weitere Indigentes hinzu.

Nach einem Massaker an Obdachlosen Sao Paulos kann Priester Lancelotti zufällig auf dem  Friedhof Dom Bosco beobachten, wie sich der Staat der Namenlosen entledigt: “Als der Lastwagen kommt und geöffnet wird, sehe ich mit Erschrecken, daß er bis obenhin voller Leichen ist. Alle sind nackt und werden direkt ins Massengrab geworfen. Das wird zugeschüttet – und fertig. Sollten wir später noch Angehörige ermitteln, wäre es unmöglich, die Verstorbenen in der Masse der Leichen wiederzufinden. Was sage ich als Geistlicher dann einer Mutter?“ Lancelotti hält einen Moment inne, reflektiert: „Heute hat das Konzentrationslager keinen Zaun mehr, das KZ ist sozusagen weit verteilt – die Menschen sind nach wie vor klar markiert, allerdings nicht auf der Kleidung, sondern auf dem Gesicht, dem Körper. Und sie werden verbrannt, verscharrt, wie die Gefangenen damals, und es gibt weiter Massengräber.“

Was in Sao Paulo geschieht, ist keineswegs ein Einzelfall. In der nordostbrasilianischen Millionenstadt Fortaleza leiden die Anwohner des Friedhofs „Bom Jardim“ seit Jahren bei den hohen Tropentemperaturen unter grauenhaftem Leichengeruch. „Die Toten werden oft schon verwest hergebracht, wie Tiere verscharrt, wir müssen zwangsläufig zusehen, es ist grauenhaft“, klagt eine Frau. „Fast jeden Tag kommt der Leichen-LKW – doch bei den heftigen Gewitterregen wird die dünne Erdschicht über den Toten weggeschwemmt, sehen wir die Massengräber offen, wird der Geruch im Stadtviertel so unerträglich, daß viele Kopfschmerzen kriegen, niemand hier eine Mahlzeit zu sich nimmt.“ Der Nachbar schildert, wie das vergiftete Regenwasser vom Friedhof durch die Straßen und Gassen des Viertels läuft: „Das Wasser ist grünlich und stinkt, manchmal werden sogar Leichenteile mitgeschwemmt – und weggeworfene Schutzhandschuhe der Leichenverscharrer. Die Kinder spielen damit – haben sich an die schrecklichen Vorgänge des Friedhofs gewöhnt. Wir alle haben Angst, daß hier Krankheiten, Seuchen ausbrechen.“

Selbst in Rio de Janeiro sind die Zustände ähnlich, werden zahllose Menschen von Banditenkommandos der über 1.000 Slums liquidiert und gewöhnlich bei Hitze um die 35 bis 40 Grad erst nach Tagen in fortgeschrittenem Verwesungszustand zum gerichtsmedizinischen Institut abtransportiert. Wie aus den Statistiken hervorgeht, werden in den Großstädten monatlich stets ähnlich viele Tote als „Namenlose“ in Massengräber geworfen wie in Sao Paulo, der reichsten Stadt ganz Lateinamerikas.

Priester Julio Lancelotti und seine Mitarbeiter stellen immer wieder Merkwürdigkeiten und verdächtige Tatbestände fest. „Werden Obdachlose krank und gehen in bestimmte öffentliche Hospitäler, bringt man an ihrem Körper eine Markierung an, die bedeutet, daß der Person nach dem Tode zu Studienzwecken Organe entnommen werden. Die Männer registriert man durchweg auf den Namen Joao, alle Frauen als Maria. Wir streiten heftig mit diesen Hospitälern und wollen, daß die Obdachlosen auch nach dem Tode mit den echten Namen geführt werden. Schließlich kennen wir diese Menschen, haben über sie Dokumente. Man meint eben, solche Leute sind von der Straße, besitzen also weder eine Würde noch Bürgerrechte. Wir haben in der Kirche eine Gruppe, die den illegalen, kriminellen Organhandel aufklären will, aber rundum nur auf Hindernisse stößt. Denn wir fragen uns natürlich auch, ob jenen namenlos Verscharrten vorher illegal Organe entnommen werden.“

Fast in ganz Brasilien  und auch in Sao Paulo sind Todesschwadronen aktiv, zu denen Polizeibeamte gehören, wie sogar das Menschenrechtsministerium in Brasilia einräumt. Tagtäglich würden mißliebige Personen außergerichtlich exekutiert, heißt es. Darunter sind auch Obdachlose, von denen allein in Sao Paulos Zentrum weit über zehntausend auf der Straße hausen. Wie Priester Julio Lancelotti betont, ist zudem die Zahl der Verschwundenen auffällig hoch. „Auf den Straßen Sao Paulos werden viele Leichen gefunden. Denn es ist sehr einfach, so einen Namenlosen zu fabrizieren. Man nimmt ihm die Personaldokumente weg, tötet ihn und wirft ihn irgendwo hin. Wir gehen deshalb jeden Monat ins gerichtsmedizinische Institut, um möglichst viele Opfer zu identifizieren. Die Polizei ist immer überrascht und fragt, warum uns das interessiert. Das Identifizieren ist für uns eine furchtbare, psychisch sehr belastende Sache, denn wir müssen monatlich stets Hunderte von Getöteten anschauen, die in großen Leichenkühlschränken liegen – alle schon obduziert und wieder zugenäht. Und man weiß eben nicht, ob da Organe

entnommen wurden.“

Solchen Verdacht hegen nicht wenige Angehörige von Toten, die seltsamerweise als „Namenlose“ im Massengrab endeten. In der nordostbrasilianischen Küstenstadt Maceio ging letztes Jahr der 69-jährige Sebastiao Pereira sogar mit einem Protestplakat voller Fotos seines ermordeten Sohnes auf die Straße. Dem Vater hatte man im gerichtsmedizinischen Institut die Identifizierung der Leiche verweigert – diese dann mysteriöserweise auf einen Indigentes-Friedhof gebracht. Kaum zu fassen – ein Friedhofsverwalter bringt es fertig, Sebastiao Ferreira später  mehrere Leichenteile zu zeigen, darunter einen Kopf. „Mein Sohn wurde allein am Kopf von vier MG-Schüssen getroffen – und dieser Kopf war doch intakt! Ich setzte eine DNA-Analyse durch – der Kopf war von einem Mann, das Bein von einem anderen, der Arm wiederum von einem anderen – doch nichts stammte von meinem Sohn“, sagt er der Presse.

In Sao Paulo hat Priester Lancelotti durchgesetzt, daß ein Mahnmal auf dem Friedhof Dom Bosco an die ermordeten Regimegegner, aber auch an die mehr als 200.000 „Namenlosen“ erinnern wird.

Neuerdings macht der Friedhof in Brasilien immer wieder Schlagzeilen, allerdings nicht wegen der Massengräber von heute. Progressive Staatsanwälte versuchen das Oberste Gericht in Brasilia zu überzeugen, den zur Diktaturzeit für den Friedhof verantwortlichen Bürgermeister Paulo Maluf und den damaligen Chef der Politischen Polizei, Romeu Tuma, wegen des Verschwindenlassens von Oppositionellen vor Gericht zu stellen. Erschwert wird dies jedoch durch den Politikerstatus der Beschuldigten: Paulo Maluf ist Kongreßabgeordneter und Romeu Tuma sogar Kongreßsenator – beide gehören zum Regierungsbündnis von Staatspräsident Lula.

„Peinlich für Brasilien, schmerzlich für das Volk“(2005)

Kirche und Sozialbewegungen wenden sich wegen Korruptionsskandalen von Lula-Regierung ab

„ Unsere Warnungen, Voraussagen haben sich leider bestätigt – an der Staatsspitze grassiert tatsächlich die Korruption“, betont Odilo Scherer, deutschstämmiger Generalsekretär der brasilianischen Bischofskonferenz (CNBB). „Was jetzt enthüllt wird, ist peinlich für Brasilien, schmerzlich für das Volk, das in die Regierung von Staatschef Lula so große Hoffnungen setzte.“ Tag für Tag erfahren die Brasilianer aus parlamentarischen Untersuchungsausschüssen mehr über ein raffiniertes System der Abgeordnetenbestechung und des Machtmißbrauchs, der Mittelabzweigung aus Staatsbetrieben. Laut innenpolitischen Beobachtern und selbst der „New York Times“ handelt es sich um die „größte Korruptionsaffäre in der Geschichte des Tropenlandes“.  Über vierzig Minister und andere hohe Staatsfunktionäre aus Lulas Arbeiterpartei(PT) verloren bereits ihre Posten – der Staatschef mußte sich notgedrungen von engsten Vertrauten im Präsidentenpalast trennen. Darunter  sind sogar seine rechte Hand, der bisherige Chefminister Josè Dirceu –  außerdem PT-Parteichef Josè Genuino und der ebenfalls schwerbelastete PT-Schatzmeister Delubio Soares. Beinahe täglich besteht die Bischofskonferenz auf schonungslosen Ermittlungen auch durch die Bundespolizei, weil befürchtet werden muß, daß Hauptschuldige und Drahtzieher letztlich straffrei davonkommen. Alles „in einer Pizza endet“,  wie man in Brasilien sagt, also im Sande verläuft. Für die brasilianischen Sozialbewegungen hat Lula seine mit hohem Propagandaaufwand geführte „Schlacht um die öffentliche Meinung“ verloren. „O Governo Lula jà acabou“, die Lula-Regierung ist bereits hinüber, am Ende, analysiert Pedro Stedile, Führer der auch von den deutschen Kirchen stark unterstützten Landlosenbewegung MST. Der bekannte Befreiungstheologe Leonardo Boff war 2002 begeistert in Lulas Wahlkampfkarawane durch ganz Brasilien mitgefahren – an der Seite von nicht wenigen Korrupten, wie er jetzt schockiert feststellen muß. „Die Korruption der Besten ist die schlimmste, die es gibt.“ Padre Alfredo Goncalves, Koordinator der brasilianischen Sozialpastoralen, nennt es einen „Schlag ins Gesicht“ der verelendeten Massen,  wenn jetzt bekannt werde, wie auf Geheiß der PT-Auftraggeber Millionen und Arbermillionen stets in bar, meist in schwarzen Geldkoffern, durchs Land, zu den dubiosen Empfängern transportiert wurden. Beklagenswert, daß ausgerechnet die sogenannte „Partei der Ethik“  schizophrene Elite-Mentalitäten übernommen habe, die Stufenleitern hinauf zur Welt des Luxus im Eiltempo erklettern wollte.  PT-Amtsträger hätten sich nicht mit teilweise erklecklichen „Supersalären“, etwa als neue Bosse von Staatsbetrieben, zufriedengegeben. „Schwarze Kassen, Bestechung, Kauf und Verkauf von Stimmen und Einfluß wurden normale Praxis.“ Das Volk sei darüber perplex, entsetzt, enttäuscht – vollmundige Regierungsreden könnten nicht mehr die Tricks und Betrügereien der Staatsspitze überdecken.  Daß die Lula-Familie und ihr ganzer Anhang die Freuden des luxuriösen Palastlebenes in vollen Zügen genießt,  beschreiben die Landesmedien ausführlich. Ebenso wie den steilen Aufstieg des Lula-Sohnes Fabio zu einem wohhabenden Teilhaber der größten privaten Telefongesellschaft Telemar.  Eine ganze Bevölkerung befindet sich in „kollektiver Trauer“, weil Ikonen der Ethik und Moral fielen, haben die Sozialwissenschaftler herausgefunden. Schon mehren sich militante Proteste gegen Lula und seine Regierung, fliegen Eier  Steine auf seinen Regierungstroß, brennen Autoreifen auf City-Avenidas, knüppelt die Militärpolizei Demonstranten nieder.

Angesichts der  Krise warnte Staatschef Lula jetzt die Opposition vor den Gefahren für die immer noch sehr störanfällige Wirtschaft – Forderungen nach einem Amtsenthebungsverfahren, gar einem Rücktritt Lulas werden daher leiser. Teilen der Geldelite graust schließlich vor dem Gedanken, daß Lula dann durch seinen Vize und Verteidigungsminister, den als unberechenbar geltenden Milliardär und Großunternehmer Josè Alencar ersetzt werden würde. Alencar ist Ehrenpräsident der rechtskonservativen Sektenpartei PL, deren schwerbelasteter Chef Valdemar Costa Neto gestern sein Abgeordnetenmandat niederlegen mußte. Damit rückt nun auch der Lula-Vize in die Schußlinie.

CIA und evangelikale Sektenkirchen in Brasilien – warum die antikatholischen “Freikirchen” Brasiliens in den deutschsprachigen Ländern  soviel Sympathie finden.

