Catador – Sao Paulo, City, 2012.
2012.
Der soziale Aufstieg von Lula: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/05/04/lula-bekommt-500000-dollar-von-lg-fur-vortrag-in-sudkorea-laut-brasilianischen-landesmedien-uber-eine-million-dollar-damit-vier-monate-nach-ende-der-amtszeit-kassiert-laut-kalkulation-von-parte/
Fotoserie vom Adveniat-Gottesdienst: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/11/27/zdf-adveniat-gottesdienst-in-favela-cachoeirinha-von-sao-paulo-2011-brasiliens-kontraste-fotoserie/
Tags: Brasilien, Sao Paulo, Sklavennachfahrin
Wer die Bevölkerungsmehrheit Brasiliens beim “Konsumieren” beobachtet, beispielsweise im Supermarkt in deren Einkaufskörbe schaut, sieht die neuesten statistischen Angaben über Realeinkommen bestätigt. Denn mit diesen lassen sich angesichts des keineswegs niedrigen Preisniveaus schwerlich größere Sprünge machen. Mit einem Haushaltseinkommen von umgerechnet 500 Euro zählt man gemäß den allseits belachten Statistiktricks bereits zur Mittelschicht. Einfach mal im Selbstversuch testen, ob das geht…
Die Einkommenslage in Brasilien: http://www.hart-brasilientexte.de/2012/01/04/leben-wie-die-halfte-der-einkommensbezieher-brasiliensamtliche-angaben-fur-samtliche-ausgaben-pro-tag-umgerechnet-zwischen-26-und-5-euro-zur-verfugung/
Wo bitte gehts hier zum Konsum, in die “Ära der Prosperität”?
Ab 65 Euro Monatsverdienst offiziell nicht mehr arm in Brasilien – testen Sies mal im Selbstversuch! http://www.hart-brasilientexte.de/2010/06/28/brasiliens-kuriose-armutsgrenze-wer-umgerechnet-etwa-65-euro-verdient-gilt-nicht-mehr-als-arm/
Aktivisten der katholischen Basisgemeinde von Cachoeirinha. “Das ist gegen die Menschenwürde, so viele Leute in diesem Schlamm, diesem Moder hausen zu lassen. So viele Familien, mit vielen Kindern, leben hier nur in einem einzigen Hüttenraum, vor der Türöffnung hängt ein Lappen – so ist das. Die Mafia der Drogengangster ist hier sehr stark, die beobachten alles und jeden hier, das ist furchtbar. Wer jemanden aus dem Drogenmilieu, aus der Sucht rausholen will – also jemanden, der für deren Profit sorgt, da werden die böse, da wird man gnadenlos verfolgt. Die Polizei kommt und geht wieder – aber die Banditenkommandos bleiben, terrorisieren, zwingen den Bewohnern das Gesetz des Schweigens auf. Wer sich nicht unterwirft, weiß, was ihn erwartet. 2014 ist die Fußball-WM, da will man Brasilien als Land der Ersten Welt erscheinen lassen – aber hier an der Peripherie ist es nach wie vor triste. Die meist kinderreichen Familien haben monatlich nur so um die 200, 220 Real maximal(200 Real – umgerechnet etwa 83 Euro). Doch im Ausland wird verbreitet, alles toll, alles gut in Brasilien.
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/religionen/1624771/
Wir merken, es ist schwierig, Menschen von außerhalb für diese Situation zu sensibilisieren, die das hier nicht kennen, es sich nicht vorstellen können. Wir haben unsere christlichen Kriterien, und wir haben Ausdauer – das macht den Unterschied. Denn entweder ist man Christ – oder ist mans nicht, halbe-halbe geht nicht.”
Sklavenarbeit und Teilnahme am “Konsum”: http://www.hart-brasilientexte.de/2012/01/03/sklavenarbeit-in-brasilien-neuer-rekord-bei-zahl-moderner-sklavenhalter-laut-landesmedien/
Slums und Massenkonsum: “Die Wirtschaftskrise hat Brasilien kaum gespürt”(WAZ) Kloakegraben – nur einige Schritte vom Platz des Adveniat-Gottesdienstes entfernt.
Lateinamerikas teure Lebensmittel – Preissteigerungen um 40 Prozent in den letzten vier Jahren – Gefahr für Hungerbekämpfung: http://exame.abril.com.br/economia/mundo/noticias/precos-dos-alimentos-na-america-latina-sobem-40-em-4-anos–2
“Konsum” und Massenelend: Laut Befreiungstheologe Frei Betto, unter Lula ein Jahr lang Präsidentenberater für das des fragwürdige Anti-Hunger-Programm, leben immer noch über 30 Millionen Brasilianer in extremer Armut, betroffen von Hunger und Elend, obwohl es sich bei Brasilien um die siebtgrößte Wirtschaftsnation handelt. In deutschsprachigen Ländern wird indessen der Lula-Rousseff-Regierung häufig bescheinigt, Hunger und Elend sehr erfolgreich bekämpft zu haben.
Wie stehts es um die Konsumierfähigkeit in den über 2600 Slums der reichsten lateinamerikanischen Stadt – Sao Paulo? Vor Ort in Cachoeirinhas: Weihnachten im Slum 2011 – Christus in Brasilien
Kobras, Ratten, Gewalt und viel Überlebensmut
„Bei diesem Leben hier brauchen wir Hoffnung auf Gottes Beistand“, sagt die tiefreligiöse Cleide de Souza Nascimento in ihrer Elendskate – und wünscht sich nur eins:“Weihnachten darf es nicht schütten – sonst sind wir geliefert.“ Direkt vor der Bretterhütte schwillt bei starken Tropengewittern der barbarisch stinkende Kloakebach an – ebenso übelriechendes Abwasser dringt dann von hinten in die Kate herein und fließt wasserfallartig von der Eingangsluke, da, wo die Dreißigjährige steht, den Grabenhang hinunter, trifft sich mit der Kloake. „Abwasser läuft sogar aufs Bett – mein kleinster Sohn hat chronische Asthma, für den ist das hier besonders schlecht.“
Modrig-feucht ist es auch bei Sonne in der fensterlosen Kate – vier alte, zerschlissene Matratzen für die sechs Bewohner, ein Herd mit blauem Kochgasbehälter, das bißchen Kleidung baumelt an Wandhaken. „Weihnachten gibts keine Geschenke, nichts, dafür reicht das Geld nicht, ein bißchen Weihnachtsschmuck ist auch nicht drin. Heiligabend wärs für uns alle zu eng in der Kate – wir machens wie die Nachbarn, treffen uns oben auf der Gasse, da ist mehr Platz.“
Als noch unter Staatschef Lula die Regierung 2003 das Anti-Hunger-Programm startet, kämpft und streitet Cleide solange mit der Staatsbürokratie, bis sie die sogenannte „Bolsa Familia“ endlich für ihre vier Kinder kriegt – 198 Real monatlich, macht umgerechnet rund 21 Euro pro Kind. Der Liter pasteurisierte Frischmilch kostet in Sao Paulo umgerechnet einen Euro dreißig, auch andere Grundnahrungsmittel sind in Brasilien, dem Niedrigstlohnland, auffällig teurer als im Hochlohnland Deutschland.
