Andrij Melnyk ist in Deutschland dank zahlreichen einschlägigen Medienauftritten das Gesicht der Ukraine. Doch auch wenn die Aussagen des „Noch-Botschafters“ jegliche Diplomatie vermissen lassen, halten sich die meisten Medien mit Kritik an ihm zurück. Das gilt auch für seine jüngsten Entgleisungen bei dem YouTube-Interviewformat Jung & Naiv. Erst die Proteste aus Israel und Polen sorgten dafür, dass er nun Medienberichten zufolge ins Kiewer Außenministerium weggelobt werden soll. Das macht die Sache keinesfalls besser, da dann ein weiterer Anhänger des faschistischen Bandera-Kultes in der Regierung sitzt. Winfried Wolf schildert für die NachDenkSeiten ausführlich den Hintergrund dieser Debatte.
Dass sich Andrij Melnyk spätestens seit Beginn des Ukraine-Kriegs mit Provokationen hervortat, ist allseits bekannt. Als Gast in Dutzenden TV-Talkshows konnte man immer wieder den Eindruck gewinnen, dass der Mann es einerseits darauf anlegt, als Russlandhasser, Befürworter immer massiverer Waffenlieferungen an die Ukraine und als jemand, der die Gefahr eines großen europäischen Krieges kleinredet, sich vor jede Kamera und jedes offene Mikrophon zu stellen. Und dass andererseits die Mainstream-Medien und die deutsche Regierung vor dem Botschafter kuschen, ihm nach dem Mund reden und seine Forderungen Punkt für Punkt übernehmen.
Nun war es das in weiten Kreisen eher unbekannte Internetmagazin „Jung & Naiv“, in dem Melnyk Ende Juni mehr als drei Stunden lang hartnäckig und kompetent mit Fakten zu Stepan Bandera, dem Kopf der ultranationalistischen und antisemitischen Terrororganisation OUN-B, der Organisation Ukrainischer Nationalisten, konfrontiert wurde. Je länger das Gespräch dauerte, desto defensiver und unglaubwürdiger wirkte der Herr Botschafter. Er sagte dann Sätze wie „Für einen Freiheitskämpfer gibt es keine Gesetze“; „Es gibt keine Belege, dass die Bandera-Gruppen Hunderttausende Juden getötet hätten“; „Nein – Bandera und die OUN sind nicht Teil des Holocaust“ „Putin ist eine Symbiose aus Stalin und Hitler“, „Die russische Kultur ist Kriegsinstrument“. Immer wieder erwiderte Melnyk, wenn ihm von dem Interviewer Tilo Jung Fakten vorgehalten und Zitate vorgelegt wurden, dass die präsentierten Quellen nicht vertrauenswürdig seien, dass er nicht wüsste, „wie Israel darauf kommt“, solche Äußerungen zu tätigen. Und als Jung einmal als Quelle die „Jüdische Gemeinde Berlin“ nennt, reagiert Melnyk mit einem süffisanten „Ah, okay …“. Gleichzeitig sagte er: „Ich bin bereit, mit den Jüdischen Gemeinden über Bandera zu reden“ – unter der Voraussetzung, dass diese Diskussion dann „sachlich“ stattfände und dass dabei Bandera nicht pauschal als Mörder und Faschist bezeichnet würde.[1]
Obgleich bereits nach drei Tagen 150.000 Menschen sich das Interview auf der „Jung & Naiv“-Website angesehen haben, obgleich der Interviewer ausgesprochen präzise und ruhig argumentierte und auf diese Weise Melnyk seine Maske fallen lassen musste und immer mehr ins Stottern geriet beziehungsweise absurde Gegenangriffe startete („Warst du schon mal in Sachsenhausen?“), sind nach Bekanntwerden des Gesprächs die Proteste eher verhalten. Während in Kassel bei der Documenta ein – tatsächlich antisemitisches! – Bild einer indonesischen Künstlergruppe genügend Basis dafür ist, dass es einen bundesweiten Skandal mit Rücktrittsforderungen für die Verantwortlichen gibt, kann der Botschafter der Ukraine sich offen dazu bekennen, einen Faschisten und Antisemiten als sein Vorbild zu sehen und dutzendfach zu leugnen, dass es sich dabei um einen Massenmörder und Kriegsverbrecher handelt, den die Regierungen in Moskau, in Warschau und in Tel Aviv auch als solchen begreifen und genauso bezeichnen.