„CIA spionierte Brasiliens Kirche aus, fördert Sekten”

Bischofskonferenz analysiert freigegebene Geheimdokumente

Bischöfe und Theologen des Tropenlandes befassen sich derzeit mit ungewöhnlicher Lektüre: Das Weiße Haus hat weitere hochbrisante Geheimdokumente über CIA-Operationen vor und während der brasilianischen Militärdiktatur freigegeben, die auch die katholische Kirche betreffen. Renommierte Menschenrechtsaktivisten, Intellektuelle wie Helio Bicudo und der Befreiungstheologe Frei Betto aus Sao Paulo sehen ihre früheren Recherchen bestätigt. „Dank dieser Geheimdokumente wissen wir nun genau, daß Washington die südamerikanischen Militärputsche der sechziger und siebziger Jahre vorbereitete.” Auch in Brasilien, so der Dominikanerbruder und Bestsellerautor mit Millionenauflagen, sei mit CIA-Hilfe 1964 ein Willkürregime an die Macht gebracht worden, das bis 1985 währte. Der damalige US-Botschafter in Brasilia habe sogar finanzielle und militärische Hilfe für die Putschisten angefordert. „Argumentiert wurde mit dem Hirngespinst von der kommunistischen Gefahr – obwohl die katholische Kirche und speziell deren befreiungstheologischer Flügel bedrohlicher für die Interessen der USA angesehen wurden als der Marxismus.”Auf die Veröffentlichungen reagierte auch die Familie des 1964 weggeputschten demokratischen Präsidenten Joao Goulart. „Wir gehen jetzt vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag und werden beweisen, daß es eine Intervention der USA gab”, erklärten Joao Vicente und Denise Goulart, Kinder des damaligen Staatschefs, vor der Presse. „Sie haben einen gewählten Präsidenten gestürzt, Brasiliens Souveränität gebrochen.” Vicente und Denise Goulart verweisen zudem auf Dokumente, denen zufolge damals tatsächlich im Rahmen der sogenannten „Operation Brother Sam” eine US-Militärflotte vor der brasilianischen Küste bereitgestanden habe. Die Familie will eine hohe Entschädigungssumme von Washington –  umgerechnet über 1,3 Milliarden Euro. Brasiliens Kirche war zur Diktaturzeit weitgehend regimekritisch, war Opposition. Um ein Gegengewicht zu schaffen, so Frei Betto, habe die CIA deshalb die Ausbreitung von Sekten gefördert – und tue dies offenbar bis heute. ”Die USA finanzierten jene Sektenkirchen, denen es darum geht, Brasiliens Christen zu spalten und progressive Tendenzen in der katholischen Kirche auszulöschen. Jene „elektronischen Kirchen” propagierten sogar eine Theologie des Wohlstands. Dagegen stehe die Botschaft Jesu für Gerechtigkeit und Frieden in der Welt. Dies sollten die Gläubigen nicht entdecken. Bezeichnend sei, daß die brasilianischen Chefs wichtiger evangelikaler Kirchen heute alle in den Vereinigten Staaten wohnten, nicht in Brasilien.

Nicht zufällig herrscht Frohlocken, klammheimliche bis offene Freude über ein Anwachsen der CIA-geförderten Sekten bei jenen, denen der weltweite Kampf der katholischen Kirche für Menschenrechte, darunter in Ländern wie Brasilien, sehr ungelegen kommt.  Auch in deutschsprachigen Ländern stoßen daher solche Sekten auf viel Wohlwollen, werden häufig beschönigend als Freikirchen eingestuft.

Befreiungstheologe Frei Betto verbrachte als politischer Gefangener mehrere Jahre in den Foltergefängnissen der Diktatur, erlebte all den Horror am eigenen Leibe mit. In den CIA-Dokumenten steht, daß die USA über die Folterpraxis sehr genau Bescheid wußten. „Das Verhör politischer Gefangener ist häufig begleitet von Folter, unter anderem Aufhängen mit dem Kopf nach unten, Elektroschocks, Hunger”, heißt es in einem Geheimtelegramm von 1973. Zitiert wird auch ein CIA-Informant aus dem Repressionsapparat:”Er beschrieb uns den Mord an einem der Subversion Verdächtigten, der er „genäht” habe, wie er es nannte –  indem er auf ihn mit einer automatischen Waffe vom Kopf bis zu den Zehen des Fußes gefeuert habe.” Kurz vor dem Putsch telegraphierte der damalige US-Botschafter Gordon nach Washington, man müsse Hilfe leisten, „um ein größeres Desaster zu verhindern, welches Brasilien zu einem China der sechziger Jahre machen könnte”. Der damalige US-Präsident Lyndon Johnson erklärte unter Bezug auf Brasilien:”Wir können das dort nicht tolerieren.” Öffentliche Kritik an diesen Menschenrechtsverletzungen und der laut US-Gesetzen mögliche Stopp von Wirtschaftshilfe seien unterblieben, um die Gewinne aus den rasch wachsenden Rüstungslieferungen an die Militärdiktatur nicht zu gefährden, betont der Dominikaner. ”Kardinal Evaristo Arns aus Sao Paulo zählte zum Widerstand gegen die Diktatur und schlug den USA sogar ein Wirtschaftsembargo gegen Brasilien vor.” Seine Bitte habe natürlich kein Gehör gefunden. „Denn die USA finanzierten ja die Diktatur.” Die CIA habe zudem Persönlichkeiten wie Kardinal Arns oder Erzbischof Helder Camara ausspioniert, Geistliche beispielsweise als progressiv, als hilfreich für die Interessen der USA oder gar als Feinde klassifiziert.Viele Dollars flossen gemäß den nordamerikanischen Quellen auch in die Ausbildung von Todesschwadronen, von Eliteeinheiten der politischen Polizei Brasiliens. „Ab 1968 ging die Diktatur brutaler, aggressiver gegen Regimegegner vor, wurde gemordet, ließ man Menschen verschwinden”, erinnert sich Frei Betto. Der Repressionsapparat sei mit Washingtoner Hilfe besser organisiert worden. „An US-Militärakademien wurden Folterer für verschiedene lateinamerikanische Diktaturen, darunter für Brasilien ausgebildet.”

Brasiliens Bischofskonferenz fordert seit Jahren, daß die Regierung von Staatschef Luis Inacio Lula da Silva endlich die geheimen Diktaturarchive der Streitkräfte öffnet. „Damit würde mehr über die Zusammenarbeit mit der CIA bekannt.” Doch genau dies solle verhindert werden. Länder wie Chile oder Argentinien seien bei der Vergangenheitsbewältigung schon viel weiter. ”Die Lula-Regierung ist eigentlich dazu verpflichtet, die Öffentlichkeit über diese dunkle Phase unserer Geschichte aufzuklären, damit man weiß, wer verantwortlich war für all die Verbrechen.” Lula, so sieht es Frei Betto, müßte als Chef der Streitkräfte die Militärs zwingen, alle Repressionsarchive zu öffnen. „Unerklärlich, ja verrückt, daß er es nicht tut.” Schließlich legten selbst die USA ihre Geheimdokumente über diese Zeit, die Beteiligung am Militärputsch offen.

“Nicht ohne Grund hat etwa der frühere US-Präsident Ronald Reagan in Südamerika die Sekten gefördert, weil sie individualisierend und systemstabilisierend wirken.” Franziskaner Paulo Suess in Publik-Forum

 Brasiliens Familien zunehmend zerrüttet – katholische Kirche besorgt(2012)

 In Brasilien, dem größten katholischen Land, sorgt sich die Kirche um die rasch zunehmende Zerrüttung der Familien. Gab es 1980 in 75 Prozent der Haushalte die klassische traditionelle christliche Familie von Eltern mit Kindern, sind es nach neuesten amtlichen Statistiken erstmals weniger als 50 Prozent. Die katholische Kirche zählt Bevölkerungsexplosion, Verelendung und verschlechterte Bildung, aber auch früher unbekannte soziale Probleme wie hohe Gewaltkriminalität und die Drogen-Epidemie zu den Hauptgründen.  

“Auch in der Erzdiözese von Sao Paulo ist die klassische Familie nicht mehr in der Mehrheit – wir haben inzwischen alle Formen familiärer Zusammenschlüsse. In den Slums trifft man auf Frauen mit vielen Kindern – doch unglücklicherweise ist jedes von einem anderen Mann“, sagt Ester dos Santos, Leiterin der katholischen Familienseelsorge in der Megacity mit den weit über 2600 Elends-und Armenvierteln. „Die traditionellen Werte der Familie sind Stück für Stück zerstört worden – wir sehen die Resultate im Alltag. Mir tut diese junge Generation von heute leid – Brasiliens Jugend wird vom Rauschgift beherrscht – ich selber hatte einen drogensüchtigen Sohn.“

1960 zählte Brasilien nur rund 71 Millionen Bewohner – die meisten lebten fernab der Städte im Hinterland. Heute sind es über 192 Millionen Brasilianer. Ungezählte Kleinbauern- und Landarbeiterfamilien wurden von Großgrundbesitzern, dem Agrobusiness vertrieben, es kam zu einer regelrechten Landflucht, die auch Entwurzelung, Identitätsverlust, soziale Zersplitterung bewirkte. Heute leben rund 85 Prozent der Brasilianer in großen Städten wie Sao Paulo, meist an der chaotischen, gewaltgeprägten Peripherie, wo das organisierte Verbrechen neofeudal über die Bewohner herrscht. Dort hat die Kirche daher nur sehr beschränkte Wirkungsmöglichkeiten, braucht das Okay der schwerbewaffneten Slum-Herrscher. Dort  arbeiten die Geistlichen meist mit hohem Lebensrisiko, werden regelmäßig Padres ermordet. Ester dos Santos von der „Pastoral da Familia“ gehört zu einer katholischen Gemeinde, die an Slums grenzt.

“In unserer Kirche gibt es fast keine Eheschließungen mehr. Die Frauen leben meist mit den Kindern alleine – häufig wurde der Mann ermordet. Ich habe schon viele Morde gesehen. Bei unserer Seelsorge sind wir so flexibel wie möglich – anders als  sehr rigide evangelikale Religionsgemeinschaften. Ich selbst war ja früher eine Evangelikale. Kommen zwei nichtkatholische Homosexuelle, die ein Mädchen adoptierten, in unsere Kirche, um es taufen zu lassen, weisen wir sie nicht ab. Selbst Spiritisten kommen mit ihren Babies. Diese Realität stellt uns vor viele schwierige Situationen, sodaß wir Gott um Orientierung bitten. Wie es Christus lehrte, nehmen wir die Sünder auf, aber verurteilen die Sünde, stellen dies stets klar.“

In Sao Paulos Favela Cachoeirinha sind die Gründe der Familienzerrüttung offenkundig. Tausende hausen in provisorischen Katen aus Pappe-und Holzresten ohne jegliche Privatsphäre,  direkt an stinkendender Kloake, mit Schlangen und Ratten. Es gibt Tuberkulose und Lepra, viele Bewohner haben schweren Hautausschlag, vor allem im Gesicht. Hier lebt Cleide de Souza seit über 14 Jahren mit ihrem behinderten Mann und den vier Kindern, schmeißt den armseligen Haushalt, hat pro Kopf monatlich nur umgerechnet 30 Euro zur  Verfügung, aus staatlicher Hilfe und Gelegenheitsarbeit. “Bei den vielen Tropenregen läuft Abwasser von hinten in die Kate rein, vorne wieder raus,  in den Kloakegraben – mein kleinster Sohn hat chronische Bronchitis, für den ist das besonders schlecht.“

Die schwangere Rosilene Dias ist 33 und hat ihre Elendshütte mit nur einem Raum ganz in der Nähe: “Mit dem im Bauch habe ich sieben Kinder – ein bißchen Geld kriege ich von deren Vätern. Vom Staat läßt sich hier niemand blicken, von dem kriege ich keinen Centavo. Manchmal helfen mir die Nachbarn – aber die haben ja selber nicht viel. Also muß ich mich irgendwie durchschlagen.“

 Und das heißt, mit umgerechnet etwa 12 Euro pro Kopf im Monat, bei einem Preisniveau ähnlich dem deutschen. Auffällig, wieviele geistig und körperlich Behinderte man sieht. Immer wieder werden in den Slums psychisch gestörte Mädchen und Frauen vergewaltigt – die dann unerwünschte Kinder zur Welt bringen. Zudem gibt es Elendsprostitution. Orlando Pestana zählt zu den Menschenrechtsaktivisten der katholischen Basisgemeinde von Cachoeirinha, verteilt Lebensmittelspenden, legt sich mit der Präfektur Sao Paulos an.

“Das ist gegen die Menschenwürde, soviele Leute, soviele Kinder in diesem Schlamm, diesem Moder hausen zu lassen, die sich dann alle möglichen Krankheiten holen. Man sieht – oft hängt vor dem Eingang zum fensterlosen Hüttenraum nur ein Lappen. Die Drogenmafia ist hier sehr stark, die beobachtet jeden. Die Polizei kommt und geht wieder – aber die Banditenkommandos bleiben und terrorisieren die Bewohner. Menschen von außerhalb, die das hier nicht kennen, lassen sich schwerlich für diese Situation sensibilisieren.“

Auch Eliane Takeko, eine andere katholische Aktivistin, fordert zuallererst menschenwürdige Behausungen, da, wie sie sagt, die Leute in den engen Hütten buchstäblich übereinander leben. Und das in Brasiliens reichster Stadt. Familienleben wird da schwierig bis unmöglich, sind Konflikte jeder Art vorprogrammiert, gerät man sich sehr leicht die Haare, wird aggressiv.

“Die Frauen suchen sich gewöhnlich einen Mann – der macht ihnen ein Kind und haut wieder ab. Ganz wenige sind hier verheiratet, fest liiert. “

Slumpfarrer in Cachoeirinha ist Bernard Daly aus Irland, der die Familienseelsorge auch durch ein sehr niedriges Bildungsniveau erschwert sieht.

“Ohne Bildung wird Brasilien nie besser – Leute ohne Bildung, diese vielen Analphabeten hier kennen ja nicht mal ihre Rechte. Die anderen Staaten der BRICS-Ländergruppe, China, Rußland, Indien und Südafrika sind bereits viel weiter, viel besser.“

Seit Jahresbeginn brannten in Sao Paulo 32 solcher Elendssiedlungen nieder.  Überall in der Stadt sieht man deshalb noch mehr obdachlose Familien, die auf Gehsteigen und Plätzen kampieren. 

Recifran – das Müll-Recycling-Projekt des Franziskanerordens für Obdachlose der Megacity Sao Paulo

In einem von Gewalt und Misere geprägten Viertel der brasilianischen Megacity Sao Paulo, in dem häufig Schüsse fallen, führt der Franziskanerorden seit über sechs Jahren ein Müll-Recycling-Projekt namens Recifran. Dort sind über achtzig Frauen und Männer beschäftigt, die zuvor völlig verwahrlost auf der Straße hausten, wie Aussätzige behandelt wurden. Recifran verschafft ihnen geregelte Arbeit, gibt ihnen auch spirituellen Halt und ermöglicht die Rückkehr ins normale Leben.