Was geben Sie so vor Weihnachten aus?
Brasilien zählt längst nicht mehr zu den Billigpreisländern, merken selbst deutsche Touristen verärgert an der Copacabana.
Cleide macht Gelegenheitsarbeit, Tagelöhnerei, wäscht bei Mittelschichtsfamilien, putzt denen die Wohnung:“Mein Mann ist behindert, taub – der macht manchmal den Einweiser auf Parkplätzen.“ So werden es dann wenigstens 31 Euro pro Kopf, für jeden der sechs monatlich – der Fahrschein für den Bus raus aus der Favela kostet über einen Euro. 42 Prozent aller Empfänger von Bolsa Familia seien nach wie vor verelendet, melden die Landesmedien. Der Slum von Cleide zeigt es anschaulich.
Wird es in der Weihnachtszeit ein bißchen besser, gibts da spendenfreudige Leute? „Gottseidank kriegen wir von der Kirche stets Pakete mit Grundnahrungsmitteln – da sind Reis, Bohnen, Zucker, Speiseöl dabei – Kleidung wird auch verteilt!“
Brasilien ist die siebtgrößte Wirtschaftsnation, Sao Paulo die reichste Stadt ganz Lateinamerikas – läßt sich wenigstens mal ein Sozialarbeiter in dieser Favela Cachoeirinha blicken, aus der am ersten Advent vom ZDF der Adveniat-Gottesdienst übertragen wurde? Cleide verneint:“Hier kommt nie mal einer von der Präfektur, vom Staat vorbei – man muß unheimlich bei den Behörden hinterher sein, um Bolsa Familia zu kriegen. Wer von den vielen Halb-und Voll-Analphabeten hier das nicht weiß, geht leer aus. Sechs Monate haben sie mir die Bolsa Familia unter einem Vorwand gesperrt – das war für uns grauenhaft. So viele haben eigentlich ein Anrecht, kriegen aber keinen Centavo.“ Übertreibt sie da nicht ein bißchen?
Zahlreiche Katen kleben wie die von Cleide in dem Kloakegraben, die Eingänge wirken wie dunkle Löcher – auch wegen der Sicherheit, um nicht beklaut zu werden, gibts keine anderen Öffnungen, in die Tageslicht fallen könnte. Starken Hautausschlag, viel Grind und Bläschen am Mund bemerkt man bei vielen Slumbewohnern – Tuberkulose und sogar Lepra finden beste Ausbreitungsbedingungen. Hier holt man sich rasch Elendskrankheiten, sagen Slumpriester, weil das Immunsystem der Bewohner stark geschwächt ist.
Cleide haust seit 14 Jahren in dieser Hütte – nur einen Steinwurf entfernt hat Cleyton dos Santos, 22, für seine Frau Erica und die zwei kleinen Kinder eine Holzkate direkt an einen breiten Abwasserbach gebaut. „Die Kinder bitten uns, Lichter, ein bißchen Weihnachtsschmuck an die Wand zu hängen – aber das ist unmöglich, wir haben tagtäglich so viel Dringenderes im Kopf! Jetzt, im Hochsommer, regnets alle paar Tage heftig, tritt der Bach über die Ufer, trägt stinkenden Schlamm in die Gasse, waten wir notgedrungen drin herum. Hier gibt es massenweise Ratten, die Krankheiten übertragen, müssen wir besonders wegen der Kinder aufpassen.“ Cleyton, entsetzlich mager, ist arbeitslos – Erica kriegt als Reinemachfrau maximal 550 Real im Monat – das macht für alle vier umgerechnet höchstens 57 Euro pro Kopf – Weihnachtsgeschenke, Weihnachtsschmaus am Heiligabend? Fehlanzeige. „Wir setzen uns zu den Hüttennachbarn auf die Gasse – jeder gibt was für einen Teller mit Essen. Ich habe gehört, die Regierung erzählt draußen in der Welt, daß es den Brasilianern jetzt viel besser geht und allen geholfen wird. Das ist gelogen – man läßt uns hier im Slum total im Stich!“
Rosilene, 33, Cleytons Nachbarin, wird just um Weihnachten herum niederkommen – es ist das siebte Kind. „Weihnachten“, lacht sie bitter-ironisch, „Gott im Himmel, was soll ich da schon machen? Ich hocke in der Kate wie immer, hoffe auf die Hilfe der Nachbarn. Ich kriege ja vom Staat garnichts, nur ein bißchen Geld von den Vätern meiner Kinder. Wenns mal 200 Real im Monat werden, bin ich direkt zufrieden…“
200 Real – umgerechnet rund 12 Euro monatlich für jedes der sechs Kinder, für Rosilene – wie soll das gehen, bei den Preisen? „Mein ältester Sohn kann schon ein bißchen arbeiten, der organisiert uns immer mal was zu essen, sorgt für ein bißchen Reis und Milch, das Kochgas – meine Nachbarn sind zwar wunderbar, aber die haben ja selber nichts. Ich schlage mich irgendwie durch – ja – ich lebe noch!“
Pedro, der Gelegenheitsarbeiter, kam mit seiner Frau, den fünf Kindern zu spät – weil nirgendwo noch eine Hütte hingepaßt hätte, baut er sie mitten in den Abwässerbach – ausgerechnet am Eingang mündet ein Kloakegraben hinein, vergrößert den Gestank noch mehr. „Letzte Weihnachten haben wir die Kate eingeweiht – feiern jetzt einjähriges Überleben. Das Abwasser steigt bei Gewitterregen nicht zu uns hoch – aber Ratten, sogar weiße, und Kobras klettern nachts hinein – wir müssen unheimlich auf der Hut sein. Denn das Dumme ist – Hauskatzen helfen nicht, die hauen vor den Rattenhorden ab. Egal, wir haben uns dran gewöhnt. Ich beklage mich nicht – grade vor Weihnachten gibts für mich mehr Jobs, schaufle ich mal Erde weg, repariere, streiche, schleppe was. Aber Heiligabend sind wir alle in der Kate, feiern Christi Geburt. Die Leute im Slum beten sehr viel – bitten Gott um spirituelle Kraft, um Hilfe in dieser Misere. Der Mann da neben Dir – den kenne ich – das ist doch der Padre, der jetzt vor Weihnachten die Lebensmittelpakete und das Spielzeug verteilt!“
Pedro meint Slumpfarrer Bernardo Daly, einen Iren, der mit seiner Schar hochengagierter kirchlicher Menschenrechtsaktivisten trotz bescheidenster Mittel weit schlimmeres Elend und krassesten Hunger verhindert – und die Räumung des Slums, die Vertreibung der Favelados durch die Polizei. Todesschwadronen, Drogenbanditen-und Polizeigewalt, dazu immer wieder Hüttenbrände, bei denen Kleinkinder verkohlen – Daly muß als Seelsorger tagtäglich mit Situationen fertigwerden, Dinge verkraften, die das Vorstellungsvermögen der meisten Deutschen übersteigt.
