Klaus Hart Brasilientexte

Aktuelle Berichte aus Brasilien – Politik, Kultur und Naturschutz

„Was uns hier anfangs als eine klassische und fürchterliche Geschichte von Gewalt, Intoleranz und Fremdenhaß vorgesetzt wurde, könnte gut diese alte und pathetische Geschichte der verrückt gewordenen Frau sein, die eine Schwangerschaft erfindet und sich selbst verletzt, um die Heirat zu erzwingen.“ Kommunikationswissenschaftlerin Sylvia Moretzsohn in einer medienkritischen Analyse des Falles Paula Oliveira, im renommierten „Observatorio da Imprensa“ von Sao Paulo.

http://brasilblog.net/panorama/5033/schweizer-neonazis-foltern-schwangere-brasilianerin/print/

http://www.hart-brasilientexte.de/2009/02/27/lateinamerikaner-haben-akzentuierte-auslanderfeindlichkeit-enthullt-studie-latino-americanos-tem-xenofobia-acentuada-revela-estudo-vielzitierter-bericht-von-qualitatszeitung-folha-de-sa/

Nach Einschätzungen brasilianischer Kommunikationsexperten haben wegen der Verletzung von journalistischen Grundsätzen im Falle der Paula Oliveira zahlreiche Medien, doch auch große brasilianische Leitartikler und „politisch korrekte“ Meinungsmacher einen erheblichen Glaubwürdigkeitsverlust sowie schmerzhafte Blamagen erlitten. Schon jetzt sei sicher, daß die Paula-Oliveira-Berichterstattung, jenes ganze Betroffenheitsgesülze,  in die Geschichte des Journalismus eingehen, in Kommunikations-Studiengängen behandelt werde. Manche Medien versuchen derzeit, auf eher infantile, lächerliche Weise zurückzurudern – zu spät.

Wie die brasilianische Kommunikationsexpertin Sylvia Moretzsohn weiter schreibt, habe man es  mit einer Geschichte gravierender journalistischer Verantwortungslosigkeit zu tun. Den Startschuß habe der in Brasilien sehr angesehene „Blog do Noblat“, eines Journalisten des Globo-Medienkonzerns, gegeben. Die wichtigsten Medien des Landes hätten die Noblat-Blog-Information automatisch, auf der selben Linie, weitergegeben. Der Außenminister habe sich daraufhin gegen etwas manifestiert, was ein klarer Akt des Fremdenhasses erschien, der Staatssekretär für Menschenrechte war vehement bei der Verurteilung jener Gewalt, der Präsident der Republik trat ebenfalls in Szene, um zu protestieren und die Regierung drohte damit, den Fall vor die UNO zu bringen. Parallel dazu, so Sylvia Moretzsohn, provozierte das Verhalten der Polizei und der Presse der Schweiz die Empörung der Autoritäten und der Medien Brasiliens.

http://brasilblog.net/kultur-medien/5089/brasilien-empoert-ueber-berichterstattung-in-europa-nach-nazi-folter/

Dabei hätten Polizei und Medien der Schweiz lediglich getan, was zu tun war – nämlich Informationen zu sammeln über Ermittlungen in „alle möglichen Richtungen“. Autoritäten und Medien Brasilien hätten indessen ein Gefühl des Nationalstolzes angestachelt, „verletzt durch arrogante und diskriminierende Europäer“. Gemäß der Kommunikationswissenschaftlerin wurden sehr objektive Fakten von Anfang an vernachlässigt. Die Schreibweise des eingeritzten „S“ auf dem Bauch der Frau, die Symmetrie der Zeichnungen, unwahrscheinlich für eine Gewaltsituation, in der das Opfer sich gewöhnlich wehre. Notwendig wäre zudem die Nachprüfung gewesen, ob es tatsächlich eine Fehlgeburt kurz nach jener Attacke gab. Doch die Journalisten hätten sich hinter die ganze Geschichte mit „patriotischer Empörung“ gestellt. „Jetzt betreiben sie Jongliererei, um die Spuren eigener Verantwortungslosigkeit auszutilgen.“ In der von dem angesehenen jüdischen Publizisten und Stefan-Zweig-Biographen Alberto Dines(er entlarvte den Bluff um das Kult-Buch „Brasilien – ein Land der Zukunft“ http://www.hart-brasilientexte.de/2008/02/21/stefan-zweig-und-judenhasser-getulio-vargas/  ) geleiteten Institution „Observatorio da Imprensa“ werden die Verstöße gegen journalistische Sorgfaltspflicht auch von anderen Fachleuten unter die Lupe genommen. Der Fall sei der größte Reinfall, die größte Blamage in der Geschichte des brasilianischen Journalismus – eine verantwortungslose Presse habe das Land mobilisiert, Paula Oliveira zur Märtyerin aufgebaut. Alberto Dines schrieb ironisch, bevor die Brasilianer auf die Straße gingen, um die militärische Invasion der Schweiz zu verlangen, sollten sie doch erst einmal die Klärung des ganzen Sachverhalts abwarten.