Paulo Henrique, 28 Jahre alt, steht im großen Hof des Recifran-Projekts und reißt gewaltige, teils übel stinkende Müllsäcke auseinander. Plastikflaschen, Zeitungen, Blechbüchsen, Milch-und Joghurtverpackungen – alles wird von ihm und den anderen achtzig Mitarbeitern getrennt, gebündelt oder zu Packen gepreßt. Auf Handkarren wird ständig Nachschub in den Hof gefahren.

“Wir holen das ganze Zeug aus Kaufhäusern und Geschäften oder von der Straße, bereiten es auf für die Wiederverwertung. Das hier ist ein Schulungsprojekt, wir lernen erst mal, wie es geht und schließen uns dann später einer Recycling-Kooperative an. Ich bin aus Rio de Janeiro und war wie meine ganze Familie obdachlos. In einer nahen Herberge der Franziskaner habe ich von dem Projekt gehört und dann die Stelle bekommen. Hier kriegen wir erstmal einen Mindestlohn, später in der Kooperative ist es dann mehr. So können wir ein neues Leben anfangen.“

Brasiliens Mindestlohn liegt derzeit bei umgerechnet etwa 165 Euro. Die Projektlehrerin Carla Nascimento, eine Dunkelhäutige, verdient bei den Franziskanern nur etwa doppelt so viel. Sie leitet die Mitarbeiter an und schlichtet Streit.

“Lukrativ ist das hier für mich sicher nicht – aber ich sehe diese Arbeit als einen Auftrag Gottes an, ja, als meine christliche Mission. Im Grunde zählen wir alle hier in diesem Projekt zu den gesellschaftlich Ausgeschlossenen. Es ist eine gefährliche Arbeit – ich weiß nie, ob ich am Ende des Tages hier lebend herauskomme.“

Carla Nascimento ist keine Katholikin, sondern gehört zu einer großen evangelikalen Kirche, die vielerorts in Brasilien wie eine fragwürdige Wunderheilersekte agiert.

“ Ja – ich bin Pastorin in der evangelikalen Gottesversammlung und zudem Gospelsängerin. Die meisten Evangelikalen sind gegen die Katholiken, mögen sie überhaupt nicht. Und ich muß zugeben, ich war auch so. Doch die Franziskaner sind total ökumenisch und haben mich gelehrt, die Spiritualität anderer zu respektieren. Heute singe ich sogar in den katholischen Kirchen Sao Paulos – und natürlich bei den Protestdemonstrationen der Franziskaner.“

Auf dem Recycling-Hof ist es heute voll wie selten, bereiten sich die Afro-Trommler des Franziskanerordens für die Caminhada pela Paz, den Friedensmarsch durch die Stadt vor. Denn bei Recifran lernen die Obdachlosen auch, sich politisch zu organisieren, Bürgerrechte einzufordern, dafür auf die Straße zu gehen. Jene Mülltrenner von Recifran besaßen Monate zuvor im Dreck der Straße kaum noch Selbstwertgefühl. Jetzt wirken sie erstaunlich selbstbewußt, schwingen Fahnen, Transparente. Carla Nascimento singt sich warm:

Ordensbruder Josè Francisco dos Santos, der alle städtischen Sozialprojekte der Franziskaner leitet, führt den Marsch.

“Alljährlich demonstrieren wir gegen die Gewalt – und natürlich ziehen dann alle von uns betreuten Obdachlosen und Projektteilnehmer durch Sao Paulo. Die brasilianische Gesellschaft soll die Friedensbotschaft des Heiligen Franziskus hören.“

Die Caminhada da Paz endet vor dem von Obdachlosen regelrecht umlagerten Franziskanerkloster in der City. Morgens um sieben und nachmittags um drei wird täglich von der Klosterbäckerei Brot an die Verelendeten ausgegeben, nur wenige hundert Meter von Lateinamerikas Leitbörse entfernt. Und hier vorm Kloster nahm auch das Müll-Recycling-Projekt Recifran seinen Anfang. Franziskanerpriester Johannes Bahlmann, Ordensoberer von Sao Paulo und Rio de Janeiro:

“Wir haben dann aber gesagt vor fast zwanzig Jahren, also wir können nicht nur einfach Brot verteilen, wir müssen uns noch mehr auf die Armen einlassen. Man hat sich auseinandergesetzt mit den Papiersammlern, die direkt vor der Kirche gewohnt haben und mit ihren Familien unter den Wagen in der Nacht geschlafen haben – gegenüber von uns. Daraufhin ist eine Comunidade Missionaria, eine missionarische Kommunität entstanden, wo man einfach einen Raum geschaffen hat für die Obdachlosen, entstanden Projekte wie das Papiersammlerprojekt Recifran.“

Auch Priester Bahlmann zählt die Gewalt zu den Hauptproblemen von Recifran und dem nahen Obdachlosenheim für die Projektteilnehmer.

“Weil wir im Grunde genommen wie in einem Krieg hier leben. Als diese Massenmorde in Sao Paulo waren, als Obdachlose erschlagen, getötet wurden, hat man eine Manifestation vor der Kathedrale gemacht. Wir haben in unserem Obdachlosenheim uns darauf eingelassen, eine friedensstiftende Mission zu starten, wo innerhalb des Obdachlosenheimes Drogenhandel betrieben wurde, der Projektleiter war der Drogenhändler, der Koch wurde erschossen. Unser Mitbruder dort hat immer wieder Morddrohungen erhalten.“

Mit dem Recycling-Projekt, sagt Priester Bahlmann, ist es ähnlich. Brasiliens mächtigstes Verbrechersyndikat PCC ist in Sao Paulo sehr aktiv, Kriminelle werden in die Franziskanerprojekte infiltriert, suchen dort Unterschlupf. Und es gibt in Sao Paulo Müllverwertungskooperativen, wo Menschen wie Sklaven gehalten werden.

Massaker, Todesschwadronen, lebendig verbrannte Obdachlose, von Mord bedrohte Ordensbrüder – läßt sich denn in Deutschland überhaupt vermitteln, unter welchen Extrembedingungen die Franziskaner Sozialprojekte wie Recifran betreiben?

“Man kann es vermitteln, aber man muß es gesehen haben. Denn viele Dinge werden garnicht wahrgenommen, das fällt alles untern Tisch, wird verdrängt. Es wird einfach abgeblockt, man will sich nicht damit auseinandersetzen.“

Brasiliens katholische Kirche gegen Atom-U-Boot-Flotte und Rüstungswettlauf/ Landeseliten über militärisches Atomprogramm gespalten

Die katholische Kirche Brasiliens, aber auch Teile der Landeseliten haben sich scharf gegen die geplante Schaffung einer nationalen Atom-U-Boot-Flotte gewandt. Angesichts des fortdauernden Massenelends, der krassen Sozialkontraste im größten lateinamerikanischen Staat sei der Einsatz von Steuergeldern für derartige militärische Zwecke  falsch und absurd.

“Wenn Brasilien aufrüstet, militärische Macht anstrebt und damit auf militärische Konfrontationen zusteuert, ist dies ein schwerer Fehler und völlig abwegig“, sagt der brasilianische Caritas-Präsident Demetrio Valentini, der zur Führungsspitze der Bischofskonferenz im größten katholischen Land gehört. „Die Wirtschaftskraft Brasiliens, die Naturreichtümer dürfen nicht für militärische Zwecke vergeudet werden, sondern müssen zuallererst dem Kampf gegen Armut und Misere dienen. Man schaue nur auf die Grundbedürfnisse unseres Volkes,  auf die Ernährungsprobleme – da sind unsere Prioritäten, dorthin müssen die Mittel fließen.“

Brasiliens Vize-Staatschef, der Milliardär Josè Alencar, hatte vor wenigen Tagen ein Marine-Forschungszentrum bei Sao Paulo besucht und sich dort für eine Beschleunigung des militärischen Atomprogramms ausgesprochen. Das Land brauche eine Atom-U-Boot-Flotte, brauche militärische Macht, um Bedroher abschrecken zu können. Für den Atom-U-Boot-Bau seien mehr Mittel und kürzere Fristen nötig. Brasilien besitzt bereits eine Urananreicherungsfabrik, dazu große Uranvorkommen und hatte während der Militärdiktatur sogar ein Atomtestgelände in Amazonien errichtet, das später wieder geschlossen worden war. Mit deutscher Hilfe wird jetzt das dritte brasilianische Atomkraftwerk bei Rio de Janeiro errichtet.

Bischof Demetrio Valentini warnt die brasilianische Regierung davor, zum „Förderer militärischen Ungleichgewichts“ zu werden,  sieht die zivile Nutzung der Atomenergie aber durchaus positiv.

“Moderne Technologien wie die Atomkraft müssen dem gesellschaftlichen Fortschritt, der Hebung des Lebensniveaus dienen und dürfen nicht für kriegerische Zwecke, für den Rüstungswettlauf eingesetzt werden. Was wir brauchen, sind Fortschritte bei der friedlichen Nutzung der Atomenergie auf der ganzen Welt. Sollte Brasilien jetzt aber die USA, Rußland und die Europäische Union imitieren und sogar mit Atom-U-Booten aufrüsten, um sich durchzusetzen, wäre dies der falsche Weg, verlöre unser Land an moralischer Autorität – sei es nun beim Einsatz für einen gerechteren Welthandel oder einen besseren Umweltschutz. Die Phase des Wettrüstens zwischen den Staaten sollte doch heute überwunden sein. Was wir brauchen, ist eine solidarische Wirtschaft auf der ganzen Erde und Initiativen für ein friedliches Zusammenleben der Nationen. Dafür sollte Brasilien beispielgebend sein!“

Oded Grajew ist ein jüdischer Unternehmer und wird zur progressiven Elite des Tropenlandes gerechnet. Grajew hatte die Idee zum Weltsozialforum und war bei allen bisherigen Foren stark engagiert. Der 64-Jährige  leitet das von über eintausend Unternehmen getragene überparteiliche Ethos-Institut in Sao Paulo und wendet sich ebenfalls scharf gegen das militärische Atomprogramm Brasiliens.

“Wen interessiert denn eine solche Atom-U-Boot-Flotte? Unser Volk jedenfalls nicht, das Hunger leidet und keine gute Ausbildung erhält. Die Gelder für U-Boote sollten vielmehr ins Bildungs-und Gesundheitswesen, in öffentliche Transportmittel investiert werden. Vize-Staatschef Josè Alencar spricht für die ganze Regierung und vertritt eine Regierungspolitik, die nicht in nachhaltige Entwicklung investiert und auch die Abholzung der Amazonas-Urwälder nicht stoppt. Wir denken nicht, daß eine andere Regierung es anders machen würde – das ganze System hier ist einfach verfault.“

Oded Grajew, in Tel Aviv geboren, konstatiert derzeit eine deutliche Spaltung der brasilianische Elite und rechnet Vizestaatschef Josè Alencar, einen Milliardär und früheren Diktaturaktivisten, zum konservativen bis reaktionären Lager. Auch in der Atom-U-Boot-Frage zeige sich dies sehr deutlich.

“Hier haben wir es mit einem Teil der Elite zu tun, der bestimmte Wirtschaftsinteressen vertritt und auf öffentliche Gelder schielt. Denn wenn man Atom-U-Boote baut, müssen viele Dinge angekauft werden, müssen Mittel fließen. Und genau da erkennen wir jene Partnerschaft zwischen den Finanziers von Wahlkampagnen und ihren politischen Repräsentanten, die eben ganz bestimmten Interessen dienen. Bis zu neunzig Prozent der Wahlkampfgelder sind in Brasilien ja illegal, stammen aus schwarzen Kassen, teils aus kriminellen Aktivitäten. Daher ist meine Idee, jenen Teil der brasilianischen Elite zusammenzubringen, der solche Interessen nicht hat, sich durch solche Zustände geschädigt sieht. Wir haben derzeit eine tief gespaltene Elite – viele Unternehmen beispielsweise bleiben öffentlichen Ausschreibungen fern, um sich nicht am Schema von Korruption und Korrumpierung beteiligen zu müssen – und verlieren daher gute Geschäfte.“

Vor den brasilianischen Kommunalwahlen im Oktober führt Oded Grajew zudem in Lateinamerikas Wirtschafts-und Kulturhauptstadt eine überparteiliche Bewegung namens „Movimento Nossa Sao Paulo“, die den Kandidaten Vorschläge für soziale Gerechtigkeit und eine nachhaltige, umweltfreundliche Stadtpolitik macht.

“Brasiliens gesellschaftliches Klima ist derzeit von Apathie und Hoffnungslosigkeit geprägt – das ist die Wahrheit – und wir wollen dies ändern. Wir haben ein absurd klingendes Programm, es heißt `Gesetze einhalten“ – und dürfte Deutschen schwerlich zu vermitteln sein. Komplexe, weitreichende Gesetze werden einfach nicht respektiert – aber genau dies wollen wir durchsetzen. Und das heißt auch: Ein Teil der Elite stellt sich klar gegen den anderen Teil.“

Brasilianische Bischofskonferenz: Lula-Regierung unterwirft sich dem Diktat der Banken – auf Kosten der Armen und Verelendeten

Die katholische Bischofskonferenz Brasiliens hat der Regierung von Staatschef Lula erstmals vorgeworfen, sich dem Diktat der Banken zu unterwerfen, das Land in ein Finanzparadies für Bankiers verwandelt zu haben – und dies auf Kosten der Armen und Verelendeten. Die Kritik der Bischöfe löste in Lateinamerikas führender Wirtschaftsnation eine heftige öffentliche Diskussion aus, sorgt für Schlagzeilen. Denn gleichzeitig war bekanntgeworden, daß Brasiliens Privatbanken inzwischen die wichtigsten Finanziers von Lulas Arbeiterpartei sind. Als Dank dafür, daß die Wirtschaftspolitik von Lula  den Banken Jahr für Jahr Rekordgewinne beschert.