Der Padre wirkt erstaunlich ruhig und besonnen – doch manchmal macht er seiner Empörung Luft. Wie an der Kate von Elise, die direkt am Kloakegraben haust. „Ich kriege 134 Real Bolsa Familia, weil die ältere meiner beiden Töchter geistig behindert ist, ständig meine Betreuung braucht – mehr Geld haben wir nicht im Monat.“ 134 Real – also umgerechnet rund 18 Euro für jede der drei. Padre Daly ist geschockt:“Das ist doch unmöglich. Wer so lebt, muß manchmal das eigentlich Unmögliche tun, weil es keinen anderen Ausweg gibt…“ Der Geistliche läßt offen, was er konkret meint – nicht nötig, deutlicher zu werden.
„Jetzt, vor Weihnachten, kämpfe ich dafür, daß mehr Nahrungsmittelspenden in den Slum gelangen – auch zu denen, die garnicht wissen können, wo es Ausgabestellen gibt, also Alte, Behinderte, Kranke“, sagt Eliane Takeko, 46, engste Mitstreiterin von Padre Daly, zudem Präsidentin der Bewohnerassoziation. “Ein bißchen mehr Spielzeug für die Kinder – das müßte doch drin sein, auch dafür streite ich mich mit der Präfektur herum. Die Lage im Slum macht mich traurig und wütend – Brasilien ist doch soooo reich – die Mittel sind da! Wir von der katholischen Kirche akzeptieren nicht diese grauenhafte Logik, daß es Arme, Verelendete nun mal gibt und immer geben wird. In den über 2600 Slums von São Paulo gibts viele sogenannte Kirchen, die nichts fürs Soziale tun. Wir legen uns mit denen `oben` an.“
Dieses Jahr ist der Slum noch voller, noch dichter bewohnt als letzte Weihnachten, meint Eliane Takeko. „Manche Slums werden von der Polizei geräumt und zerstört, vor der Fußball-WM werden Obdachlose aus der City vertrieben – die kommen notgedrungen zu uns an die Peripherie. Deswegen wird es immer enger in den Hütten.“ Aber warum gibt es dann keine Massenproteste der Slumbewohner? „Die Menschen haben Angst“, sagt Padre Daly. „Nicht wenige hatten sich engagiert, haben resigniert aufgegeben. Zudem ist das Bildungsniveau in Brasilien entsetzlich niedrig – Leute ohne Bildung, Analphabeten wissen garnicht, wie man das macht – sich organisieren, auf die Straße gehen, Bürgerrechte durchsetzen. Die kennen ihre Rechte já garnicht.“
Eliane Takeko stimmt zu: „Es liegt auch am Hunger – wer sich nur schlecht ernährt, in solchen Katen haust, kann nicht richtig denken, ist schnell kaputt, noch dazu bei Tropenhitze. Und wer zu oft den Mund aufmacht, fliegt raus, kriegt nicht mal eine Tagelöhnerarbeit. Auch ich muß aufpassen.“
Selbst in ihrer engen Kate gibts keinen Weihnachtsschmuck – denn auch sie schlägt sich mit Gelegenheitsarbeit durch, wie die Tochter. „Wir beide kommen auf höchstens 500 Real im Monat – das muß für alle sechs in der Kate reichen. Mein Mann ist behindert, hatte einen Unfall. Da heißt es, irrsinnig sparen.“ Maximal umgerechnet 200 Euro monatlich, für sechs Leute – wie macht sie das?
Körperlich und geistig Behinderte – auffällig, wie viele in den Slums hausen. Laut Studien sind es 23, 91 Prozent der brasilianischen Bevölkerung, gegenüber rund einem Prozent in hochentwickelten Staaten wie Deutschland. Immer wieder geschieht, daß geistig behinderte Mädchen und Frauen der Favelas vergewaltigt werden.
Über 30 Millionen Brasilianer leben laut Kirchenangaben noch in extremer Armut. Nimmt man jedoch die offizielle Regierungseinstufung, zählen Eliane Takeko und ihre Familie nicht mehr dazu, liegen oberhalb der amtlich allen Ernstes auf umgerechnet etwa 29 Euro angesetzten Pro-Kopf-Grenze, sind nur noch „arm“ – Rosilene mit den sechs Kindern und Elise aber liegen darunter…
Haben alle in gewisser Weise sogar „Glück“, Weihnachten im Slum einer reichen Wirtschaftsmetropole wie Sao Paulo zu feiern? Denn Brasiliens grauenhafteste Elendsviertel liegen nicht hier, sondern in den kraß unterentwickelten Regionen des Nordens und Nordostens.
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/religionen/1624771/
“Brasilien ist auf dem Weg zum modernen Industriestaat. Aktuelle wirtschaftliche Entwicklungen schüren die Erwartung, dass Brasilien bald zu den mächtigsten Staaten der Welt gehören wird.
Worin liegt diese Entwicklung begründet? An welchen Faktoren kann die Modernisierung der brasilianischen Wirtschaft festgemacht werden? Diesen und anderen Fragen widmet sich der vorliegende Band.” Amazon-Buchbeschreibung
“Brasilien boomt. Lange als Land der Zukunft beschworen, muss man mit Blick auf heutige Verhältnisse sagen: Die Zukunft ist jetzt! »Das ewige Versprechen« wirft einen lebhaften Blick auf die schillernde und faszinierende Vielfalt der brasilianischen Kultur, von den Anfängen bis in die Gegenwart.
Ob in Musik, Malerei, Mode oder Architektur – Brasilien war immer schon stilprägend.” Amazon-Buchbeschreibung
“Brasilien hat in den vergangenen Jahren einen beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt und weltpolitisch erheblich an Gewicht gewonnen.” Amazon-Buchbeschreibung
“Brasilien gilt als Schwellenland mit einer fragilen Demokratie. Korruption und soziale Missstände bestimmen nach wie vor den politischen Alltag. Trotz all dieser Faktoren ist Brasilien auf dem Weg zum modernen Industriestaat.” Amazon-Buchbeschreibung
Ausriß, die andere Sicht – Geo Special Brasilien. “Brasilien schwingt sich auf zu einer der wichtigsten Volkswirtschaften des Planeten…Rio…ist nun in den touristischen Vierteln so sicher wie eine europäische Großstadt…dieses überraschend moderne, hochsympathische und unendlich vielfältige Land…”
Brasilien – Daten, Statistiken:http://www.hart-brasilientexte.de/2011/09/20/brasilien-daten-statistiken-bewertungen-rankings/
“SOS Streitkräfte.”