Einige Medien versuchen, den Vorfall herunterzuspielen. In der Neuen Züricher Zeitung beispielsweise heißt es, Melnyk sei in dem Interview „mit den Massakern konfrontiert“ worden, „die Banderas Leute an Polen verübt haben“, worauf der ukrainische Botschafter darauf verwiesen hätte, dass es „auch Massenmorde von Polen an Ukrainern“ gab. Tilo Jung sagte dazu im Interview, dass das die Sache „doch nicht besser“ machen würde. Vor allem aber hatte er Melnyk vorgehalten, dass Banderas Leute einige Hunderttausend Jüdinnen und Juden ermordeten. Jung verwies darauf, dass Stepan Bandera persönlich die Losung ausgegeben hatte, die Ukraine müsse „frei von Polen, Juden und Russen“ sein. Auch hier bezweifelt Melnyk die Authentizität der Quelle.
In der Süddeutschen Zeitung wird Bandera als „ideologischer Führer“ der OUN bezeichnet.[2] Damit wird unterstellt, dass er keine direkte Verantwortung für die OUN-Massaker getragen hätte. Mit derselben Stoßrichtung argumentierte Melnyk, dass Bandera doch im KZ Sachsenhausen gewesen sei, als die Verbrechen, die ihm vorgehalten werden, verübt wurden: „Ich bin dagegen, dass man all die Verbrechen Bandera in die Schuhe schiebt“. Tatsächlich war Bandera der uneingeschränkte Chef der OUN-B. Das „B“ in der Organisationsbezeichnung stand für seinen Namen. In Sachsenhasen befand er sich nur drei Jahre lang – von Ende Juni 1941 bis September 1944; er lebte dort unter vergleichsweise komfortablen Bedingungen als „Ehrenhäftling“. Und es war das NS-Regime, das ihn am 25. September 1944 aus diesem Hausarrest entließ. Spätestens ab diesem Zeitpunkt agierte er als freier Mann – als OUN-Führer, als faschistischer, antisemitischer und antipolnischer Terrorist, durchaus mitverantwortlich für das Operative, also für das unten näher beschriebene massenhafte Morden.
Sieht man sich die Geschichte der OUN und diejenige ihres Führers Stepan Bandera an, dann fanden die Verbrechen der ukrainischen Nationalisten in vier Perioden statt.
Zunächst gab es die Vorkriegsperiode – die Zeit zwischen der OUN-Gründung 1929 und dem deutsch-sowjetischen Überfall auf Polen im September 1939. Die OUN verbreitete in dieser Zeit ihr ultranationalistisches Programm, in dem es u.a. heißt: „Du wirst den ukrainischen Staat erkämpfen oder im Kampf für ihn sterben […] Du sollst nicht zögern, die allergefährlichste Tat zu begehen, wenn die Sache dies verlangt. [.. ] Begegne den Feinden Deiner Nation mit Hass und rücksichtslosem Kampf.“ In dieser Zeit begann die OUN den bewaffneten Kampf gegen den polnischen Staat. Die OUN-Aktivisten töteten Polizisten und polnische Zivilisten. Die Organisation wurde damals bereits von der deutschen Reichswehr und dem deutschen Abwehrchef Canaris heimlich politisch unterstützt und mit Waffen versorgt. Bandera wurde 1934 von polnischen Sicherheitskräften inhaftiert und von einem Gericht zum Tode verurteilt, weil man ihm die Beteiligung an der Ermordung des polnischen Innenministers Bronislaw Pieracki zur Last legte. Zu der Tat hatte sich die OUN bekannt. Die Strafe wurde in lebenslange Haft umgewandelt. Im September 1939 kam Bandera im Zusammenhang mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs frei.
Nach dem deutsch-sowjetischen Überfall auf Polen am 1. beziehungsweise am 17. September 1939 begann eine zweite, rund zweijährige Periode der OUN-Tätigkeiten. Die ukrainischen Nationalisten der Bandera-Organisation agierten auf dem von Deutschland besetzten polnischen Gebiet als eine Hilfstruppe des NS-Regimes. Die in polnischen Gefängnissen einsitzenden OUN-Leute wurden freigelassen. Die Wehrmacht formierte 1940 in den besetzten polnischen Gebieten aus OUN-Angehörigen die Bataillone „Nachtigall“ und „Roland“. Die OUN vertrat damals bereits das Ziel „Ukraine für die Ukrainer“, was erklärtermaßen auf die Vertreibung und oft auf die Liquidierung der jüdischen und polnischen Bevölkerung hinauslief. Die OUN war in diesem Zeitraum maßgeblich an der Vernichtung von 200.000 Juden beteiligt.