Der deutschstämmige Bischof Odilo Scherer aus der brasilianischen Wirtschaftsmetropole Sao Paulo, Generalsekretär der Bischofskonferenz, brachte mit seiner Kritik den Stein ins Rollen. Durch Staatschef Lulas konservative Politik, so Scherer,  fühlten sich die Bankiers wie im Finanzparadies, machten Gewinne wie nie zuvor. Statt gerechterer Einkommensverteilung zugunsten der armen Bevölkerungsmehrheit erlebe Brasilien Einkommenskonzentration zugunsten einer Minderheit. Über zweitausend Kilometer von Sao Paulo entfernt, im nordöstlichen Salvador da Bahia, bekräftigte Brasiliens Primas Geraldo Agnelo,  Kardinal und Präsident der Bischofskonferenz, die Kritik Scherers.

“Er hat völlig Recht – die Regierung unterwirft sich den Banken. Diese diktieren ihre Forderungen – und die Regierung erfüllt sie bis ins Kleinste. Sie sorgt sich direkt übertrieben um das Wohl der Banken, tut alles, was sie wollen. Während der Arbeiter eben keinen gerechten Lohn, keinen Inflationsausgleich einfordern kann. Damit sind wir nicht einverstanden, das ist doch nicht gerecht. Denn dem Volke geht es überhaupt nicht gut. Es muß weiter darauf warten, daß Arbeitsplätze geschaffen werden. Denn ohne Arbeit ist kein Leben in Würde möglich. Die Leute können sich doch nicht nur von staatlichen Almosen ernähren.“

Damit meint Kardinal Agnelo das Anti-Hunger-Programm der Lula-Regierung. Denn lediglich acht Millionen verelendete Familien erhalten bisher nur eine monatliche Hilfe von umgerechnet 23 Euro.

“Dieses Hilfsprogramm ist natürlich keine Lösung, bringt die Leute nicht voran, zeigt keinen Ausweg aus ihrer erbärmlichen Lage. Viele geben sich sogar mit diesem Almosen zufrieden, tun gar nichts mehr. Die Bischofskonferenz fordert deshalb eine andere Wirtschaftspolitik, die den Menschen ermöglicht, von ehrlicher Arbeit zu leben. Wir wollen, daß unsere laute Kritik an der Regierung in der Gesellschaft ein großes Echo findet.“

Zur Freude der Banken hat Brasilien derzeit die weltweit höchsten Leitzinsen, wodurch das Wirtschaftswachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen stark behindert werden. Brasilien erreichte letztes Jahr nur eine Wachstumsrate von 2,3 Prozent, während die Nachbarländer Argentinien und Venezuela immerhin auf über neun Prozent kamen.

“Diese Vergleichszahlen bedeuten einen Protest, eine regelrechte Anklage gegen die falsche wirtschaftliche Linie unserer Regierung.  Wegen der Hochzinspolitik wachsen die Gewinne der Banken enorm, muß die Regierung riesige Summen für den Schuldendienst aufbringen. Was bleibt denn da noch übrig für soziale Zwecke?“

Brasiliens größte Qualitätszeitung, die Folha de Sao Paulo, hat nachgeprüft, wer mehr aus dem Staatshaushalt erhält – die Privatbanken oder die von Hunger und Elend Betroffenen. Wirtschaftsexperte Vinicius Mota:

“Dieser Vergleich macht traurig. Denn die Banken bekommen für den Schuldendienst zwanzigmal mehr Gelder, als in das Anti-Hunger-Programm fließen. Interessanterweise wurden die Privatbanken gleichzeitig zu den wichtigsten Finanziers der Arbeiterpartei von Staatschef Lula. Fakt ist, daß sich allein zwischen 2002 und 2004 die Bankenspenden an die Arbeiterpartei um das elffache erhöhten. Die Privatbanken sind mit der Lula-Regierung sichtlich höchst zufrieden.“

Staatschef Lulas Arbeiterpartei, so analysiert die Qualitätszeitung Folha de Sao Paulo weiter, sei Favorit der Bankiers, die den einstigen Gewerkschaftsführer regelrecht gezähmt hätten. Dessen Wiederwahl beim Urnengang im Oktober sei ihnen durchaus Recht.

Fünf Jahre Anti-Hunger-Programm in Brasilien – Lob und Kritik von der Kirche.

In Brasilien hat die Regierung von Staatspräsident Lula vor fast genau fünf Jahren ein Programm gegen Hunger und Misere namens Bolsa Familia, Familienstipendium gestartet. Auch im Ausland erhielt es viel Beifall. Laut offizieller Darstellung erhalten inzwischen rund 36 Millionen Brasilianer eine monatliche Geldhilfe, die Armut und Elend deutlich verringert habe. Derzeit ziehen sowohl die Regierung als auch Sozialexperten, Forschungsinstitute und die katholische Kirche eine Bilanz des Anti-Hunger-Programms.

„Es ist im Grunde ein Almosen“, sagt Franziskanerpriester Johannes Bahlmann, Ordensoberer der Franziskanerklöster in Rio de Janeiro und Sao Paulo. „Das Projekt Bolsa Familia ist ja wie eine Sozialhilfe für die Familien, daß sie sich wirklich auch ernähren können, sich stabilisieren können. Das ist auf der einen Seite sehr positiv.“

Brasilien ist die immerhin zehntgrößte Wirtschaftsnation, das allgemeine Preisniveau im Lande ist keineswegs niedrig. Indessen werden an die häufig kinderreichen Familien pro Monat durchschnittlich nur umgerechnet etwa 27 Euro gezahlt.

“Für eine kinderreiche Familie sind natürlich 27 Euro sehr wenig, das ist also sehr, sehr gering. Vor allem, wenn man jetzt mal hier sieht in der Stadt, ist das überhaupt nicht ausreichend.“

Brasilien zählt zu den größten Lebensmittelexporteuren der Welt, hat bei Fleisch und Zucker den Spitzenplatz, liegt bei Soja nach den USA auf Rang zwei. Konnte daher, wie von der Regierung versprochen, das Hungerproblem im Lande selbst beseitigt werden?

“Nein, es ist noch nicht gelöst. Es gibt wirklich noch sehr viele Familien, die Hunger leiden, weil sie einfach keine Möglichkeit haben, sich Nahrungsmittel zu kaufen. Es kommt häufig vor, daß wir Menschen haben auf der Straße von Sao Paulo, die Hunger leiden.“

Das renommierte Sozialforschungsinstitut IBASE bestätigt die Einschätzungen von Franziskanerpriester Johannes Bahlmann. Über zwanzig Prozent der Familien, die die monatliche Hilfe erhalten, hungern weiterhin. Nur bei 17 Prozent der Empfängerfamilien hat das Institut völlige Ernährungssicherheit festgestellt. Weitere unabhängige Studien nennen als gravierendsten Fehler von Bolsa Familia, daß  einerseits 23 Prozent der Geldempfänger garnicht bedürftig seien, andererseits Millionen von verelendeten Familien leer ausgingen. So steckten sich teilweise sogar lokale wohlhabende Eliten das Geld in die Tasche. Anders, als von der Regierung vorhergesagt, garantiere Bolsa Familia keineswegs einen besseren Schulbesuch und  einen deutlichen Rückgang der eigentlich verbotenen Kinderarbeit. Die Zahl der Heranwachsenden, die trotz Bolsa Familia weit vor der achten Klasse aufgäben, habe deutlich zugenommen. Laut den offiziellen Angaben ist indessen die Kinderarbeit spürbar reduziert worden, gehen vor allem in den rückständigen Gebieten des brasilianischen Nordostens mehr Mädchen und Jungen in die Schule als zuvor.

Bischof Demetrio Valentini ist Präsident der brasilianischen Caritas.

“Wir halten Bolsa Familia für wichtig, denn der Hunger wartet nicht. Angesichts extremer Not war einfach Soforthilfe wichtig. Bolsa Familia hat unbestreitbare Verdienste – durch dieses Programm haben Millionen von Brasilianern zum ersten Mal etwas von der Präsenz des Staates gespürt.“

Doch auch Bischof Valentini weist auf den Widerspruch, daß in einer großen Wirtschaftsnation wie Brasilien auch nach fünf Jahren Bolsa Familie krasses Elend fortexistiert.

“Ja, es gibt immer noch Hunger und Unterernährung. Daß den Menschen Nahrung fehlt, gehört weiter zur Alltagsnormalität in Brasilien. Bolsa Familia allein reicht eben nicht, wir brauchen eine ganz andere Sozialpolitik.  Denn die soziale Ungleichheit nimmt zu, ebenso die Einkommenskonzentration. Wenn wir in die Landregionen gehen, treffen wir sogar auf Landarbeiter, die wie Sklaven gehalten werden – und die Hunger leiden. Extreme Misere finden wir zudem an den Slumperipherien der brasilianischen Städte – und natürlich schlimmsten Hunger. In Brasiliens Städten steigt derzeit die Arbeitslosigkeit, was vor allem die Menschen in den Slums trifft. Und das heißt auch – die Leute dort haben noch weniger zu essen.“

„Wir leben in Zeiten, in denen der Kapitalismus die Liebe zwischen den Menschen vernichtet“

”Hier in Maranhao haben wir gigantische, hochmoderne Bergbaukonzerne, den größten Eisenerzexporteur der Welt mit dem gewaltigsten Erzhafen, dazu eines der international führenden Aluminiumwerke “ ebenfalls ein Multi”, erläutert José Belisario da Silva, Erzbischof in der Provinzhauptstadt Sao Luis. „Doch wir von der Kirche und auch die Sozialbewegungen fragen sich, welchen Nutzen die Bevölkerung von diesen Industrien hat. Fast keinen nämlich. Das Agrobusiness, das hier Soja auf riesigen Monokulturen fast nur für den Export produziert, ist ebenfalls ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Er bietet aber nur relativ wenigen Menschen Arbeit und nützt der Gesellschaft kaum. Die Gewinne werden nur an wenige verteilt.”Der Erzbischof wohnt in einem heruntergekommenen Altstadtviertel, in dem viele Arme hausen und blickt zudem auf einen deprimierenden Pfahlbauslum in der Bucht von Sao Luis. In Maranhao beginnt Amazonien und der Franziskaner schwärmt von der einst wundervollen, artenreichen Natur, den vielen exotischen Tropenvögeln. Doch all dies sei vom Agrobusiness auch noch mit staatlicher Förderung vernichtet worden. Jetzt, während der Brüderlichkeitskampagne, stellt Belisario dos Santos all diese Kontraste in seinen Predigten, doch auch in Vorträgen und vor der Landespresse heraus, fordert ein Wirtschaftsmodell, das auf Solidarität und Gerechtigkeit basiert. Der Teilstaat Maranhao erlebe puren Neoliberalismus.:”Die enorme wirtschaftliche Modernisierung hat das soziale Umfeld nicht verbessert, denn ein Großteil der Bewohner von Maranhao haust immer noch so wie am Beginn des vergangenen Jahrhunderts –  ohne Wasseranschluß und Kanalisation, unter grauenhaften hygienischen Bedingungen, die Epidemien verursachen. Der Teilstaat Maranhao wird zudem politisch von einer Oligarchie beherrscht, die sich mit Gewalt, Korruption und Stimmenkauf an der Macht hält. Die Kirche kämpft dagegen an, hat aber hier einen besonders schweren Stand. Die Konflikte des Bischofs mit dem Gouverneur sind hier traditionell sehr heftig.”Belisario da Silva leitete zuvor eine Diözese des Hinterlands, in der die Großgrundbesitzer des Agrobusiness ungezählte Kleinbauernfamilien sogar mit brutalster Gewalt von ihrem Acker vertrieben. Viele davon flüchteten notgedrungen an die Peripherie von Sao Luis, bauten illegal Hütten und Katen, wodurch riesige chaotische Slums entstanden. Dort grassieren Lepra, Tuberkulose und Aids, rutschen die Kinder schon früh in Kriminalität und Drogen ab. Unweit des hochmodernen Erzhafens und der Aluminiumfabrik hausen rund 100000 Menschen im Armenviertel Vila Embratel dicht an dicht. Dort ist der italienische Gemeindepriester Carlo Bianchi mit der Kehrseite des brasilianischen Wirtschaftsmodells konfrontiert. ”Niemand wohnt hier rechtmäßig, mit Besitzurkunde –  alles wurde provisorisch errichtet, auf völlig ungeeignetem Gelände. Aber wo sollten die Menschen sonst hin? Die brasilianische Regierung hat ein Städteministerium, um diese Zustände zu verbessern. Aber ich sehe keine Resultate.”Dominga Alves leitet hier die kirchliche Kinderpastoral. Mit einem Monatsetat von umgerechnet acht Euro kümmert sie sich um die Kleinsten in zumeist völlig zerrütteten, verelendeten Familien, in denen die Eltern Halb-oder Vollanalphabeten sind. ”Ich verteile Nahrungsspenden und versuche den Müttern zu erklären, wie man Kinder richtig betreut, wie man Krankheiten erkennt. Aber bei den heftigen Tropenregen tritt der Abwasserbach über die Ufer, wird der Schlamm in alle Katen, auch in meine eigene gespült, liegen tote Tiere herum. Da werden besonders die Kinder krank, kriegen sogar einen Wasserbauch. Manchmal möchte ich deshalb aufgeben –  aber wenn wir wieder einmal so ein Kind, das nur noch Haut und Knochen war, retten konnten, fühle ich mich von Gott belohnt –  und mache weiter.”Mehrere tausend Kilometer weiter südlich liegt Lateinamerikas reichste Industrie-und Bankenstadt Sao Paulo, die indessen über 2000 Slums zählt. In dieser  Megacity lebt der deutsche Franziskaner Johannes Gierse aus Paderborn, engagiert sich in der Brüderlichkeitskampagne. ”Wir haben hier in Brasilien eine Dauerkrise, es gibt Hunger, Elend auf den Straßen, die wachsende Zahl von Obdachlosen. Dann frage ich mich, warum Franziskaner in Deutschland um Geld bitten für soziale Projekte hier. Brasilien ist doch reich! Aber die Einkommensverteilung ist extrem ungerecht.”