Die brasilianische Privatwirtschaft hat sich gemäß landesüblichen Gepflogenheiten seit Jahrzehnten durch Bestechungsgelder Regierungsaufträge jeder Größenordnung verschafft – zudem wurden Politikern die Wahlkämpfe finanziert, um später entsprechende Gegenleistungen einzufordern. Brasilianische Industrielle haben zudem immer wieder kritisiert, daß in ihrem Land eine regelrechte wirtschafts-und entwicklungsfeindliche “Bankendiktatur” existiere. Ein Blick auf die derzeitige Berichterstattung europäischer Mainstreammedien(fast durchweg in privatwirtschaftlicher Hand) zeigt indessen, daß diese wichtigen Aspekte permanent ausgeklammert, verschwiegen werden. (Per Google-Suche hat man rasch heraus, in welchen Medien derartige Zensurvorschriften gelten).
Unbedarfte Medienkonsumenten müssen daher zwangsläufig den Eindruck gewinnen, die Regierung von Staatschefin Dilma Rousseff und ihre Arbeiterpartei PT seien einzig und allein an der aktuellen Regierungs-und Wirtschaftskrise schuld – als ob die Privatwirtschaft als wichtigster politischer Akteur – und Bestecher – nicht existiere. Nur sehr selten wird wenigstens in der privaten brasilianische Presse auf diese Zusammenhänge hingewiesen – indessen zählt nur ein sehr geringer Bruchteil der Brasilianer zu den Zeitungslesern. Die noch vor Jahren sehr interessanten und an Information sehr reichen brasilianischen Zeitungen sind indessen in einem Qualitätsabsturz ohnegleichen begriffen – ähnlich wie in Deutschland ist man inzwischen gezwungen, den Wahrheitsgehalt journalistischer Texte nachzurecherchieren, wenn man sich für ein Bild von den tatsächlichen Vorgängen, Ereignissen, Hintergründen interessiert. Immer mehr wichtige Fakten zum Verständnis brasilianischer Politik, Wirtschaft etc. werden von brasilianischen Medien nicht mehr, wie früher üblich, veröffentlicht.
In deutschsprachigen Medien entfällt derzeit gewöhnlich jeder Hinweis darauf, daß zur Speerspitze des Lagers der Regierungsgegner rechtsextremistische Anhänger bzw. Aktivisten der Militärdiktatur gehören, die zumeist bisher zur Regierungskoalition zählten, u.a. stark in den Parteien PMDB, PP vertreten sind. So wurde 2013 von der Öffentlichkeit mit großem Interesse wahrgenommen, daß einer der wichtigsten Drahtzieher des derzeitigen Amtsenthebungsverfahrens, Kongreßsenator Aecio Neves(PSDB), 2013 in einer Rede den Militärputsch von 1964 als “Revolution” bezeichnete – und somit die damalige Diktion der Foltergeneräle benutzte.
Ausriß.
Die Foltergeneräle betonten in der Begründung des Putsches immer wieder die “kubanische Gefahr”. Neves garantierte vor wenigen Jahren gemeinsam mit anderen Rechten, Rechtsextremisten in Brasilia einen großen Bahnhof im Nationalkongreß für die kubanische Regierungsgegnerin Yoani Sanchez – seit sich die Affinität von Sanchez zu Diktatur-und Folterbefürwortern herumsprach, hat sich das bislang gigantische Interesse auch deutscher Medien für sie auf kuriose Weise sehr rasch und sehr stark abgekühlt.
“Militärintervention jetzt!!!”
Die politischen Gruppierungen um Neves hat nicht zufällig besonders verärgert, daß unter der Lula-Dilma-Regierung die kommerziellen Beziehungen zu Kuba ausgeweitet, u.a. rund 14000 kubanische Ärzte nach Brasilien geholt wurden, um die katastrophale bzw. nichtexistiente medizinische Betreuung in den Armen-und Elendsvierteln zu verbessern. Denn dort weigern sich die fast durchweg der hellhäutigen Mittelschicht entstammenden brasilianische Ärzte, Dienst zu tun, Arztpraxen zu übernehmen. Zudem ist nicht zu übersehen, daß der Einsatz kubanischer Ärzte gewisse soziokulturelle Sprengkraft mit sich bringt. Denn zum ersten Mal erleben brasilianische Angehörige der Unterschicht, von Medizinern zivilisiert, professionell, menschlich, nichtrassistisch behandelt zu werden – die kubanischen Ärzte sind in Brasilien bei ihrer Klientel ausgesprochen populär, angesehen. Das rechtsgerichtete Neves-PSDB-Lager hatte mit großem Aufwand versucht, den Einsatz kubanischer Ärzte zu hintertreiben – nach einer Amtsenthebung von Dilma Rousseff ist damit zu rechnen, daß das entsprechende Abkommen mit Kuba gekündigt wird, die Ärzte zurückgeschickt werden. Indessen besorgen sich selbst US-Regierungen per gezielter Abwerbung seit Jahrzehnten bevorzugt kubanische Ärzte – die Einstufung der Qualität des US-Gesundheitswesens in internationalen Rankings spricht Bände…
Auf den derzeitigen Anti-Rousseff-Kundgebungen fällt das ausgesprochen primitive Denken vieler Regierungsgegner ins Auge, die u.a. auf Plakaten, Spruchbändern just ausgerechnet Lula und Rousseff als Kommunisten kubanischer Prägung einstufen. Kubas wichtigster Wirtschaftszweig ist der Export von Fachkräften in zahlreiche unterentwickelte kapitalistische Staaten sowie in Programme der UNO, darunter in Afrika. Daß die Lula-Rousseff-Regierung ihre Kontakte zu Kuba populistisch auch etwas ideologisch verbrämte, ist verständlich, entbehrt jedoch jeder Grundlage, wie u.a. ein Blick auf die Zusammenarbeit des erklärten Nicht-Linken Lula mit der Militärdiktatur, und danach mit berüchtigten Diktaturaktivisten zeigt. Gleiches gilt für Dilma Rousseff – die gravierenden Menschenrechtsverletzungen in Brasilien betreffen fast durchweg die Unterprivilegierten, Armen, Verelendeten.http://www.hart-brasilientexte.de/2012/04/12/brasilianische-menschenrechtsorganisationen-fordern-von-staatschefin-rousseff-definitive-erklarung-das-sie-folter-nicht-tolerieren-und-mit-allen-kraften-bekampfen-werde/
http://www.hart-brasilientexte.de/2008/02/15/wem-nutzen-banditendiktatur-und-immer-mehr-no-go-areas/
Ausriß, Reiche und Berühmte unter sich.