Die dritte Periode begann am 22. Juni 1941 mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, was mit dem Einmarsch der NS-Armeen in das seit dem 17. September 1939 von der Sowjetunion besetzte ehemals polnische Gebiet begann. Die OUN-Führung hoffte nun darauf, dass das NS-Regime eine von der OUN kontrollierte Ukraine dulden würde und proklamierte am 30. Juni 1941 in Lwiw (Lemberg) die Unabhängigkeit. Das passte jedoch nicht in das Konzept der Nazis, weswegen einige führende ukrainische Nationalisten, darunter Bandera, zeitweilig inhaftiert und, wie bereits geschildert, als „Ehrenhäftlinge“ in Sachsenhausen einsaßen. Die Masse der OUN-Kader agierte jedoch weiter als Hilfskräfte der Nazis. Sie waren aktiv beteiligt bei der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung und nunmehr auch im Kampf gegen die Rote Armee.
Eine vierte Phase begann Ende 1942, als sich die Niederlage der Wehrmacht abzeichnete. Die OUN-B führte nun zunehmend einen eigenen Krieg für eine ukrainische Unabhängigkeit – und beging dabei vor allem Massaker an der polnischen Bevölkerung. Diese Aktivitäten werden in einer gründlichen Untersuchung des britischen Historikers Keith Lowe aus dem Jahr 2012 wie folgt beschrieben: „Ende des Jahres 1942, als offenkundig wurde, dass die Macht Hitler-Deutschlands in Osteuropa an ihre Grenzen gestoßen war, desertierten die ukrainischen Polizisten in Scharen […] und schlossen sich der neuen Partisanengruppe der OUN an, der Ukrainischen Aufständischen Armee (Ukrajinska Powstanska Armija , UPA). Und nun setzten sie die Kenntnisse, die sie im Dienst der SS erworben hatten, im Kampf gegen die feindlichen Volksgruppen ein. Neben den wenigen überlebenden Juden richtete sich ihr Vernichtungsfeldzug nun gegen die große polnische Minderheit. […] In dem Blutrausch der folgenden Jahre wurden ganze polnische Gemeinden ausradiert. Alte Männer wurden ebenso ermordet wie Frauen und Neugeborene.“
Der Autor beschreibt in der Folge einzelne Massaker – so im Dorf Oleksieta an Ostern 1943 oder am 12. März 1944 im Dorf und Kloster Podkamien. Keith Lowe bilanziert dann wie folgt:
„Aus polnischen, aber auch aus deutschen und sowjetischen Quellen geht hervor, dass die ukrainischen Partisanen ihre Opfer köpften, kreuzigten, verstümmelten und ausweideten und die Leichen oft zur Schau stellten, um unter den verbliebenen Polen Angst und Schrecken zu verbreiten. Sie brannten Häuser und Kirchen nieder, schleiften Dörfer und raubten alles, was sie tragen konnten. Dieser Vernichtungsfeldzug wurde auf ganz Ostpolen und die westliche Ukraine ausgeweitet. Ukrainer, die ihren polnischen Nachbarn Schutz gewährten, wurden ebenfalls ermordet. Aus den UPA-Berichten geht hervor, dass die Partisanenbewegung vorhatte, die ethnischen Polen genauso umfassend auszurotten wie die Juden. Und vielerorts gelang das tatsächlich. […] Nach sehr konservativen Schätzungen töteten ukrainische Partisanen in Wollhynien rund 50.000 polnische Zivilisten. In Galizien fielen ihnen zwischen 20.000 und 30.000 Menschen zum Opfer. Insgesamt dürften im Verlauf des Bürgerkriegs in der Grenzregion bis zu 90.000 Polen das Leben verloren haben. Auch auf der ukrainischen Seite waren tausende Tote zu beklagen, aber da der Genozid kein erklärtes Ziel der Polen war, verloren die Ukrainer sehr viel weniger Menschen als sie ihrerseits töteten – insgesamt etwas 20.000.“[3]
Bandera saß zwar bis September 1944, wie erwähnt, als Ehrenhäftling in Sachsenhausen fest. Doch erstens konnte er auch von dort aus Einfluss auf seine Leute nehmen. Zweitens gibt es keinerlei Distanzierung Banderas von diesen Verbrechen. Und drittens agierte er nach seiner Freilassung im Herbst 1944 sofort wieder als Führer der OUN-B beziehungsweise der UPA – und dies in einer Zeit, als es viele der beschriebenen furchtbaren Massaker gab.