 Häftlingsrevolten, Überfüllung, Aids – der Alltag des österreichischen Gefangenenseelsorgers Günther Zgubic in Brasilien „Viele Haftanstalten des Tropenlandes sind  Konzentrationslagern vergleichbar“, sagt Pfarrer Günther Zgubic, „mit Folter und Gewalt wird ein völlig überholtes Strafsystem unter Kontrolle gehalten.“ Mehr als fünf Jahre ist er bereits fast täglich Zeuge der Zustände, wirkt vor allem in der Gefängnispastoral des Teilstaates São Paulo, der Brasiliens Kontraste und sozialen Widersprüche am krassesten offenbart. Weniger als ein Viertel der rund 170 Millionen Brasilianer lebt in der einstigen Kaffeeprovinz, heute Wirtschaftslokomotive ganz Lateinamerikas, mit über eintausend deutschen Unternehmen, von VW bis Daimler-Benz, den Villendistrikten  der Geldelite  – doch immerhin  fast die Hälfte der weit über 200000 brasilianischen Strafgefangenen ist hier konzentriert. Die größte Anstalt Südamerikas, Carandirù, berüchtigt wegen zahlloser Revolten und des größten Häftlingsmassakers der brasilianischen Geschichte, kennt Padre Zgubic gut wie kaum ein anderer, betreute, beriet zahllose Insassen. Was er vor Ort sieht und erfährt, ist Hauptthema seiner täglichen Unterredungen mit Staatssekretären, Richtern und Staatsanwälten, Gefängnisdirektoren, Politikern in Brasilia. Seine Dossiers landen auf dem Tisch der UN-Menschenrechtskonferenz in Genf, trugen mit dazu bei, daß es die letzten Jahre einige zaghafte Fortschritte gab. „Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso, Chef der Mitte-Rechts-Regierung, möchte natürlich nicht international als Folterpräsident dastehen, sondern als Humanist“. Immerhin ist Cardoso auch Ehrendoktor der Freien Universität Berlin – „doch sein Anti-Folter-Gesetz wurde nur durch den Druck der kritischen Öffentlichkeit und der Menschenrechtsbewegung erzwungen, zu der die Gefängnispastoral gehört.“ Zgubic weist auf den gerade veröffentlichen  Amnesty-Bericht über Folter in Brasilien. Tatverdächtige, Festgenommene, Untersuchungshäftlinge und Strafgefangene systematisch Torturen zu unterwerfen, auch von völlig Unschuldigen Geständnisse unter Folter zu erpressen gehört danach weiterhin zur Alltagsroutine im Apparat der Militär-und Zivilpolizei. Diese hat in ihren Zellen einen Großteil der Gefangenen, weil Haftanstalten fehlen. „Im stark unterentwickelten Nordosten wurden in den letzten Jahren die Gefängnisse regelrecht remilitarisiert, indem man pensionierte Offiziere der Militärpolizei zu Direktoren ernannte, die selbst bei kleineren Gefangenenprotesten sofort brutale Sondereinheiten einsetzen.“ Der Padre analysiert, daß zuviele Richter noch „faschistisch oder repressiv“ denken, absurd drakonische Strafen verhängen. „Ein Mann stahl ein paar Kuchenstücke und Milch, alles keine zwanzig Mark wert – bekam deshalb fünf Jahre Gefängnis!“ Zgubic lassen solche Fälle emotional und heftig reagieren:“Wer für mich da ins Gefängnis gehört, ist der Richter – er zerstörte einem Menschen das Leben, verursachte den öffentlichen Kassen enorme Kosten.“ Im Staate São Paulo sind es monatlich pro Gefangenen umgerechnet etwa 700 Mark, in der Hauptstadt Brasilia sogar über eintausend.

 Sekten in den Slums – haarsträubend unchristliche Gepflogenheiten

Roberto Ramos, Tempel-Küster der Wunderheilersekte „Assembleia de Deus“, lobt vor der tiefreligiös wirkenden Großfamilie Carneiro den Herrgott über alle Maßen. „Er hat mir jetzt sogar die staatliche Hungerhilfe besorgt – ist das nicht wunderbar?“ Alle am großen Eßtisch nicken zustimmend. Gott als Unterstützer unchristlichster Tricksereien? Denn eigentlich wäre heftiger Protest angebracht. Küster Ramos wohnt mit seiner Frau kostenfrei auf Tempelgelände und bekommt von der Sekte einen auskömmlichen Arbeitslohn, hat daher laut Gesetz gar keinen Anspruch auf die Hungerhilfe. Allein in der Straße des Tempels hausen  viele in absoluter Misere, hätten die staatliche Hilfe bitter nötig, aber kriegen sie nicht. Auch an der Slumperipherie von Fortaleza funktioniert also die von den Sekten gepredigte „Theologie der Prosperität“, die Idee vom Reichwerden durch Gott, geradezu blendend. „Wer ein üppig-reiches Leben führt“, verkündet Sektenchef Edir Macedo auch in Fortaleza im Fernsehen, „genießt die Segnungen des Herrn.“ Daß Sektenpastoren im Luxus leben, wird akzeptiert und bewundert, nur von wenigen Slumbewohnern verurteilt. Jede Sektengemeinde, so wird mir erläutert, will auf keinen Fall einen Pastor, der aussieht und lebt wie die Leute im Viertel.  „Das Volk will einen prosperierenden Pastor, damit man aller Welt sagen kann: Seht, unser Geistlicher wurde wegen seines tiefen Glaubens bereits von Gott reich beschenkt!“ Wenn der eigene Pastor sogar einen superteuren Importwagen fahre, sei das umso besser fürs Image der Slumgemeinde. Die Carneiros haben es bis zu ihrem Tempel der „Assembleia de Deus“, Gottesversammlung, nur ein paar Schritte, nehmen wie alle anderen stets die Bibel mit. Direkt über das Eingangsportal hat ein zur Sekte zählender Privatarzt frech seine große, bunte Praxis-Werbung geklebt, was aber  niemanden zu stören scheint. Die Sekte stellt sogar Brasiliens Umweltministerin Marina Silva und ist auch in Fortaleza für ihre ekstatischen Wunderheilungen bekannt. Selbst Krebskranke würden schlagartig genesen, Querschnittsgelähmte aus ihren Rollstühlen aufstehen. Kein Zweifel, die allermeisten glauben das. Nicht ungewöhnlich, wenn ein Assembleia-Priester mit Gläubigen zum Friedhof zieht, eine bereits verwesende Leiche ausgraben läßt und durch eindringliche Gruppengebete versucht, den Toten zum Leben wiederzuerwecken. Mit Menschen extrem niedrigen Bildungsgrades scheint beinahe alles möglich. In den Predigten der Sektenpastoren kommt Politisches, gar soziale Probleme, nicht vor.  „Für mich sind das alles scheinheilige Kirchen mit einem Gutteil Gerissenheit“, meint die Gläubige Amelia Nunes, die mir ihr Austrittsmotiv schildert:“Eine hungernde Familie hatte in tiefster Not und Verzweiflung einen reichen Assembleia-Pastor Fortalezas um Hilfe angefleht – doch der hat mit ihnen nur gebetet und sie dann weggeschickt, ihnen weder etwas zu essen noch ein Almosen gegeben. Da war es bei mir aus mit der Gottesversammlung.“ Zuvor habe sie bereits genervt, mit welchem Psychodruck die Pastoren selbst aus den allerärmsten Gemeindemitgliedern den Zehnten herauspreßten. „Wer nicht zahlte, wurde wie ein Aussätziger behandelt, von den anderen Gläubigen im Viertel geschnitten, von den Kulten ausgeschlossen. Sowas ist doch absurd, ein Verbrechen!“  Die katholische Kirche, meint die Dreißigjährige, habe es in den Slums schon wegen des Priestermangels enorm schwer. Die Sekten nähmen dagegen jeden zum Pastor, der geschäftstüchtig sei und gut reden könne. „Die Katholiken wollen von den Slumbewohnern, daß sie aufbegehren, sich sozial engagieren, ihre Lage nicht hinnehmen –  die Sekten predigen genau das Gegenteil, Passivität und Anpassung, was schön bequem ist.“ Im Nachbarslum feiert eine Sekte im Hof des Tempels ihr Gemeindefest, als in heißer Tropenluft bereits nach kurzer Zeit der Nachschub an Erfrischungsgetränken und Essen stockt. Unter den Augen des Sektenpastors hatte ein Teil der Gläubigen schlichtweg die Küche geplündert, war mit den gestohlenden Flaschen und Nahrungsmitteln durch den Altarraum auf die nachtdunkle Straße entschwunden. Das Fest war daher bald zuende, der Vorfall fortan tabu. „Die Leute vergessen Solidarität, denken nur an materielle Vorteile – es fehlt Evangelisierung“, hatte Kardinal Lorscheider in Fortaleza beklagt.

Wie das organisierte Verbrechen die Slumbewohner terrorisiert

Herrliches Tropenwetter – ich greife morgens zur Kamera, will einen Rundgang durchs Viertel machen. „Auf keinen Fall, du bleibst drin“, befiehlt mir die ganze Großfamilie, „heute ist es viel zu gefährlich, die werden dich abknallen – hier weiß doch längst jeder, daß wir einen Deutschen beherbergen, der sicher Kohle hat!“ Bewaffnete Banditenkommandos, höre ich, patrouillieren durch die gesamte Slumperipherie Fortalezas, überfallen Geschäfte und Fracht-LKW, greifen sogar in der City an, rauben gleich serienweise Boutiquen und Kaufhäuser aus. Zudem häufen sich Schießereien zwischen rivalisierenden Verbrecherorganisationen – um die Vorherrschaft in möglichst vielen Ghettos und im Drogenhandel. Ich weiß inzwischen, die Leute hier übertreiben nicht. „Direkt vor unserer Tür wurde erst kürzlich jemand umgebracht, bei einer Schießerei zwischen zwei Banden“, sagt Almir, 52, „im Drogenrausch werden hier viele Überfälle und Morde verübt!“ Fast jede Nacht, und selbst Heiligabend, sind Schüsse zu hören, berichten tags darauf  Passanten, Nachbarn von Morden und Leichen. Letzte Weihnachten wurden über einhundert Menschen umgebracht.  Eine bizarre Situation, den ganzen Tag hinter den Gitterstäben der Backsteinkate hocken zu müssen und das Leben auf der Straße zu beobachten. Die meisten Slum-Läden sind selbst tagsüber, während der Öffnungszeiten, mit Stahlgittern verriegelt. Doch oberflächlich betrachtet, scheint alles normal, ist auf den ersten Blick nichts Auffälliges zu bemerken. Wer zu einem Banditenkommando gehört, stets bewaffnet ist, bereits mehrere Morde verübte, als besonders gewalttätig gilt, weiß man erst nach einiger Zeit. Obwohl im Slum das „Lei do Silencio“ gilt, das Gesetz des Schweigens: Besser zu keinem ein Wort über die sichtbaren, unsichtbaren Strukturen des organisierten Verbrechens – weil sonst Racheakte drohen. Als die Großfamilie an meinem ersten Abend Türen und Fenster verrammelt, daß mir wegen der schlechten Luft rasch schlecht wird, halte ich alle für verrückt und übertrieben furchtsam. Am Ende meines Aufenthalts habe ich die gleiche panische Angst vor Greueltaten, Gewaltexzessen marodierender Kommandos wie meine Gastgeber. Auch sie haben – wie die allermeisten Familien der Ghettos – bereits Angehörige durch Mord verloren. Doch ein Mann der Großfamilie sitzt auch bereits zwölf Jahre im Knast –  hatte in der Kneipe jemanden erschossen, der das Schnapsglas provozierend in seine Richtung warf. Morde haben sehr oft entsetzlich banale Motive – und alle kennen hier Mörder, die nie bestraft wurden. „Manche bringen jemanden, oder gleich mehrere um, verschwinden für ein paar Jahre, kommen dann zurück, haben nichts mehr zu befürchten“, erläutert mir eine Frau.  „Jetzt haben sie ihn liquidiert“, kommentiert unser Nachbar den jähen Tod eines Mannes, der täglich vorbeikam, den lokalen Banditenkommando unsympathisch war.  „Das ist eine biblische Plage – all dies wird bereits in der Heiligen Schrift beschrieben“, sagt mir Ricardo Mendes, Sektenpastor. „Hinter dieser Gewalt steckt der Satan – den müssen wir mit dem Evangelium bekämpfen.“ Als ein Vieh-LKW umkippt, stürzen sich die Leute mit Hackmessern auf die Rinder, trennen ihnen die heraushängenden Gliedmaßen ab, es wird ein entsetzliches Blutbad mitten auf der Straße. Fast rund um die Uhr ist aus allen Richtungen laute Musik zu hören, die gerade alte Menschen oft sichtlich streßt. Als in der Nebenstraße jemand partout nach Mitternacht den Hardrock nicht abstellen will, schießt ein genervter Nachbar zunächst in die Boxen und hält dem Lärmer dann den Revolver an den Kopf. Die hohe, irrational anmutende Gewaltbereitschaft schockiert. Sozialwissenschaftler nennen in Fortalezas Zeitung „Diario de Nordeste“ die Slumbevölkerung von der Gewalt „traumatisiert“ – die ganze Stadt sei „gewalttätig, verrückt, anarchisch, desorganisiert, fiebrig und leidet unter Bandenattacken“. Wie in Rio de Janeiro organsieren die Kommandos täglich moderne Wegelagerei, mobile Straßensperren. Ehe die Polizei viel zu spät eintrifft, werden in wenigen Minuten Dutzende von Autos geraubt, die Fahrer ausgeplündert. Kein Wunder, daß abends und nachts die meisten Straßen und Gassen der extrem dichtbesiedelten Slumperipherie wie ausgestorben sind, eine Art von informeller Ausgangssperre gilt. Apathie, Mißtrauen und Entsolidarisierung sind überall zu spüren. Warum liefert man ausgerechnet die Bevölkerungsmehrheit, die Armen und Verelendeten den gut organisierten Verbrechern aus, steckt dahinter Methode? „Die Slums sind heute voller psychisch gestörter Menschen, dort herrschen soziales Chaos und Verwahrlosung in einer brutalen Diktatur“, betont die Anthropologin Alba Zaluar, eine der führenden Gewalt-Forscherinnen Brasiliens. Josè Murilo de Carvalho, Mitglied der brasilianischen Dichterakademie und Lehrstuhlinhaber für Geschichte an der Bundesuniversität von Rio de Janeiro, sieht dadurch Protestpotential niedergehalten:“Die Existenz des organisierten Verbrechens in den Slums blockiert die Politisierung der Bewohner, hält sie ruhig, verhindert eine Rebellion, Protestaktionen jeder Art. Die Gangsterkommandos dienen damit der Aufrechterhaltung von politischer Stabilität im Lande – und das ist nicht wenigen Autoritäten sehr recht.“ Durch die „Tyrannei des organisierten Verbrechens“, so Carvalhos Kollege Luiz Eduardo Soares, „wird überall in den brasilianischen Städten eine Selbstorganisation der Armen und Verelendeten blockiert.“