Der Einsatz von kubanischen Ärzten in Brasilien hat einen kuriosen Nebeneffekt in Kuba: Möglicherweise etwas blauäugige Teile der kubanischen Staatsführung hatten bisher den Kubanern weismachen wollen, Brasilien habe eine Linksregierung, verfolge politisch-ideologisch ähnliche Ziele wie Kuba. Als Kubareisender wurde man just bis zum Einsatz der kubanischen Ärzte von Kubanern mit derartigen Positionen konfrontiert – den brasilianischen Spielfilm “Tropa de Elite” hatten zwar die meisten gesehen, aber als unglaubwürdig eingestuft. Nun berichten die in Brasilien eingesetzten kubanischen Mediziner ihren Landsleuten kontinuierlich über die tatsächliche Situation im archaisch-neoliberalen Partnerstaat – und schon hat sich die Meinung in der kubanischen Bevölkerung über Brasilien spürbar verändert, trifft man in Kuba inzwischen sogar auf Angehörige keineswegs intellektueller Berufe, die wissen, daß die Rousseff-Regierung in Brasilia einen knallharten neoliberalen Kurs fährt.
Ausriß.
Jüdischer Weltsozialforum-Erfinder Oded Grajew beim Website-Interview in Sao Paulo.
Der brasilianischen Wirtschaftselite wirft Grajew vor, falsch zu handeln – gegen ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen, sogar die ganz persönlichen Interessen: Unternehmer finanzieren den Politikern zwar die Wahlkampagnen, fordern aber, was sich besonders verheerend auswirkt, kein besseres Bildungswesen ein.»Dieses Volk nicht zu bilden, ist ein regelrechtes politisches Projekt des reaktionären Teils der Elite, um die Leute besser manipulieren zu können«
»Waffenverkäufer wollen Regierungen, die Kriege machen – 95 Prozent des weltweiten Waffenhandels werden von Herstellerländern getragen, die dem UNO-Sicherheitsrat angehören!« Dass sich Politik und Politiker ökonomischer Macht unterwerfen, nennt er ein Krebsgeschwür, das zum Ende der Menschheit führen könne.
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/wissenschaft/1897202/
Der jüdische, in Israel geborene Unternehmer, Präsident des von progressiven Unternehmern getragenen Ethos-Instituts in Sao Paulo, sagte im Website-Interview weiter: “Das politische System ist verfault – man muß es ändern und nicht nur die Regierenden auswechseln, die stets in diesem System gefangen bleiben. Ich will echte, wahre Demokratie – doch frei von den ökonomischen Machthabern. Die Politik der ökonomischen Macht unterworfen – dies ist heute das Krebsgeschwür, das zum Ende der Menschheit führen kann. In Kopenhagen sah man das ganz genau – die Regierenden wollen sich nicht gegen jene stellen, die ihre Wahlkampagnen finanzieren. Die Öl-und Autoindustrie beispielsweise will nun einmal Regierungen, die das jetzige zerstörerische System der Mobilität und des Transports beibehalten. Die Waffenverkäufer wollen Regierungen, die Kriege führen. Daher muß die Macht der Wirtschaft über die Politik gebrochen werden. “
Jeder kennt heute meist sogar persönlich Leute, die nach dem Motto vorgehen: “Grün” öffentlich daherreden, umweltfeindlich denken und handeln – die Resultate sprechen Bände.
Brasilien – Daten, Statistiken, Rankings:http://www.hart-brasilientexte.de/2011/09/20/brasilien-daten-statistiken-bewertungen-rankings/
Brasilianische Soziologen wie Antonio Engelke(O Globo, 2.4. 2016) weisen auf den in der jetzigen politisch-wirtschaftlichen Krise gängigen Denkfehler, den “Markt”, also die Wirtschaft, wirtschaftliche Interessen, nicht als politischen Akteur wahrzunehmen. Das Problem der Korruption werde durchweg in der Sphäre der Politik gesehen. “Ziel der Empörung ist immer der korrupte Politiker, nie der korrumpierende Unternehmer.” Der Markt als Macht wirke auf die Politik ein – doch von der Öffentlichkeit werde das gewöhnlich nicht bemerkt.
“Die großen Unternehmen, ob Banken, Baufirmen oder Großgrundbesitzer, investierten massiv in Rousseffs Präsidentschaftswahlkampagne – über 100 Millionen Real – betrachteten dies als Investition, verlangen jetzt von Rousseff Gegenleistungen. Sie unterwirft sich diesen Interessen.” Waldemar Rossi, Leiter der Arbeiterseelsorge in der Erzdiözese Sao Paulo.
Zu den Manipulationstricks im deutschen Mainstream gehört, die extrem wichtige Rolle des politischen Akteurs Privatwirtschaft in der aktuellen Krise Brasiliens zu unterschlagen.
Politikwissenschaftler brasilianischer Bundesuniversitäten zählen zu den Gründen der jüngsten brasilianischen Regierungskrise und den Versuchen zur Amtsenthebung von Rousseff, daß ausländische Großunternehmen, darunter aus den USA, mehr Marktanteile und Einfluß in Brasilien erreichen wollen, restliche große Staatsbetriebe anpeilen. Gegenüber der Website wurde argumentiert, daß ein Teil des rechtsgerichteten Establishments auf den Sturz von Rousseff aus sei, um von neoliberaler Globalisiererung diktierte Reformen, wirtschaftliche Anpassungen rascher, brutaler durchsetzen zu können. Bei diesen wirtschaftlichen Anpassungen handele es sich um einen Angriff auf die nationale Souveränität. Unter der Rousseff-Regierung würden neoliberale Reformen zu langsam realisiert. Auffällig sei, daß bei den derzeitigen Lava-Jato-Ermittlungen erstmals ein seit Jahrzehnten funktionierendes Arrangement zwischen privaten brasilianischen Großunternehmen und dem brasilianischen Staat in Frage gestellt wird – somit erstmals große Baukonzerne, aber auch Banken am Pranger stehen. Deren Macht im Staate werde nunmehr angefochten, damit ausländische wirtschaftliche Großunternehmen noch besser zum Zuge kämen. Denkbar sei, daß Großkonzerne der Ersten Welt nunmehr auch Joint Ventures mit angeschlagenen brasilianischen Baukonzernen, Banken schlössen. Politikwissenschaftler stimmten 2016 der seit Jahren von Insidern der Arbeiterpartei PT geäußerten Argumentation zu, daß Lula einst von deutschen Automultis aufgebaut worden sei. Bei Lula handele es sich um ein Produkt der Automultis im ABC-Industriegürtel von Sao Paulo, in dem VW und Mercedes-Benz führend seien. Lula habe als Gewerkschaftsführer stets sehr eng mit der Gegenseite kooperiert.
“Brasilien ist auf dem Weg zum modernen Industriestaat. Aktuelle wirtschaftliche Entwicklungen schüren die Erwartung, dass Brasilien bald zu der mächtigsten Staaten der Welt gehören wird.
Worin liegt diese Entwicklung begründet? An welchen Faktoren kann die Modernisierung der brasilianischen Wirtschaft festgemacht werden? Diesen und anderen Fragen widmet sich der vorliegende Band.” Amazon-Buchbeschreibung
“Brasilien boomt. Lange als Land der Zukunft beschworen, muss man mit Blick auf heutige Verhältnisse sagen: Die Zukunft ist jetzt! »Das ewige Versprechen« wirft einen lebhaften Blick auf die schillernde und faszinierende Vielfalt der brasilianischen Kultur, von den Anfängen bis in die Gegenwart.