Bandera war beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess durchaus Thema
In seinem Gestammel zur Leugnung all dieser Verbrechen behauptete der Herr Botschafter, die OUN und Bandera könnten gar nicht solche Verbrechen begangen haben, „denn dann wäre er doch in Nürnberg verurteilt“ worden. „Wenn Stalin Beweise“ für Banderas Verbrechen gehabt hätte, dann wäre Bandera dort auf der Anklagebank gelandet – „aber“, so Melnyk, „es gibt keine Beweise“. Schließlich habe Bandera ja nach Ende des Zweiten Weltkriegs noch viele Jahre lang „in Deutschland“, gemeint ist Westdeutschland, gelebt. Dieses Argument entbehrt offensichtlich jeder Grundlage, da im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher nur vierundzwanzig Personen der deutschen NS-Führung vor Gericht standen. Die Tatsache, dass Tausende verantwortliche Nazis in Deutschland – und die meisten prominenten Kollaborateure des NS-Regimes in den von Deutschland besetzten Ländern – in Deutschland überhaupt nicht zur Verantwortung gezogen wurden und dass Polen, Israel und die Sowjetunion durchaus gefordert hatten, Bandera als Kriegsverbrecher vor ein Gericht zu stellen, sollte auch Melnyk bekannt sein.
Nicht bekannt dürfte ihm sein, dass im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess die OUN und Bandera durchaus Thema waren. Am 11. Februar 1946 wurde dem Nürnberger Gerichtshof die Aussage des „Obersten Erwin Stolze des früheren deutschen Heeres“, einem führenden Mitarbeiter „im Amt II Ausland/Abwehr beim Oberkommando der Wehrmacht“ als „Beweisstück USSR-231“ vorgelegt und daraus wie folgt zitiert:
„Ich [also besagter Oberst Erwin Stolze; W.W.] erhielt […] die Weisung, eine Sondergruppe unter meiner Leitung aufzustellen. Diese Gruppe erhielt die Deckbezeichnung ›A‹ und war ausschließlich für die Vorbereitung der Sabotage- und Zersetzungsarbeit im sowjetischen Hinterland bestimmt. Um die gleiche Zeit hatte mich Lahousen [Vorgesetzter von Stolze; W.W.] mit einem Befehl des Wehrmachtführungsstabes bekannt gemacht, der Richtlinien für die Unterwühlungstätigkeit auf dem Sowjetgebiet nach dem Überfall Deutschlands auf Russland enthielt. Der Befehl war vom Feldmarschall Keitel nach Abzeichnung durch General Jodl […] unterzeichnet. […] In diesem Befehl wurde darauf hingewiesen, dass zur Unterstützung eines blitzartigen Schlages gegen die Sowjetunion Abw. II ihre Unterwühlarbeit gegen Russland mit Hilfe eines V-Mann-Netzes auf die Entfachung des Nationalhasses zwischen den Völkern der S.U. zu steuern habe. […] Um die obengenannten Weisungen Keitels und Jodls auszuführen, hatte ich mit den im Dienste der deutschen Abwehr stehenden ukrainischen Nationalisten Fühlung […] aufgenommen. Ich hatte unter anderem persönlich den Anführern der ukrainischen Nationalisten – Melnyk (Deckname, ›Konsul I‹) und Bandera [4] – die Weisung gegeben, sogleich nach dem Überfall Deutschlands auf Russland provokatorische Putsche in der Ukraine zu organisieren mit dem Ziele, die Sowjettruppen in ihrem unmittelbaren Hinterlande zu schwächen, sowie auch die internationale öffentliche Meinung im Sinne einer sich angeblich vollziehenden Zersetzung des sowjetischen Hinterlandes zu beeinflussen.“[5]
Es geht nicht um einen faschistoiden Botschafter, es geht um die Regierungen in Kiew und Berlin
Nach dem skandalösen Interview mit Melnyk bei „Jung und Naiv“ gab es zwar Proteste in Warschau und Tel Aviv und auch eine Distanzierung seitens des ukrainischen Außenministeriums. Das deutsche Auswärtige Amt – das sich bekanntlich einer „wertebasierten Außenpolitik“ verpflichtet sieht – ließ jedoch verlautbaren, man wolle sich „an der Kontroverse um den ukrainischen Botschafter in Deutschland nicht beteiligen.“ Im Übrigen verweise man auf die Stellungnahme des ukrainischen Außenministeriums. Personelle Konsequenzen werden – bislang zumindest – von keiner prominenten Stelle gefordert.