  Leben im Ghetto – Porträt einer brasilianischen Großfamilie

Armut, Analphabetismus, Zerrüttung

Die nordostbrasilianische Küstenstadt Fortaleza hat etwa soviele Einwohner wie Berlin – doch jeder Dritte haust in den entsetzlichen Slums der Peripherie, weit entfernt von den Touristenstränden. Die Großfamilie Carneiro hat sich dort Stück für Stück eine kleine, provisorisch wirkende Backsteinkate gebaut, die an denen der Nachbarn klebt. Die Kate ist fehlkonstruiert, schwer zu belüften und wird deshalb schon vormittags zum Backofen. Die Vorderfront besteht komplett aus Stahlgitter, immer fest verschlossen, um Attacken von Straßenräubern abhalten zu können. Beißender Gestank von Schweinekot hängt natürlich auch bei den Mahlzeiten in der Luft, weil Anwohner Wand an Wand zu den Carneiros mehrere Borstentiere aufziehen. Hinzu kommen die Gerüche von den Abwässern, den Fäkalien der Familie, die gleich hinter der winzigen Küche in den kleinen Hof aus festgestampfter Erde geleitet werden, dort eine große Schlammlache bilden. Ideale Bedingungen für  Kakerlaken, Mücken-und Fliegenschwärme, Spinnen, sogar Frösche und große Kröten. Angesichts solcher hygienischen Verhältnisse wird einem sofort klar, wieso an Slumperipherien wie in Fortaleza immer wieder Epidemien von Cholera, Malaria und Tropenfieber ausbrechen, TBC und Lepra häufig sind. Vater Anysio Carneiro, inzwischen 72, ist Analphabet, das Problem ist ihm nicht bewußt, Gespräche darüber sind unmöglich. Derzeit wird nicht nur Rio de Janeiro, sondern auch Fortaleza erneut von einer Denguefieberepidemie heimgesucht, die bereits üb er  hundert Tote gefordert hat.

Mit seiner Frau Lisa, 69, die von Indianern abstammt, hat Anysio acht Kinder gezeugt, die längst erwachsen sind und mit ihrer Nachkommenschaft, ausgenommen Sohn Edmir, in Katen ganz in der Nähe wohnen. Acht Kinder – gar nicht so viel. „Mein Vater hatte 15 bis 20 Kinder, mein Großvater sogar 30“, rechnet Luis Pereira vor, der ebenfalls an der Peripherie lebt. „So fünf bis sieben von den Kindern hatten sie außerhalb der Ehe, immer mit einer anderen Frau.“

Anysio und Lisa bekommen eine staatliche Rente von zusammen umgerechnet rund 330 Euro, von der sie notgedrungen an den Rest der meist arbeitslosen Großfamilie reichlich abgeben. Sohn Edmir beispielsweise repariert hinter den Stahlgittern schwarz und recht glücklos Fahrräder, verdient damit pro Monat höchstens umgerechnet sechs Euro. Dickköpfiger Macho wie sein Vater, läßt sich Edmir jedoch auch von seiner eigenen Frau Maria nicht dazu bewegen, nach besseren Gelegenheitsjobs Ausschau zu halten. Maria ist mager und wirkt gehetzt, weil sie jeden Morgen schon nach fünf die Kate verläßt, um nach mehrstündiger Busfahrt an die 12 Stunden, auch sonnabends, die Hausdienerin in der Mittelschichtsfamilie eines besseren Viertels zu spielen. Für umgerechnet 160 Euro im Monat – grauenhaft wenig für ihre fünfköpfige Familie. Im Grunde sind es sechs, denn Tochter Celia, 15,  wurde mit elf Jahren schwanger und brachte ihr Söhnchen – Vater inexistent –  zwar in einem kirchlichen Kindergarten unter, ist indessen nicht bereit, wieder in die Schule zu gehen oder sich eine Arbeit zu suchen. Celia hängt fast den ganzen Tag, bis sie das Söhnchen aus dem Kindergarten holt, schlichtweg nur herum, döst, schlägt die Zeit mit Fernsehen tot. Wie Studien zeigen, lebt ein beträchtlicher Teil der brasilianischen Slumjugend so lethargisch-apathisch wie Celia. Nur gelegentlich ist sie verschwunden. Die ganze Großfamilie weiß, daß Celia im schicken Strandviertel mit Ausländern schläft – erklärt dies aber zum Tabu. Celias elfjährige Schwester Cristina wirkt sehr aufgeweckt, droht jedoch in der vierten Klasse sitzenzubleiben. Jeden Tag müßte sie deshalb zu Nachholstunden in ihre öffentliche Schule, geht aber oft nicht hin, schaut lieber Fernsehen. Ihren minimal gebildeten Eltern ist das egal, Vater Edmir, der Fahrradmechaniker, läßt Cristina gewähren. Für alle Fächer hat sie ein einziges Heft – all ihre Hausaufgaben sind voller Fehler. „Die Lehrer kontrollieren nicht, die schauen nicht hin, berichtigen nichts. In der Schule schlagen uns Jungen, dort wird man auch beklaut.“ Cristina hat den Kopf voller Läuse, andere Mädchen und Jungen der Großfamilie ebenfalls. Neurobiologen haben festgestellt, daß in Misere oder Armut lebende Kinder erhebliche, irreparable Lern-und Konzentrationsschwächen aufweisen – Cristina ist offenbar ein typischer Fall.   Nach außen hin verbreiten die Carneiros brasilianische Fröhlichkeit, scheinen auffällig gelassen mit ihrer Armut, den familiären Problemen umgehen zu können. Doch in Wahrheit ist die Großfamilie tief zerrüttet, sozial verwahrlost, unter Spannung. Auch wegen der vielen Tabuthemen gibt es kaum echten Dialog, echte Gespräche zwischen Älteren und Jüngeren. Als Vater Anysio mitbekommt, daß seine Tochter Isa mit einem Mann flirtet, läßt er beide von Militärpolizisten aus einem Hotel holen, zum Standesamt zerren, erzwingt dort die Eheschließung. Isa ist todunglücklich, will den Mann überhaupt nicht als Lebenspartner, wird von ihm aber sogar mit dem Lederriemen geschlagen, dann geschwängert, in der Stillzeit des Töchterchens Marina weiter verprügelt. Er hat schon eine offizielle Familie mit mehreren Kindern, verschweigt dies auf dem Standesamt. Isa flüchtet schließlich nach Rio, läßt Marina zurück –   sie wird von Anysios Frau Lisa großgezogen. Marina wirkt heute bitter, haust mit Sohn und Tochter allen Ernstes in einer Sieben-Quadratmeter-Kate an einer Schnellstraße – in zwei Metern Abstand brettern LKW vorbei. „Hier im Slum ist sich jeder selbst der Nächste, hier hilft niemand dem anderen. Das Bretterklo dort draußen teilen wir uns mit zehn anderen Familien. Strom und Wasser sind abgezapft, geklaut, so machen es hier viele. Vom Staat bekomme ich für meinen Sohn eine Hilfe von 80 Real – davon leben wir drei den ganzen Monat. , das ist unser einziges Einkommen.“

 80 Real – das sind umgerechnet etwa dreißig Euro – und das bedeutet für Marina, Sohn und Tochter, beide von verschiedenen Vätern, ein Leben in Misere. Der Aufenthaltsort der Väter ist unbekannt, der letzte Partner Marinas hat sich aus der Kate gerade davongemacht, ohne Abschied. Ivonete, ebenfalls aus der Großfamilie Carneiro, haust in einer winzigen Lehmhütte, hat fünf Kinder von fünf verschiedenen Männern, die stets nach kurzer Zeit verschwanden. Rentnerin Lisa steckt Marina und Ivonete manchmal ein paar Real zu – aber sie hat ja selbst nicht viel. Lisa erträgt ohne Murren, daß Anysio ihr nur selten erlaubt, alleine aus der Kate zu gehen. Wenn er ißt, setzt sich Lisa nicht etwa mit an den Tisch, sondern bleibt stehen, um ihn zu bedienen. Erst wenn Anysio die Mahlzeit beendet, ißt sie auch. Ihre Tochter Geni mit den indianischen Gesichtszügen kritisiert den machistischen Vater heftig, der sie früher oft verprügelte. „Die ganze Region um Fortaleza ist von Indiokultur geprägt, doch abgesehen vom Gewalt- Machismus, ist davon das meiste leider verloren gegangen – darunter die Geheimnisse der Naturmedizin. In meiner eigenen Familie wurden viele Geheimnisse und Techniken einfach nicht weitergegeben, erklärt – ich mußte alles durch Zuschauen und Beobachten lernen. Meine Eltern haben keinerlei Bildung – Kinder, die viel fragten, bekamen Schläge. Ja, es fehlt das Gespräch in den Familien. Die Mädchen lernten Sexualität durch Alltagsbeobachtung oder eigene Praxis kennen – was eben zum Desaster, zu den vielen Frühschwangerschaften führt.“ Widersprüchlich, daß auch in dieser Familie die Jungen viel mehr dürfen als die Mädchen, Rundumbedienung genießen, früh Macho-Allüren kultivieren, richtige kleine Tyrannen und Parasiten sind. Marcio wird auch mit sieben Jahren noch von der Mutter getragen, in den Bus gehoben, wenn er dies fordert – und braucht sich nicht einmal die Schuhe selber zuzubinden.

Die Großfamilie greift nie zu einer Zeitung, schaut im Mini-Fernseher nie eine Nachrichtensendung – das Thema Politik, ob lokal, regional oder national, existiert schlichtweg nicht. Alle zwei Jahre sind Pflichtwahlen – dann werden die Kandidaten der Sektenkirche „Assembleia de Deus“ angekreuzt, zu der die Großfamilie Carneiro gehört. Auf einem Jahreskalender und einem Poster in der Küche sind Sektenpolitiker abgebildet, der bevorzugte TV-Kanal gehört der Sekte. An deren absolutes Alkoholverbot hält man sich in der Kate, während in der Nachbarschaft immer wieder volltrunkene Männer zu hören, zu beobachten sind. Einfachster Zuckerrohrschnaps ist in Brasilien billiger als Milch – in vielen Küchen sehe ich Zehn-Liter-Schnapsfäßchen zum ständigen Abzapfen. Kritik an den Lebensverhältnissen höre ich bei den Carneiros nicht. Seit der Kolonialzeit haben wir eine Kultur der permanenten Anpassung an die Verhältnisse, gibt es gerade in den Slums viel Fatalismus und Passivität“, sagt mir der katholische Menschenrechtsaktivist Francisco Whitaker, Träger des Alternativen Nobelpreise, Mitgründer des Weltsozialforums. „Nur zu oft halten gerade die Armen Veränderungen für unmöglich, unterwerfen sich freiwillig, statt aufzubegehren.“ Als der deutschstämmige Kardinal Aloisio Lorscheider in Fortaleza Erzbischof ist, berichtet er mir von der enormen Herausforderung der Kirche, dagegen anzukämpfen. „Die Herrschenden, das sind zynisch und skrupellos agierende Clans, wollen weder Macht noch Privilegien abtreten. Deshalb wird das Volk bewußt dumm gehalten, werden Bildungsprojekte verhindert. Denn Ungebildete, Analphabeten wissen nicht, wie sie sich in der heutigen Zeit bewegen sollen. Sie kennen ihre Rechte nicht und fordern sie auch nicht ein. Sie lassen sich fatalistisch treiben, sie verbinden sich nicht mit anderen, sie organisieren sich nicht.“

Märtyrerin im Amazonasurwald

US-Missionarin Dorothy Stang von Pistoleiros feige ermordet – fast täglich töten sie kirchliche Menschenrechtler