Ob in Musik, Malerei, Mode oder Architektur – Brasilien war immer schon stilprägend.” Amazon-Buchbeschreibung
“Brasilien hat in den vergangenen Jahren einen beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt und weltpolitisch erheblich an Gewicht gewonnen.” Amazon-Buchbeschreibung
“Brasilien gilt als Schwellenland mit einer fragilen Demokratie. Korruption und soziale Missstände bestimmen nach wie vor den politischen Alltag. Trotz all dieser Faktoren ist Brasilien auf dem Weg zum modernen Industriestaat.” Amazon-Buchbeschreibung
Müllsäcke an Sao Paulos “Avenida Paulista” der Großbanken und Shopping Center – oder ein verelendeter Mensch?
Brasilien – US-Hinterhof, strategischer Partner der Merkel-Gabriel-Regierung…
Nicht ungewöhnlich, wenn einem in Amazonasstädten wie Manaus nachts in der Hafenregion eine völlig nackte, verelendete Frau auf der Straße begegnet.
Gelegentlich ein paar Münzen ergattern durch Sammeln von Alubüchsen, Flaschen…
Weiterziehen im Tropengewitter.
H
Hintergrund von 2008:
Bei Brasilien denken die meisten Europäer immer zuerst an Rio de Janeiros kleine Schokoladenseite, den Zuckerhut, den Copacabanastrand, Samba und Karneval. Dabei ist das 430 Kilometer entfernte subtropische Sao Paulo zwar keineswegs schöner, aber viel interessanter und nicht nur Brasiliens, sondern ganz Lateinamerikas Kultur-und Gastronomiehauptstadt. Hier dirigierte John Neschling das beste Sinfonieorchester Lateinamerikas, hier leben die populärsten Musiker des Tropenlandes “ das Sertaneja-Duo Zeze di Camargo und Luciano. Hier werden jährlich an die tausend Theaterstücke inszeniert.
Nicht zufällig bildet das kosmopolitische Sao Paulo vor Rio den wichtigsten touristischen Anziehungspunkt des Tropenlandes. Viel mehr Deutsche steuern Sao Paulo an, nicht Rio. Die nach Tokio und Mexico-City drittgrößte Stadt der Welt ist zudem Lateinamerikas Industriemetropole, zählt an die tausend deutsche Unternehmen und erwirtschaftet ein höheres Bruttosozialprodukt als ganz Argentinien. Extreme Sozialkontrasten fallen indessen beinahe überall ins Auge – auch die über zweitausend Slums sind nicht zu übersehen. Sao Paulo zählte einmal zu den schönsten Städten des Erdballs – hemmungslose Geldgier, kollektive Unvernunft und provozierender Individualismus haben sie in eine der häßlichsten verwandelt. Sao Paulo ist heute auch Symbol lateinamerikanischen Sozialdarwinismus. Manche verdrängen lieber, schauen nicht hin – doch die Situation der marginalisierten Paulistanos, darunter der Obdachlosen, schockiert.
„Unser Land ist besudelt von Korruption, Gewalt und Lügen”, ruft Padre Julio Lancelotti vor der Kathedrale von Sao Paulo aus und ärgert damit manche Vorübergehenden. Übertreibt der Kirchenmann nicht unverschämt? Aus dem Präsidentenpalast in Brasilia kommen schließlich permanent positive Nachrichten über Wirtschaftswachstum, Rekordausfuhren und sozialen Fortschritt, was auch in Europa Beifall findet. Doch Lancelotti zählt zu Brasiliens führenden Menschenrechtsaktivisten, kordiniert in Sao Paulo das weltweit einzige Vikariat für Obdachlose und sieht die riesigen, entsetzlichen Slums an den Peripherien der Millionenstädte auch unter der Lula-Regierung immer rascher wachsen. Vor der Kathedrale prangert er mit Gleichgesinnten an, daß ein im August 2004 an Obdachlosen verübtes Massaker immer noch nicht aufgeklärt ist, tatverdächtige Militärpolizisten unbehelligt bleiben. Acht Männer und Frauen wurden damals mit Eisenstangen totgeschlagen, weiteren sechs wurde der Schädel zertrümmert – doch sie überlebten. „Das Blutbad gehört zur Schande Brasiliens”, so Lancelotti, „selbst Sklavenhalterkultur und Folter existieren weiter.” Der Padre erhält Morddrohungen, wurde mehrfach von Unbekannten attackiert, man setzte sogar einen bezahlten Killer auf ihn an. „Jetzt fürchten wir mehr denn je um sein Leben”, sagt die Deutsche Hedwig Knist, die seit acht Jahren in Sao Paulo die katholische Obdachlosengemeinde nahe dem Luz-Bahnhof leitet. Wegen der zunehmenden Arbeitslosigkeit verlieren immer mehr Familien ihre Bleibe, kampieren direkt an der Gemeindekirche, unter den vielen Hochstraßen Sao Paulos – Szenen wie in Haiti, Kalkutta oder Lagos. Den Bessergestellten sind die Verelendeten vor allem in der City ein Dorn im Auge. An Lateinamerikas Leitbörse, protzigen Bankenpalästen, Oper und Pinakothek, Shopping Centers und Nobelrestaurants ärgern sich High Society und Schickeria über die zerlumpten, verzweifelten, teils übelriechenden und psychisch gestörten Gestalten, wollen von denen nicht angebettelt werden. Die Stadtverwaltung will deshalb das Zentrum von ihnen säubern. „Die sollen alle weg, an die überfüllte Peripherie, werden teilweise rausgeprügelt”, so Hedwig Knist, „immer mehr Obdachlose und Straßenkinder werden mißhandelt.” Natürlich wenden sich die Erzdiözese und ihre Obdachlosenseelsorge gegen eine solche Vertreibungspolitik, pochen auf die Menschenrechte der „Moradores da Rua”(Straßenbewohner). „Deshalb werden wir von den Autoritäten gehaßt.” Die Gemeindereferentin aus der Diözese Mainz macht interessante Rechnungen auf: Allein in der City stehen vierzigtausend Wohnungen leer – mehr, als es Obdachlose in Sao Paulo gibt. Würde jede Firma der lateinamerikanischen Wirtschaftslokomotive einem einzigen Obdachlosen Arbeit geben, wäre das Problem aus der Welt. Was auch Hedwig Knist besonders provoziert: Sao Paulo ist Lateinamerikas reichste Stadt, Brasilien immerhin die zehnte Wirtschaftsnation – genügend Geld für Soziales ist de facto vorhanden. Spenden aus Deutschland wären gar nicht nötig. Doch im neoliberal regierten Brasilien wollen die Betuchten nicht abgeben, ist eine gerechtere Einkommensverteilung nicht in Sicht. Ohne Spenden kirchlicher deutscher Hilfswerke wie Adveniat wäre auch wirkungsvolle Obdachlosenbetreuung nicht möglich. „Hedwig hat mir Auswege gezeigt, mich in Momenten der Schwäche und Unsicherheit bestärkt, bis ich es geschafft habe”, sagt Eliana de Santana. „Mit meiner kleinen Tochter lebte ich im Dreck – doch dank Hedwig und ihren Gemeindeprojekten konnte ich öffentliche Gesundheitsbetreuerin werden, habe jetzt eine winzige Wohnung.” Sie kümmert sich in der City um kranke Obdachlose, erzwingt notfalls deren Behandlung in Kliniken. „Straßenbewohner werden diskriminiert – eine Frau hat man vor der Hospitalpforte sterben lassen!” Hedwig Knist umarmt vorm Gottesdienst die über dreißigjährige Berenice. ”Zehn Jahre hauste sie wie ein Tier zwischen Müll” – jetzt macht sie Abendschule, arbeitet in der Gemeindewerkstatt, lebt in einem Wohnprojekt.