Dabei geht es letzten Endes nicht um die Person Melnyk und dessen Bewunderung für einen Antisemiten und Faschisten. Der Skandal ist ein deutlich größerer. Er betrifft erstens die Regierung in Kiew und das politische System in der Ukraine und zweitens die Verantwortlichen und die Medien in Deutschland selbst.
Verschwiegen wird in der aktuellen Debatte, dass das Loblied auf den faschistischen Führer Bandera keine individuelle Marotte eines „streitbaren Botschafters“ (NZZ) ist. Bandera gilt im Staat Ukraine den Eliten und den Verantwortlichen in der Regierung und in den Medien als Vorbild und als Held. Es gibt inzwischen in der Ukraine – vor allem im Westen des Landes, aber auch in der Hauptstadt Kiew – hunderte Bandera-Statuen. In der ukrainischen Hauptstadt wurde am 7. Juli 2016 der zentrale ehemalige „Moskowski Prospekt“ in „Stepan Bandera Prospekt“ umbenannt. Bereits 2009 erschien – anlässlich des hundertsten Geburtstags von Bandera – eine Briefmarke der staatlichen ukrainischen Post, auf der Stepan Bandera – ergänzt um seine Unterschrift und die Jahreszahlen „1999-2009“ – abgebildet ist. Und als Ende Mai in Mariupol hunderte ukrainische Soldaten, die sich in den unterirdischen Gängen des Asow-Stahlwerks verbarrikadiert hatten, kapitulierten und die russischen Soldaten diese zwangen, ihre Uniformen abzulegen und ihre nackten Oberkörper zu präsentieren, konnte man dutzendfach tätowierte Körper mit Bandera-Konterfeis, SS-Runen, der Wolfsangel, dem Hakenkreuz und auch solche mit dem Konterfei von Adolf Hitler bestaunen. Beziehungsweise man konnte das in Deutschland eher nicht sehen. Zwar sendeten auch ARD und ZDF Aufnahmen des Russischen Staatsfernsehens, die diese ukrainischen Soldaten nach der Kapitulation zeigten. Doch die entsprechenden Sentenzen mit den nackten und derart tätowierten Oberkörpern waren herausgeschnitten worden. Man wollte einen solchen Anblick der deutschen Öffentlichkeit ersparen.
Die andere Ebene des Skandals Melnyk-Bandera betrifft die Verantwortlichen in Deutschland – in der Regierung in Berlin und die Verantwortlichen in den Medien. Melnyk ist seit dem 24. Februar buchstäblich in jeder Woche mehrmals auf allen Kanälen präsent. Er gab seit Kriegsbeginn Dutzende Interviews in Print- und elektronischen Medien; so gut wie immer wurden an ihn keine kritischen Fragen gestellt. Vielmehr wurde er immer kaum verhüllt als Waffe dafür eingesetzt, dass die Regierung zu noch mehr Waffenlieferungen aufgefordert, wenn nicht erpresst wird. Das Verhältnis des Herrn Botschafters zur Rüstungsindustrie wird übrigens im Interview (Minute 45 bzw. 2:12) wunderbar auf den Punkt gebracht: Melnyk erklärt dort mehrmals, dass die Chefs der Rüstungskonzerne („Ich kenne fast alle“) zu den „wenigen Menschen (gehören), die uns verstanden“, die „uns mit dem Herzen empfangen“ haben.