Todesliste mit über 160 Namen – doch Europas Regierungen schauen tatenlos zu

Urwaldpfarrer Josè Amaro ist erschöpft, nervös – er könnte der nächste sein. „Ständig patrouillieren hier schwerbewaffnete Killer, sagten ganz offen, sie hätten schon die Kugeln für Dorothy und mich bereit, unsere Tage seien gezählt. Wir dachten nie, daß die Pistoleiros so rasch handeln.“ Die Missionarin kennt die zwei auf sie angesetzten Männer, redet mit ihnen, sucht sie von dem Verbrechen abzubringen, vergeblich. Am Tatmorgen Anfang Februar stoppen beide die 73-Jährige auf einem Urwaldweg –  sie hat die Bibel dabei, zitiert daraus. Doch die Pistoleiros denken nur an das Kopfgeld, feuern aus einem Revolver und einer Pistole sechsmal auf Dorothy. „Furchtbar – fünfzehn Jahre tagtäglich Seite an Seite in dieser Urwaldsiedlung Anapu mit jemandem arbeiten, kämpfen, für die Armen, die Rechtlosen, und auf einmal ist dieser Mensch tot. Ich weiß nicht, was mit mir geschehen wird.“

 Padre Amaro führt ein Projekt zur nachhaltigen, schonenden Waldnutzung weiter, das die Missionarin begann. Es war Großgrundbesitzern, illegalen Holzfirmen ein Dorn im Auge, deshalb sollte die Initiatorin sterben. „Die Lage ist hier gravierend, viele Familien, viele Kinder hungern.“ Das Absurde – der Urwald wird vernichtet, um noch mehr Soja für den Export nach Europa anbauen, noch mehr Fleisch von Weiderindern auch nach Deutschland, Österreich verkaufen zu können. Brasilien ist bereits der weltgrößte Fleischexporteur, obwohl der Hunger im Lande längst nicht beseitigt ist.  „Es schmerzt, das zu sehen – das Weidegras, die Rinderherden sind den Mächtigen hier wichtiger als Menschenleben.“ Padre Amaro appelliert an die Christen, alle Menschen der Erde, auf Amazonien zu schauen. „Wir verteidigen nicht nur unser eigenes Leben, sondern auch die Ökosysteme, die Natur, die Regenwälder, so wichtig fürs Weltklima – es darf doch nicht alles zerstört werden.“ Deutschland ist zwar Hauptfinanzier des 1991/92 gestarteten Pilotprojekts der G-7-Staaten zum Schutz der brasilianischen Urwälder – doch letztes Jahr wurden mindestens 23000 Quadratkilometer vernichtet. Die Urwaldzerstörung, so die Bischofskonferenz und auch Greenpeace, wird mit brutaler Gewalt und sogar Sklaverei vorangetrieben. Doch die Regierung in Berlin, alle G-7-Staaten schweigen dazu – für die kirchlichen Menschenrechtler Amazoniens unbegreiflich. „Wir dachten, die Killer wagen es nicht, eine so bekannte Frau, noch dazu aus den USA, umzubringen“, sagt in der Anapu-Region die katholische Gewerkschaftsführerin Maria Joel Souza. Sie ist Witwe, hat jetzt noch mehr Angst um ihr Leben:“Mein Mann war auch Gewerkschaftspräsident – sie haben ihn bedroht, erschossen; seinen Nachfolger ebenfalls. Jetzt habe ich den Posten übernommen, und mich wollen sie auch umbringen. Ich will hier überleben – das ist mein Appell!“ Der politische Mord an Missionarin Dorothy geschah in der Prälatur des aus Österreich stammenden Bischofs Erwin Kräutler – viele andere kirchliche Menschenrechtler hat er ebenfalls zu Grabe getragen, seit Jahren immer wieder auch international die neofeudalen Zustände in Lateinamerikas größter Demokratie angeprangert. „Dorothy ist eine Märtyrerin – sie widersetzte sich den Zerstörern Amazoniens und deren grenzenloser Geldgier!“

Über 160 Bischöfe, Pfarrer, Gewerkschafter, Anwälte und Indianerführer stehen auf einer Todesliste, erhielten Morddrohungen wie Dorothy Stang. Brasiliens Richterin Danielle Bührnheim forderte vor vier Monaten von den Autoritäten, darunter dem Regierungs-Staatssekretär für Menschenrechte, dringend den Schutz der Missionarin. Doch keiner reagierte. Wird Urwaldpfarrer Josè Amaro überleben?

  Terrorwelle in Brasilien – sadistische Verbrechersyndikate demonstrieren Macht im Präsidentschaftswahlkampf

Hunderte Opfer, brennende Busse, Bevölkerung in Angst/Kirche prangert inkompetente Regierung an

Nach der selbstverschuldeten Pleite bei der Fußball-WM lassen sich Brasiliens Top-Spieler vorerst lieber nicht zuhause blicken, um dem Volkszorn zu entgehen. Doch mehrere zehntausend frustrierte Fans, die extra nach „Alemanha“ gereist waren, mußten zurück, wußten, was sie erwartet. „Das Beste an Deutschland war die paradiesische Sicherheit“, sagt Esdra Macedo, 38,  aus Sao Paulo, der drittgrößten Stadt der Welt mit über tausend deutschen Firmen. „Jetzt sind wir wieder Freiwild für Gangster und Killerkommandos.“ Schon auf der Fahrt vom Airport zur Wohnung sieht sie Busse, Krankenwagen und Banken in Flammen, dazu Leichen am Straßenrand. Jugendliche Banditen mit schnellen Motorrädern feuern aus handlichen israelischen Uzi-Mpis auf Polizisten, lauern auch deren Frauen und Kindern auf, um sie zu liquidieren. Oder preschen an überfüllte Nahverkehrsomnibusse heran, werfen Molotowcocktails durch die Fenster, zünden Menschen an. In Rio de Janeiro schrecken Gangstertrupps nicht einmal davor zurück, direkt vor einer Schule aus MGs auf eine Polizeistreife zu schießen: Panik auf dem Pausenhof, hunderte Kinder werfen sich auf die Erde, siebzehn werden verwundet.

–„Wir sind Terroristen, sind Taliban“—

Auf den überall offen verkauften Gangsta-Rap-CDs hatte Brasiliens größtes Verbrechersyndikat „Erstes Kommando der Hauptstadt“/PCC seit Jahren angekündigt: „Wir sind Terroristen, sind Taliban – unser Feind ist der Staat, dessen Polizisten mähen wir nieder, quälen sie zu Tode, verbrennen sie lebendig.“ Jetzt ist es soweit. Mitten im Präsidentschaftswahlkampf demonstriert der PCC wie nie zuvor seine Macht, erzwingt mit den Terroranschlägen auch Hafterleichterungen für einsitzende Banditen. Seit Mai wurden über 250 Aufstände in Brasiliens total überfüllten Haftanstalten gezählt, die als „Schulen des Verbrechens und der Verrohung“ gelten.

  Laut Marina Maggessi, Chefinspektorin von Rios Zivilpolizei, killen die Banditen allein am Zuckerhut jährlich rund 1500 Beamte. Sie ist wütend, daß sich sogar weltbekannte Fußballprofis mit berüchtigten Gangsterbossen anfreundeten:“Das sind Tyrannen – sie verbrennen Menschen am lebendigen Leib, zerstückeln Mißliebige – wenn sich Sportstars mit solchen Verbrechern mischen, ist dies wirklich das Ende!“

 Für die Kirche im größten katholischen Land haben die Regierenden völlig versagt. Sao Paulos Bischof Pedro Luis Strighini: „Das Verbrechen ist heute eine organisierte Kraft in einer desorganisierten Gesellschaft, bedroht die demokratischen Institutionen. Der Staat zeigt sich hilflos und inkompetent. Größte Herausforderung auch für die Kirche ist, die Bevölkerung zu öffentlichen Protesten gegen die Gewalt und ihre Ursachen zu mobilisieren, Druck auf die verantwortlichen Politiker auszuüben.“ Solange in der immerhin dreizehnten Wirtschaftsnation, so Strighini, die tiefverwurzelte Korruption und die perversen Sozialkontraste zwischen Arm und Reich nicht abgeschafft würden, gewinne das Verbrechen weiter an Macht.

In Sao Paulos Kathedrale pflichtet ihm Oberrabbiner Henry Sobel während eines ökumenischen Protestgottesdienstes bei:“Der Brasilianer ist heute Geisel des organisierten Verbrechens.“

–Jugendliche als Beute der Banditenkommandos—

Auch Brasiliens katholische Jugendseelsorge schlägt Alarm: Denn alleine an Sao Paulos Slumperipherie, Hochburg und Parallelstaat der Banditenkommandos, lungern mehrere Millionen junger Menschen zwischen 14 und 25 Jahren lediglich herum, gehen nicht zur Schule, machen keine Lehre, sind auf dem Arbeitsmarkt völlig chancenlos. Und daher das gefundene Fressen fürs organisierte Verbrechen, lassen sich leicht für Straftaten jeder Art rekrutieren. Nicht zufällig setzt der PCC bei der jetzigen Anschlagswelle vor allem Jugendliche ein, von denen viele bei regelrechten Kamikaze-Attacken auf Polizeistationen erschossen werden. „Der Staat garantiert den jungen Menschen weder Bildung, Gesundheit, Zugang zum Arbeitsmarkt noch eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung“, beklagt die Jugendseelsorge. „So werden sie leichte Beute der Verbrechersyndikate, ist ein Großteil schon tot, bevor er das Erwachsenenalter erreicht.“ Nicht zufällig herrscht in den Elendsvierteln ein starker Frauenüberschuß, „teilen“ sich immer mehr Brasilianerinnen regelrecht einen Mann, entstehen polygamieähnliche Strukturen. —Apathie und Desillusionierung—

Staatschef Lula hatte beim Amtsantritt versprochen, die Verbrechersyndikate auszurotten. Stattdessen senkte er die Sicherheitsausgaben drastisch.

Auch deshalb reagieren die meisten Brasilianer jetzt weitgehend apathisch, fatalistisch und desillusioniert auf die neueste Terrorserie, von der auch die große deutsche Gemeinde Sao Paulos, über zweihunderttausend Deutschstämmige und fünfzigtausend Paßdeutsche, direkt betroffen ist. Dr. Wolfgang Bader, Direktor des Goethe-Instituts:“In Europa gäbe es einen Aufschrei der Zivilbevölkerung, Proteste der Nichtregierungsorganisationen – was ich auch hier erwartet hätte. Enttäuschend, daß dies nicht passiert.“

Immerhin werden in Brasilien jährlich mehr als fünfzigtausend Menschen getötet, selbst laut UNO-Angaben mehr als im Irakkrieg.

–Privilegiertenghettos hinter hohen Mauern—

Derzeit werden die allermeisten Morde und Terroranschläge an Sao Paulos Peripherie mit ihren über zweitausend Slums verübt, die Viertel der Mittel-und Oberschicht sind deutlich weniger betroffen. Dort schotten sich die Betuchten in  geschlossenen luxuriösen Wohnanlagen, den Condominios fechados, hinter hohen Mauern und Stacheldraht, mit hochbewaffneter brutaler Privatpolizei, immer perfekter gegen Misere und Gewalt ab. Wegen der jüngsten Attentate boomen die Condominios wie verrückt, über tausend gibt es bereits landesweit. „Zwischen den Slums wirken diese Privilegiertenghettos wie Festungen“, sagt Eva Turin, die zum Soziologenteam der Bischofskonferenz gehört. „Hier sieht man, wie der Staat mit seiner Stadtpolitik die soziale Ausgrenzung der Armen sowie die gesellschaftlichen Spannungen verschärft.“

 Chico Whitaker

Alternativer Nobelpreis für katholischen Rebell aus Brasilien

Auf seinem Konzertflügel im Arbeitszimmer stapeln sich Bücher, Aktenberge, Zeitungen – vom Balkon blickt der praktizierende Katholik auf das häßliche Betonmeer der Megacity Sao Paulo, drittgrößte Stadt der Welt. „Früher habe ich gerne Chopin und Liszt gespielt, Bilder gemalt, war viel in der Natur – heute komme ich kaum noch dazu, die Arbeit frißt mich auf!“ Der sympathisch, bescheiden wirkende 75-Jährige zählt seit jeher zu Brasiliens „Subversiven“ und wird dafür jetzt auch noch hoch geehrt. „Der Premio Nobel Alternativo stärkt uns katholischen Menschenrechtlern Brasiliens den Rücken, gibt mir viel Kraft zum Weitermachen!“ Whitaker lehnte sich gegen die Militärdiktatur auf, mußte deshalb mit seiner Frau und den vier Kindern für fünfzehn Jahre ins Exil. 1985 treten die Generäle ab, doch auch die Regierungen der nachfolgenden „Fassaden-Demokratie“, wie Whitaker sie nennt, haben an ihm keine Freude. Bis heute prangert er Folter, Sklavenarbeit, die rasch wachsenden Slums, die politische Macht des organisierten Verbrechens an. Und hat mit einem engen Mitstreiter die Idee zum Weltsozialforum. 2001 findet es erstmals in der Katholischen Universität des südbrasilianischen Porto Alegre statt. „Ich kann schlecht Nein sagen, wenn man mich ständig bittet, Texte zu schreiben oder irgendwo auf der Erde Vorträge zu halten. Denn da öffnen sich Türen, um Ideen zirkulieren zu lassen, von denen so viele noch nichts wissen! Es gibt jene, die die Welt besser, sozialer, humaner gestalten wollen – und jene, die noch nicht wissen, daß sie es  können. Da müssen wir mit konkreten Aktionen ein Beispiel geben – damit die Leute begreifen,  es ist möglich!“ In der Bewegung der Globalisierungskritiker, so meint er, haben viele immer noch Illusionen. „Alles Volk auf die Straße, um auf revolutionärem Wege die Dinge zu ändern, ein vorgefertigtes Gesellschaftsmodell einzupflanzen – das klappt nicht mehr. Man muß Stück für Stück jene Strukturen verändern, durch die Menschen isoliert und individualistisch leben müssen. Ein anderes Produktionssystem, andere Konsumgewohnheiten sind nötig – oder unsere Erde geht zugrunde.“Von den Parteien hat Whitaker die Nase voll – war selber Mitglied der Arbeiterpartei von Staatschef Lula, sogar Abgeordneter. Bis er Anfang des Jahres wegen der zahlreichen Regierungsskandale um Stimmen-und Parteienkauf austrat. Ihn freut, daß man selbst in Deutschland den Parteien und eigensüchtigen Politikern immer weniger vertraut, die Zivilgesellschaft aufbegehrt: „Sie muß das Monopol der Parteien auf politische Aktion brechen – das Weltsozialforum dient dafür als wichtige Erfahrung. Hier in Sao Paulo kursiert folgende Idee – bei den nächsten Gemeindewahlen kandidieren nicht mehr Personen, sondern Programme zur Stadtverbesserung!“ Sao Paulo stinkt nach krebserregenden Autoabgasen. Sogar ein Netz von Fahrradwegen, das gerade den Armen der 2000 Slums am meisten nützte, wird von der Präfektur verhindert.