Obdachlose in Deutschland – Obdachlose im riesigen Brasilien – überhaupt kein Vergleich. Jene wenigen, die in deutschen Fußgängerzonen, auf Straßen und Plätzen betteln, schlafen, herumhängen, sind gegenüber ihren brasilianischen Schicksalsgenossen geradezu in einer luxuriösen Situation. Niemand käme auf die Idee, an denen von Berlin, Frankfurt oder München Massaker zu verüben, sie lebendig zu verbrennen, gar beim Vorbeifahren aus dem Auto heraus zu erschießen. In Brasilien ist das alltäglich, Sandra Stalinski aus Aschaffenburg erlebt es als „Missionarin auf Zeit” mit. „Von den Opfern in Sao Paulo habe ich einige gut gekannt, alles hilflose Menschen, die Schwächsten der Schwachen, gezielt ausgesucht. Ich bin deshalb psychisch richtig zusammengebrochen, habe stundenlang geweint. Die Tatorte sind ja immerhin mein Arbeitsbereich. Das Massaker, denke ich, wurde aus politischen Gründen kurz vor Kommunalwahlen inszeniert, um es politisch auszuschlachten.” Denn Sandra Stalinski macht der ganze Medienrummel um den Fall stutzig, die gegenseitigen Anschuldigungen der Politiker. Soviel öffentliche Resonanz sei nicht normal, man hätte alles auch unter den Tisch kehren können.
–„Ich bin kein Mensch, ich bin Müll”
Wie üblich, wenn es „Sem-Teto”, Obdachlose, trifft, die häufig von der autoritären, egozentrischen Gesellschaft Brasiliens wie Nicht-Menschen betrachtet werden. „Man setzt sie mit Müll gleich. Und das Schlimme ist: Die Obdachlosen sagen selber schon, ich bin kein Mensch, ich bin Müll.” Um so nötiger ist soziale Betreuung, die „Missionaria” Stalinski nicht etwa weit entfernt an der Slumperipherie, sondern sogar mitten in der modernen City, neben dem pompösen Gebäude der lateinamerikanischen Leitbörse und den Großbanken, unweit feiner Manager-Restaurants, leistete. Oder selbst auf den Stufen der Kathedrale, oft gleich unter Gruppen tief verzweifelter, teils stark betrunkener Obdachloser. Unter all den Menschenmassen quält diese, einsam, ausgestoßen, ausgeschlossen zu sein – um so dankbarer für Hilfe, ein tröstendes Wort, ein Gespräch.
„Auf dem Platz davor sieht man alles – Überfälle, Streit und Tod.” Denn die skandalösen Sozialkontraste Brasiliens liegen noch so offen wie zur Sklavenzeit: Manager in feinem Tuch, aufgeputzte Chefsekretärinnen kreuzen in Sao Paulos Innenstadt tagsüber alle paar Schritte Obdachlose, Bettler, Verkrüppelte, gar alte, zerlumpte schwarze Frauen, die sich ächzend vor hochbeladene Lastkarren spannen. Das Massaker geschah just in der trubeligen City – nur zu viele der Privilegierten haben sich an den Anblick jener etwa 16000 Straßenbewohner Sao Paulos, „Moradores da Rua”, schlichtweg gewöhnt, nehmen sie kaum noch wahr, unglaubliche Indifferenz dominiert. In Deutschland gäbe es nach solchen Untaten einen öffentlichen Aufschrei – hier stößt Sandra Stalinkski sogar während eines kleinen Protestmarsches auf offene Abweisung – ihre Flugblätter werden von nicht wenigen Schlipsträger aus Banken, Geschäftshäusern abgelehnt:”Nee, kannste behalten, interessiert mich nicht. Da ist mir die Galle hochgekommen – soviel Ignoranz!” Obdachlosen, so sagen viele, „verschmutzen” das Stadtbild, verrichten ihre Notdurft überall – auch wegen ihnen stinkt es in den brasilianischen Großstädten vielerorts barbarisch nach Urin und Menschenkot.
Sandra Stalinski arbeitete vorwiegend in einem Nachtasyl für 120 Männer, wird zwangsläufig Expertin in hausgemachter brasilianischer Sozialproblematik, auch brasilianischer Religiosität. Denn überall stößt sie auf einen ihr völlig neuen Bezug zu Gott:”Die Brasilianer sind viel religiöser als wir Deutschen, leben den Glauben wesentlich emotionaler, feiern Gottesdienste viel gefühlvoller, mit Liedern und Gesten. Man tanzt dort sogar, was ich gleich gar nicht kannte. Auch die Obdachlosen sind religiös und sagen, daß es letztendlich in Gottes Hand liege, ob sie sich aus dieser Situation befreien können. Sie sind fatalistisch, passiv, finden sich mit ihrem Schicksal ab, meinen, daran nichts ändern zu können. Ihre Lage sei scheinbar Gottes Wille. Und so eine Haltung kritisiere, hinterfrage ich natürlich.” Doch kaum Resonanz, wie die Missionarin verkraften muß. „Mit denen darüber zu reden, ist ganz schwierig, da habe ich eigentlich keine Chance.” Sie beobachtet zudem, wie sogar direkt vor der Kathedrale tagtäglich zahlreiche Sektenprediger agieren, mit der Bibel in der Hand allen Ernstes wie wild herumspringen. Das einerseits so moderne Sao Paulo ist auch Zentrum archaischster Wunderheiler-und Exorzisten-Sekten, die man bestenfalls weit im Hinterland vermutet hätte. „Ich empfinde das schockierend, laufe in den Straßen an Hallen vorbei, wo gerade ein Sektenpriester schreit, über den Satan spricht. Manche Obdachlose erzählen von Sekten, haben einen sehr fundamentalistischen Glauben, nehmen die Bibel wortwörtlich. Bei ihnen hat jedes zweite Wort mit Gott zu tun. Auf der Straße, unter den Obdachlosen gibts alle möglichen Religionen, wahnsinnig viele Freikirchen. Wir sind daher in den Projekten von „Rede Rua” ökumenisch, nicht nach einer bestimmten Religion ausgerichtet, halten keinen rein katholischen Gottesdienst, aber Gebetsstunden ab, feiern natürlich religiöse Feste wie Ostern und Weihnachten. Ganz besonders wichtig für die Bewohner der Straße.”