Ganz offensichtlich steht der Mann unter einem besonderen Schutz. Mehrmals betont Melnyk im Interview, er sei „Bevollmächtigter“, er habe „kein Abmahnung oder Ähnliches“ erhalten, als er den Bundeskanzler direkt anging; er habe es auch nicht notwendig, mit Selensky „über Bandera zu sprechen“. Wobei er in dem Interview den interessanten Einblick bietet, dass er seit mehr als 25 Jahren im diplomatischen Dienst der Ukraine steht, dass er damit „auch unter Russland-freundlichen“ Präsidenten seinen Job machte – und dass er 2013/2014, in den Wochen des Maidan – so Tilo Jung – „tagsüber fürs (Janukowytsch-)Regime und abends“, als Privatperson, „für den Maidan“ aktiv gewesen sei (Minute 1:21).
Im „Jung & Naiv“-Interview auf einen längeren Aufenthalt in den USA – eine Geschäftsreise – angesprochen, reagiert Melnyk ausgesprochen zurückhaltend. Es ist der Interviewer Tilo Jung, der ihn darauf direkt anspricht und dann noch konkretisiert: „Du hast da sogar Brzezinski getroffen!“, was Melnyk bestätigt.
Nun war der ehemalige Sicherheitsberater des US-Präsidenten Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski, ein Mann, der in seinem Buch „The Grand Chessboard“ („Das große Schachbrett“) geradezu visionär eine US-Strategie entwickelt, mit der Russland, bis dahin eine „eurasische Macht“, zu einer „rein asiatischen Macht“ degradiert werden sollte. Dabei würde „die Ukraine als neuer und wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett“, einen „geopolitischen Dreh- und Angelpunkt“ darstellen: „Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr.“[6]
Die Strategie, die bereits bei Brzezinski aufschien, die die heutige Regierung Biden praktiziert und für die Melnyk trommelt, ist aber eine Politik, die die Ausweitung des Ukrainekriegs zu einem europaweiten Krieg, der auch atomar geführt werden kann, ins Kalkül einbezieht. Es ist eine Politik, die vor allem die Interessen der US-Eliten und der Rüstungsindustrie zum Ausdruck bringt – mit einer Administration in Brüssel und mit einer Regierung in Berlin, die zunehmend Vasallenstatus hat. Was im Übrigen deutlich damit dokumentiert wurde, dass der US-Verteidigungsminister Lloyd Austin Ende April die Verteidigungsminister und -ministerinnen von mehr als vierzig Ländern nach Ramstein auf den US-Luftwaffenstützpunkt eingeladen hatte, um dort eine Koalition zu schmieden und zum ersten Mal darauf zu orientieren, dass „der Krieg noch sehr lange dauern“ wird.
Es muss alles getan werden, dieser Kriegstreiberei ein Ende zu bereiten, einen sofortigen Waffenstillstand und ein Zurück an den Verhandlungstisch zu fordern. Auch wenn der Herr Botschafter im „Jung & Naiv“-Interview sagt, das Minsker Abkommen sei „ein totes Pferd“, so kann eine Lösung, mit der der Frieden wieder hergestellt wird, nur in einem Abkommen Minsk III bestehen.
Winfried Wolf ist verantwortlicher Redakteur von Lunapark21. (www.lunapark21.net)
Titelbild: Screenshot Jung & Naiv
[«1] Das komplette Interview findet man hier: jungundnaiv.de/2022/06/29/andrij-melnyk-botschafter-der-ukraine-folge-580/
Ein siebenminütiger Auszug bei YouTube hier: youtube.com/watch?v=HOcW7uLJVZU
[«2] NZZ und SZ, jeweils Ausgabe vom 2. Juli 2022.
[«3] Keith Lowe, Der Wilde Kontinent. Europa in den Jahren der Anarchie 1943 – 1950, englische Ausgabe von 2012, deutsch Stuttgart 2014, Seiten 270-274.
[«4] Im Jahr 1940 kam es zur Spaltung innerhalb der OUN. Es wurde die OUN-B (unter der Leitung von Stepan Bandera) und die OUN-M unter der Führung von Andrij Melnyk gegründet. Andrij Melnyk (1890-1964) war in der Frühphase der OUN deren Führer. Er wurde dann von Stepan Bandera, der als radikaler galt, abgelöst. Die beiden OUN-Gruppen führten auch einen erbitterten Bruderkrieg und ermordeten jeweils führende Leute der Gegenseite. In der Endphase des Weltkriegs wurde von der Wehrmacht die 14. Waffen-Grenadier-Division der SS aufgestellt, die vorwiegend aus Aktiven des Melnyk-Flügels der OUN bestand. Die OUN-B agierte in dieser Zeit, wie oben beschrieben, überwiegend autonom. Die Namensgleichheit mit dem Botschafter ist Zufall; „Melnyk“ heißt Müller. Im Interview sagt A.M., der Botschafter, sein Vater „wollte mich so nennen“ – im Gedenken an diesen OUN-Führer.