Manche Kritiker analysieren psychologisch – „wirre-verrückte“ Anklagen mancher Journalisten gegen Regierung und Volk der Schweiz seien der Beweis für niedriges Selbstwertgefühl und Minderwertigkeitskomplexe, für eine Art Haßliebe und viele Vorurteile gegenüber diesem Land.

Ein sehr angesehener brasilianischer Schriftsteller und Kolumnist aus Rio de Janeiro bekannte, nur durch Zufall nicht den größten Mist seiner Karriere gebaut zu haben. Er sei ebenfalls über die in den Medien beschriebene Attacke auf Paula Oliveira sehr empört gewesen, und daraufhin für die Sonnabendausgabe in einem Kommentar über Polizei und Presse der Schweiz übel hergezogen. In letzter Minute habe er indessen noch von der Wendung in dem Falle erfahren. Das sei für ihn ein Schock gewesen, da er  nach dem Beispiel des Staatspräsidenten, des Außenministers und der Konsulin in Zürich ebenfalls sehr aufgebracht gewesen sei. Der Schriftsteller meinte, mit Sicherheit werde der ganze Fall künftig  an den Journalistikfakultäten und in der Psychiatrie behandelt. Anders als beispielsweise in der Schweiz sind in Brasilien Politik und Medien sehr stark verquickt, sind viele Politiker Medienunternehmer. Der Anteil von Regierungs-und Staatsanzeigen ist um ein vielfaches – und geradezu überraschend - höher als in der Schweiz oder Deutschland, was zu offenkundigen Abhängigkeiten führt. Immer wieder ist zu hören, daß hohe Politiker bei großen Zeitungen sogar noch nachts anrufen, um die gewünschte Berichterstattung für den nächsten Tag zu erreichen.

http://www.hart-brasilientexte.de/2009/02/18/todesschwadronen-in-paula-oliveiras-teilstaat-pernambuco-sehr-aktiv-berichten-brasiliens-medien-heute-etwa-55000-morde-jahrlich-in-brasilien-weniger-als-zehn-prozent-aufgeklart-fehlende-effiziente/

http://www.hart-brasilientexte.de/2008/11/21/ein-stadtguerillheiro-todesschwadronen-und-pistoleiros-die-alltagliche-kriminalitat-verschont-auch-die-reichsten-nicht-2001/

http://www.hart-brasilientexte.de/2008/10/01/die-politische-wirrnis-in-brasilien-ist-von-shakespearscher-komplexitat-die-kommunalwahlen-lassen-sich-mit-einer-lotterie-gleichsetzen-tim-wegenast-professor-an-der-universitat-konstanz/

Nationalstolz: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/02/16/stolz-ein-brasilianer-zu-sein-grosaufschrift-an-brasilianischen-supermarkten/

Kultur-Blamage wegen Dirigent John Neschling: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/01/23/der-fall-john-neschling-brasiliens-neueste-kultur-blamage-pianist-nelson-freire-verurteilt-neschlings-entlassunger-hat-osesp-in-ein-orchester-der-ersten-welt-verwandelt-ich-hoffe-das-neschlin/

Dieser Beitrag wurde am Mittwoch, 18. Februar 2009 um 13:02 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Kultur, Politik abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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