Die ganze zwiespältige, komplexe, widersprüchliche Obdachlosenproblematik wird von der Missionarin sachlich, illusionlos gesehen, ohne sozialromantische Scheuklappen. Da in Brasilien ein soziales Netz wie in mitteleuropäischen Ländern fehlt, geht der Absturz in die Obdachlosigkeit ganz rasch, oft von heute auf morgen. ”Man verliert die Arbeit, dann ganz schnell auch die Wohnung “ und wohin dann? Auf die Straße.” Andere sind aus tausende Kilometer entfernten Regionen Brasiliens quasi nach Sao Paulo eingewandert, hofften in der Industriestadt auf einen Job, hörten wohl nichts von grassierender Rekordarbeitslosigkeit.
–Machismus, Alkoholismus und harte Drogen”
„Wenn Ehen auseinanderbrechen, gehen die Männer oft aus Wut und Trotz einfach weg, landen auf der Straße – fast nie die Frauen. Das hat viel mit dem lateinamerikanischen Machismus zu tun. Die Männer sind unheimlich stolz, sehr machistisch, sehen es nicht ein, etwa ihren Teller abzuwaschen, ihre Sachen zu säubern. Und bei Entlassung halten sie es einfach nicht aus, daß die Frau für den Lebensunterhalt der Familie sorgt – und flüchten einfach, greifen zur Flasche.” Absurderweise ist simpler Zuckerrohrschnaps, Cachaca, in Brasilien billiger als Milch – was würde sich in Deutschland abspielen, wenn der Liter Wodka oder Korn weit weniger als einen Euro kostete? „Für die brasilianischen Männer ist es fast normal, Cachaça zu trinken und in einer schwierigen Situation in den Alkoholismus abzurutschen.” Kokain, Crack kosten im Vergleich zu Deutschland ebenfalls nur Spottpreise, sind daher selbst für Slumbewohner erschwinglich. Schnaps, Rauschgift dienten zum Ruhigstellen von Problemgruppen, etwa Strafgefangenen, würden deshalb in die Knäste bewußt hineingelassen – sagen selbst katholische Pfarrer. „In unserem Nachtasyl sind 98 Prozent alkohol-oder drogenabhängig”, so Sandra Stalinski, „ein Problem, mit dem wir ganz viel zu kämpfen haben, das sie aber nicht thematisieren.” Abends deshalb immer dasselbe Ritual: „Wenn die Leute unheimlich betrunken ankommen, würden sie in der Herberge Streit anfangen, gäbe es Konflikte. Also lassen wir sie erst vor der Tür warten, etwas nüchterner werden.” Bei den Männern stößt sie teils auf tiefste Verwahrlosung, gar Verrohung – auf einen Teufelskreis, nur ganz schwer zu durchbrechen. Denn das Leben auf der Straße ist unbeschreiblich hart, auch grausam:”Da kann man nicht zartbesaitet sein, da muß man auch zum Messer greifen und töten, um sein eigenes Leben zu schützen – diese Leute leben in einer ganz anderen Welt.” Viele lehnen es ab, nachts eine Herberge aufzusuchen, weil sie sich dort bestimmten Gemeinschaftsregeln unterwerfen müßten:”Da wird man nur gedemütigt, ich bin doch kein Hund, der an der Kette laufen muß!” Sie schlafen lieber in der „Freiheit” der Straße, trotz aller Gefahren. Doch jenen „Sem-Teto”, die in Sandra Stalinskis Asyl kommen, soll ihre Autonomie, Selbständigkeit wiedergeben werden – dafür dienen die Seelsorge, die unzähligen stundenlangen nächtlichen Einzelgespräche, all die Kurse. „Wir wollen nicht, daß sich die Leute an das Straßenleben gewöhnen, nur jeden Abend im Asyl essen, duschen, schlafen, ohne etwas dafür tun zu müssen. Das kann zu einer Form von Bequemlichkeit werden. Es gibt Leute, die das Asyl als angenehme Möglichkeit empfinden, Geld einzusparen – weil sie weniger verdienen oder auch weniger arbeiten.” Sandra Stalinski macht mit allen Kunstworkshops, malt, zeichnet mit ihnen, entdeckt die unglaublichsten Talente. Was denken sie über Deutschland? „Das Paradies, das gelobte Land, wo jeder reich ist, das Geld schier vom Himmel fällt.” Doch was weiß der deutsche Normalbürger über Brasilien? „Fußball, Samba, Caipirinha, Rio de Janeiro und die Strände als weltweit verkauftes Markenzeichen – das Elend hier ist in Deutschland niemandem bewußt.”
An der Peripherie Sao Paulos wachsen die Slums um über zehn Prozent jährlich, das Obdachlosenproblem verschärft sich zunehmend. „Weitere Massaker können geschehen”, schreibt die kleine Zeitung des „Rede-Rua”-Hilfswerks, bei der Sandra Stalinski ebenfalls mitarbeitet. „Präfektur, Staat und die Obdachlosen selber müssen endlich aktiv werden!”
In Rio de Janeiro ist die Lage keineswegs anders – die nach dem Diktator, Judenhasser und Hitlerverehrer Getulio Vargas benannte City-Avenida wird nachts zum Schlafsaal. Auf einem Kilometer nächtigen stets rund zweihundert Obdachlose. In Sao Paulo sprießen überall „Mini-Favelas” gar an Straßenecken, Fabrikmauern. Diözese-Soziologin Eva Turin analysiert, daß die Gesellschaft heute abgrundtief individualistisch, immer weniger solidarisch sei. Daß die Gutbetuchten der besseren Viertel ihren Konsumismus, den zunehmend stärker konzentrierten Reichtum nicht etwa verstecken, sondern sogar immer offener zur Schau tragen, sei „eine Aggression, eine Provokation, ein direkt obszöner Akt gegenüber den Armen.” So wie an der Avenida Paulista – „der eine liegt krank vor Hunger auf der Straße, der andere fährt mit dem Importauto für hunderttausend Dollar vorbei.” Eva Turin meint, daß die Mittel-und Oberschicht diese Sozialkontraste bewußt verdrängt.
Marcio Pochmann, renommierter Wirtschaftsexperte, sieht einen Zusammenhang zwischen Bereicherung und Dekadenz. Die Reichen von heute entstammten immer weniger den legalen produktiven Sektoren der Gesellschaft, Geldgier mache sie zunehmend entfremdeter. Der Prozeß unproduktiver Bereicherung gehe unverändert weiter, damit auch die sozioökonomische Dekadenz im Lande.
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