[«5] Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg. Nürnberg 1947, Bd. 7, S. 283-310. Permalink: zeno.org/Geschichte/M/Der+N%C3%BCrnberger+Proze%C3%9F/Hauptverhandlungen/Sechsundf%C3%BCnfzigster+Tag.+Montag,+11.+Februar+1946/Nachmittagssitzung
[«6] Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft“, hier zitiert nach der deutschen Ausgabe von Frankfurt/M. 1999, S. 75. Erstausgabe in den USA 1997. Eine Zusammenfassung dieser Brzezinski-Schrift findet sich in Lunapark21, Heft 58S. 54ff, Juli 2022. Dort gibt es auch 30 Seiten mit aktuellen Texten zum Ukraine-Krieg. Zitat Nachdenkseiten
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Die Polizei vermeldete erleichtert, dass die Passagiere sich trotzdem ruhig verhielten. Natürlich waren das Spitzenwerte, und sie stellen nicht den Normalfall dar. Die Normalwerte sind nach meiner Erfahrung inzwischen längst keine Normalwerte mehr, zum Beispiel wenn man früh morgens von Berlin irgendwo hinfliegen will, kann man leicht eine halbe Stunde in der Sicherheitskontrolle stehen.
Jeder weiß, dass es manchmal unvermeidbar ist, zu warten. Plötzlich bildet sich ein Nadelöhr oder es gibt aus nicht erklärbaren Gründen einen Menschenandrang, und dann muss man Geduld zeigen. Die Flughafenabfertigung ist allerdings mit das planbarste Verfahren, das man sich vorstellen kann. Flughafenbetreiber, Fluggesellschaften und Flugsicherheitskontrolle wissen Wochen vor dem Flug schon, wie viele Flüge in einem bestimmten Zeitraum abgehen werden und wie viele Buchungen erfolgten.
Es mag sein, dass es in den Tagen zuvor noch ein paar Zubuchungen oder Stornierungen gibt, aber es dürfte kaum eine Branche geben, die mit einer derartigen Planungssicherheit arbeiten kann. Jeder Betreiber eines Biergartens arbeitet mit größeren Unsicherheiten, was die Kundennachfrage angeht, als die Flughäfen.
Vor allem haben die Fluggesellschaften schon mit der Buchung, also lange vor dem Abflug, das Geld für die Luftsicherheitskontrolle abkassiert und könnten die notwendigen Kontrollkräfte sogar im Voraus bezahlen, wenn sie wollten.
Wenn ich diese Schlangen sehe, schaue ich mir immer die Menschen an. Wie reagieren sie? Und ich bin erstaunt, dass sie eigentlich gar nicht reagieren. Sie laufen in einer Schlange mit, wo sie vielleicht erst nach einer halben Stunde merken, dass sie sich falsch angestellt hatten und gehen traurig oder zornig wieder zum richtigen Ausgangspunkt zurück.
Sie machen Witze über die Unfähigkeit der Flughafenmitarbeiter, sie lästern und nörgeln, aber sie sind ruhig. Dabei wissen sie ziemlich genau, dass sie eigentlich betrogen werden.
Sie zahlen Flugsicherheitsgebühren, sie zahlen für die Abfertigung am Boden, sie zahlen ihre Steuern, mit denen eine funktionierende Infrastruktur unterhalten werden soll, sie sind früh aufgestanden und zum Flughafen gekommen, der Flughafen wusste genau, dass sie kommen werden, aber trotzdem werden sie auf dem Flughafen wie Vieh behandelt.
Und im Zweifel verpassen sie auch ihren Flug. Aber niemand wehrt sich. Viele werden die Faust in der Tasche ballen, aber kaum jemand wird aggressiv. Man könne ohnehin nichts machen, sagen manche. Derjenige, der aggressiv wird, ist der Spielverderber. Wieso eigentlich? Schließlich zahlte man nicht zu knapp, Luftsicherheitsgebühren und Steuern, und es funktioniert nicht. Warum findet man sich damit ab?