Letzten Oktober wurde der populistische Staatschef Lula wiedergewählt. Auch in Deutschland loben viele sein Anti-Hunger-Programm. „Das sind Almosen, die dazu dienen sollen, das Volk unterwürfig und abhängig zu halten“, kontert der unbequeme Whitaker. „Damit nicht alles bleibt, wie es ist, dürfen wir Lula jetzt nicht mehr ruhig schlafen lassen, muß die Zivilgesellschaft Druck machen.“ In der zehntgrößten Wirtschaftsnation, die Exportweltmeister bei Soja, Fleisch, Zucker und Biosprit ist, kämpft laut Whitaker die Mehrheit der 185 Millionen Brasilianer ums Überleben. „Andererseits soviel Luxus hier für die Reichen – das ist doch eine Tragödie!“ Anders als stets behauptet, habe unter Lula die gesellschaftliche Ungleichheit spürbar zugenommen. Typisch Whitaker: „Ich plane deshalb jetzt im Nationalrat der christlichen Kirchen Brasiliens eine Kampagne für konkrete Schritte gegen die Sozialkontraste mit.“ Zuvor führt er Proteste der Bischofskonferenz gegen den Stimmenkauf bei Wahlen, formuliert sogar ein Verbotsgesetz: „Der Nationalkongreß hat es angenommen, über vierhundert Politiker wurden bereits gefeuert!“ Lulas Amtsvorgänger ließ wichtige Staatsbetriebe wie das Bergbauunternehmen „Vale do Rio Doce“ privatisieren – heute ist es der zweitgrößte Minenkonzern der Erde. Die Kirche kritisiert den Verkauf nach wie vor. “Ich denke, Vale do Rio Doce sollte wieder ein Staatsunternehmen werden, die Gewinne könnten dann sozialen Zwecken dienen.“

Nächsten Mai kommt der Papst ins größte katholische Land – doch der unruhige katholische Rebell sieht Brasiliens Kirche derzeit nicht in ihrer besten Phase. „Sie ist mir manchmal viel zu langsam, eher im Rückzug. Doch immer wieder gibt es unter uns auf einmal Propheten, die Mut machen und mit neuem Schwung die anderen mitreißen.“  

http://www.hart-brasilientexte.de/2011/09/20/brasilien-daten-statistiken-bewertungen-rankings/

http://www.welt-sichten.org/artikel/221/der-hoelle-hinter-gittern

 

Der mutige Priester von Paraisopolis(2009)

Morddrohungen, Banditenkommandos, Polizeiwillkür

„Mein größter Wunsch ist, daß all die deutschen Christen, die für unseren Kirchenbau spendeten, uns hier besuchen und die schier unbeschreiblichen, bizarren Probleme kennenlernen“, sagt der junge schwarze Slumpfarrer Luciano Borges Basilio mitten in einer der ungewöhnlichsten Regionen ganz Brasiliens.Paraisopolis heißt Paradies-Stadt – doch paradiesisch ist hier garnichts. Lateinamerikas reichste Megacity Sao Paulo zählt über 2000 Slums – doch der von Padre Basilio zeigt die schmerzhaftesten Kontraste. Denn Paraisopolis grenzt direkt an ein Viertel der Wohlhabenden – nicht wenige davon blicken von ihren luxuriösen Penthouse-Appartements direkt auf das unüberschaubare Gassenlabyrinth, wo auf engstem Raum in Holz-und Backsteinkaten sage und schreibe 100000 Menschen in Moder, Abwässer-und Müllgestank hausen. Und das scheint einem Polizei-Thriller entlehnt: Zwar regiert Sao Paulos Gouverneur José Serra von seinem nahen Palast aus die führende lateinamerikanische Wirtschaftsregion mit ihren mehr als 1000 deutschen Firmen – doch in Paraisopolis herrscht unangefochten Brasiliens mächtigstes Gangstersyndikat PCC(Primeiro Comando da Capital – Erstes Kommando der Hauptstadt). „Das organisierte Verbrechen ist besser organisiert als die Polizei – oft sogar viel besser – während die Polizei desorganisiert ist“, analysiert Priester Basilio im Website-Interview. „Das Verbrechen, der massive Handel mit harten Drogen sind ein ernstes Problem in Paraisopolis – doch wie überall in Brasilien schützt der Staat die Slumbewohner nicht, läßt sie in der Hand der Banditen.“ Für den Padre ist an Scheinheiligkeit nicht zu überbieten, daß just der wichtigste Banditen-Geschäftszweig, nämlich der Drogenhandel, nur dank der reichen Großkunden von nebenan funktioniert. „Nachts kommen sie sogar in den Slum oder lassen sich das Rauschgift von hier bringen.“ Das symbolisiert die widersprüchliche Situation – in Rio de Janeiro ist es nicht anders. Anstatt dort – oder in Paraisopolis – jener kleinen Minderheit der Gangster das Handwerk zu legen und das hochlukrative Drogengeschäft zu stoppen, verletzt die Polizei bei Razzien permanent Grundrechte der völllig unschuldigen Bewohnermehrheit. „Dazu können wir als Kirche nicht schweigen, Polizeiwillkür darf man nicht hinnehmen. Padre Basilio nennt jüngste Fälle: Bei der Verfolgung von Gangstern, die in das Gassengewirr und Menschengewimmel des Slums flüchten, feuern die Beamten gewöhnlich blind drauflos. Ein Baby von 9 Monaten bekommt eine Kugel in den Arm, eine Sechzehnjährige in die Brüste. „Es wäre doch besser, die Banditen nicht zu kriegen, aber das Leben der Slumbewohner zu garantieren, anstatt wild herumzuballern!“Der Priester macht es sich nicht so einfach wie manche politisch korrekten Menschenrechtsaktivisten, die nur Polizeiübergriffe anprangern, den Terror der hochbewaffneten Banditen aber verschweigen. „Ein Polizeioffizier erhielt 2009 hier in Paraisopolis einen Bauchschuss – die Beamten haben ja auch Familie und sind natürlich unter Streß und Hochspannung, wenn sie in einen Slum hineinmüssen.“Täglich werden in Brasilien mehrere Polizeibeamte ermordet. „Aber Willkür rechtfertigt das nicht.“ Die Kirche hält für verheerend, wenn wegen solcher diskriminierenden Vorgehensweisen die Kinder mit höllischer Angst vor der Polizei aufwachsen und sich auch als Erwachsene beinahe instinktiv vor ihr fürchten. Für Padre Basilio sind die Slumbewohner ohnehin bereits in einer grauenhaften Lage, werden erniedrigt und gedemütigt von den Bessergestellten: „Es gibt viel Elend und Hunger in Paraisopolis – trotz aller aufopferungsvollen Arbeit von Caritas. Die Arbeitslosigkeit ist hoch – und jene 15 Prozent, die weder lesen noch schreiben können, finden schwerlich einen Job. Slumbewohner kriegen meist nur Gelegenheitsarbeit. Für diese Menschen gebe ich mein Leben – denn mit Ermordung muß ich rechnen.“Der Priester erhält seit Jahren immer wieder Morddrohungen, sogar per Internet, läßt sich aber nicht einschüchtern. „Aus dem Slum kommen die Drohungen mit Sicherheit nicht – die Leute hoffen hier stark auf die Kirche.“ Basilio weiß, daß in ganz Brasilien, und auch in Sao Paulo, immer wieder Geistliche ermordet werden. Inzwischen hat er Amnesty International, die weltweit angesehenste Menschenrechtsorganisation, auf seiner Seite. Der Brite Tim Cahill,  Brasilienexperte von Amnesty, hat sich jetzt vor Ort über die Zustände informiert, mit zahlreichen Augenzeugen gesprochen. Daß die Polizei weiterhin nicht auf Folterungen verzichtet, hält Cahill für schwerwiegend. “Die brasilianische Regierung hat zwar die Anti-Folter-Konvention unterzeichnet, doch wie wir hier in Paraisopolis sehen, fehlt jeglicher politischer Wille, Folterer zu bestrafen“, sagt er im Website-Interview. „Die Polizei ist landesweit zunehmend in kriminelle Aktivitäten verwickelt, bildet Todesschwadronen und paramilitärische Milizen. Ein beträchtlicher Teil der Brasilianer, vor allem jene in den Slums, wird wie Wegwerf-Bevölkerung behandelt.“Ein schwarzer Bürgerrechtler schildert Tim Cahill die Folterpraktiken in Paraisopolis: „Die Beamten haben zwei Lichtdrähte aus der Wand gerissen und meinem Freund in seiner eigenen Kate damit immer wieder Elektroschocks versetzt. Dann haben sie ihn auf den Kopf geschlagen, zu Boden getreten. Schließlich haben sie ihn in Ruhe gelassen, sind weggegangen – man kann nichts dagegen machen. Folter mit Elektroschocks zu sehen, sind wir hier im Slum schon richtig gewöhnt. “Eine junge Frau beschreibt andere Formen von Polizeiwillkür: “Beamte pressen den Leuten Geld ab, rauben aus den Katen sogar Fernseher. Ja – die Polizisten behandeln uns wie Tiere. Hier verteidigt uns nur der katholische Padre – der hat schon viele Festgenommene aus dem Gefängnis rausgeholt, der hilft uns.“Außergerichtliche Exekutionen seien weder in Paraisopolis noch in den anderen Slums von Sao Paulo oder Rio de Janeiro eine Seltenheit.Tim Cahill von Amnesty International erinnert daran, daß die Regierung von Staatspräsident Luis Inacio Lula da Silva zu Beginn der Amtszeit 2003 sowohl den Vereinten Nationen als auch den Menschenrechtsorganisationen versprochen hatte, die eigenen Gesetze und internationalen Abkommen strikt einzuhalten. Gegen Ende von Lulas zweiter Amtszeit vermißt Cahill indessen ebenso wie die Kirche echte Fortschritte: “Die Lula-Regierung war eine Enttäuschung. Es gab große Versprechen, Pläne und Projekte, sogar einen konstruktiven Diskurs – doch die Probleme sind tief verwurzelt geblieben. Es wird weiter gefoltert und exekutiert, die Lage in den Gefängnissen ist nach wie vor grauenhaft, und es gibt sogar weiterhin Todesschwadronen und Sklavenarbeit. Echte Reformen werden durch wirtschaftliche und politische Interessen verhindert.“Gilmar Mendes, Präsident des Obersten Gerichts, sagte unlängst, Brasiliens Gefängnissystem ähnele nazistischen Konzentrationslagern. Und Paulo Vannuchi, Brasiliens Menschenrechtsminister, räumt ein, daß tagtäglich außergerichtliche Exekutionen  und Blutbäder von Polizisten sowie Todesschwadronen verübt würden. Für Tim Cahill ein unglaubliches Eingeständnis: “Dies zählt zu den absurden Dingen in Brasilien – Teile der Autoritäten erkennen diese Tatsachen an – aber tun so, als seien sie dafür nicht verantwortlich. Das große Problem Brasiliens ist heute, daß der offizielle Diskurs nichts mit der politischen Praxis zu tun hat. Wenn die Regierung in Brasilia weltweit mehr Anerkennung und Respekt will,  muß sie sich für die Menschenrechte der eigenen Bevölkerung einsetzen, besonders der Unterprivilegierten.“Für den schwarzen Priester Luciano Borges Basilio bedeuten solche Worte eine enorme Rückenstärkung. Von einem anderen Briten, seinem  Priesterkollegen Jaime Crowe aus dem riesigen Slumviertel Jardim Angela mit über 300000 Bewohnern, erhält er moralische Unterstützung beinahe alle Tage. „Man kämpft und kämpft, sieht nur zu oft kein Resultat, wird frustriert. Dann sagt mir Jaime Crowe, mach weiter, gibt nie auf! Crowe hat in fast vierzig Jahren aus dem grauenvollen Jardim Angela eine weitgehend friedliche Stadtregion gemacht – das versuchen wir hier auch.“ Noch 1996 hatte die UNO Priester Crowes Gemeindebereich zur gewaltgeprägtesten Region des ganzen Erdballs(!) erklärt, gab es täglich Morde. „Wir haben in Brasilien eine Kultur der Gewalt und der Korruption – das alles ist sehr tief verwurzelt“, sagt Crowe. „Doch wir dürfen unsere Träume nicht aufgeben.“

Gangster, Favelados, Bischöfe. Sozialreportagen aus Brasilien, Franziskanerverlag Mettingen

Unter dem Zuckerhut. Brasilianische Abgründe. Picus-Reportagen, Picus-Verlag Wien

Österreichs katholischer Priester Günther Zgubic – unter den besten Kennern Brasiliens. Textsammlung:http://www.hart-brasilientexte.de/2016/12/27/oesterreichs-katholischer-priester-guenther-zgubic-unter-den-besten-kennern-brasiliens/

Klaus Hart: Gangster, Favelados, Bischöfe. Sozialreportagen aus Brasilien. Brasilienkunde-Verlag Mettingen, 307 Seiten.

GangsterFaveladosBischöfe

 

Dieser Beitrag wurde am Dienstag, 05. November 2013 um 20:21 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Kultur, Naturschutz, Politik abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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