Warum zieht keiner eine Gelbweste an und haut auf den Tisch? Warum nimmt man das Nichtfunktionieren von vielem, was früher normal war, einfach klaglos hin?
Warum findet man sich mit der schleichenden Dysfunktionalität des Staates ab? Brücken und Autobahnen, die eher gesperrt als repariert werden, Züge, die notorisch überfüllt und unpünktlich fahren, Bürgerämter, bei denen man Wochen oder sogar Monate auf einen Termin warten muss.
Ein Hochwasser, vor dem nicht rechtzeitig gewarnt wird, wo es keine Vorsorge gab, der Staat unfähig war, die Hochwasserschäden zu beseitigen, und wo auch ein Jahr später die Opfer einfach im Stich gelassen werden.
Politiker mit infantilen Allmachtsphantasien, das Weltklima ändern zu können, die aber noch nicht einmal ein simples Hochwasser in den Griff bekommen. Die Fernstenliebe ist vielen Politiker wichtiger, als sich zum Beispiel um das Ahrtal zu kümmern.
Neuerdings machen sich Politiker einen ganz schlanken Fuß, in dem sie nichts tun – außer warnen. Der Wirtschaftsminister warnt vor dem Energiemangel, der Bundeskanzler warnt vor der Megainflation, andere warnen vor Straftaten in Freibädern. Was für eine Dreistigkeit, dachte ich mir! Eigentlich sind das die Leute, die dafür bezahlt werden und dafür sorgen müssen, dass wir keinen Energiemangel haben, keine Inflation und keine Straftaten in Freibädern.
Wieso nehmen wir es einfach hin, dass sie ihren Job nicht machen und stattdessen sich darauf beschränken, uns vor den Gefahren zu warnen, die sie verhindern sollten oder die sogar selbst verursacht haben? Wofür zahlen wir eigentlich die Megasteuern auf alles und jedes, wenn die Politik die Grundvoraussetzungen unseres Lebens nicht mehr gewährleisten will?
Es ist für mich so, wie wenn Sie in ein Sterne-Restaurant gehen und ein sündhaft teures Menü bestellen, auf das Sie zwei Stunden warten müssen, es dann auf schmutzigem Geschirr serviert wird und der Oberkellner Scholz Sie angrinst und sagt: Guten Appetit, aber ich warne vor unseren Salmonellen, die zu Gesundheitsproblemen führen können.
Dieser Niedergang des Landes ist für jeden offensichtlich. Es gibt maßgebende Kräfte, die sich nicht mehr an Verträge oder an politische Spielregeln halten. Ihnen ist es einfach egal, weil es folgenlos bleibt. Trotzdem halten viele den Mund, spielen weiter mit und tun so, als ob sich auch die anderen an die Spielregeln halten. Warum eigentlich?
Wenn Menschen nicht begreifen, dass Regelübertretungen und schuldhaftes Versagen Folgen haben, dann werden sie sich nicht ändern und die Regeln in Zukunft erst recht nicht beachten. Das gilt für Fluggesellschaften, für Unternehmen genauso wie für unsere Politiker.
Massenmedien unterstützen leider diese Fehlentwicklungen, wenn sie Versagen nicht mehr als Versagen anprangern, sondern sich wie die Artillerie der Herrschenden gegen jede Kritik verhalten.
Sehr lange haben wir uns viel bieten lassen, haben zugesehen und gehofft, dass „jemand sich schon darum kümmern wird“. Es ist vielleicht eine deutsche Neigung zu glauben, dass es einen Herrn Jemand gibt, der als eine Art Hausmeister uns das unangenehme Geschäft, sich mit der Politik lautstark und vernehmlich auseinanderzusetzen, abnimmt.
Aber es gibt den Herrn Jemand nicht. Vielen Deutschen ist der natürliche Widerstandswille abhandengekommen oder aberzogen worden. Man wird nicht laut und haut nicht auf den Tisch. Das ist toxische Männlichkeit.
Aber manchmal ist es notwendig, und man sollte gelernt haben, weder die linke noch die rechte Wange Politikern hinzuhalten. Und ich glaube, dass es auch den meisten Frauen lieber wäre, jemanden, der sich wehren kann, an ihrer Seite zu haben.
Es ist immer besser, die Faust aus der Tasche zu nehmen und auf den Tisch zu legen, auch wenn es etwas laut wird. Es ist gut für die eigene Psyche und für die der Demokratie.
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