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Padre Aecio Cordeiro, Padre Julio Lancelotti.
Auch für Sao Paulos Favela Cachoeirinhas gilt – man sieht nur, was man weiß. Bei Favela-Besuchen, Gesprächen mit den Bewohnern erschließt sich nur ein Teil der komplexen, widersprüchlichen Slumrealität. Padre Aecio Cordeiro da Silva dagegen kennt sie genau – er lebt hier und ist einer von Kardinal Scherers engsten Mitarbeitern. „Ich höre oft auch aus Deutschland – wozu noch Hilfe, die vielen Adveniat-Spenden, wo sich doch in den acht Jahren der Lula-Regierung alles in Brasilien so toll verbessert hat, es dem Land und seinen Menschen so gut geht, den Armen endlich einmal rundherum geholfen wurde? Ich antworte dann, geht mit offenen Augen durch Sao Paulo, schaut in die Favelas, in die überfüllten Gefängnisse! Dann begreift ihr, daß Brasilien von echten, signifikanten Verbesserungen noch sehr weit entfernt ist!“
Brasilien als siebtgrößte Wirtschaftsnation liegt auf dem UNO-Index für menschliche Entwicklung nur auf dem 84. Platz – was Bände spricht.
Padre Silva stimmt dem befreiungstheologischen Dominikaner Frei Betto zu, wonach derzeit noch über 30 Millionen Brasilianer in extremer Armut leben, betroffen von Elend und Hunger. „In Cachoeirinha ist die soziale Situation nur deshalb nicht gravierender, weil wir von der Kirche, unterstützt von Adveniat, die Bedürftigsten mit Grundnahrungsmitteln, mit Kleidung versorgen, bei den staatlichen Stellen uns für Bürgerrechte einsetzen. Cachoeirinha hat an die 70000 Bewohner – aber immer noch keine einzige Gesundheitseinrichtung.“ Mangelernährung schwächt das Immunsystem, macht anfällig für zahllose Krankheiten, selbst Tuberkulose und Lepra. „Ich sah Krebskranke, die im Bett dahinsiechten – auffallend viele Arme sind hier psychisch gestört“.
Die Gründe liegen auf der Hand: Elend, dauernde Existenzunsicherheit und Gewalt führen zu Dauerstreß, hoher nervlicher Anspannung – hinzu kommt das Fehlen jeglicher Privatsphäre, was viele Konflikte und Streitereien auch mit Nachbarn auslöst, weil buchstäblich jeder alles von allen mithört, mitbekommt.
Immer wieder brechen in Cachoeirinha Brände aus, greift das Feuer rasch auf viele aus leicht brennbarem Material errichtete Baracken über, verbrennen selbst Kinder lebendig. Im Winter Sao Paulos nähern sich die Temperaturen in den Favelas dem Nullpunkt, zünden die Verelendeten in ihren Katen nicht selten auf der festgestampften Erde Feuer an, um sich zu wärmen – eine der Brandursachen.
Für den Adveniat-Gottesdienst faßte São Paulos Erzdiözese verschiedene andere Slums ins Auge – die Herrschaft des organisierten Verbrechens war dort aber zu brutal, die Sicherheitslage nicht kalkulierbar. Auch in Cachoeirinha ist die Gewaltrate hoch, wird man als Favela-Fremder mehr oder weniger auffällig von Drogengangstern beäugt. Priester Aécio Cordeiro da Silva erklärt die delikate Situation:”Im nahen Gefängnis Franco da Rocha sind viele aus der Favela inhaftiert, die ohne unsere bischöfliche Gefangenenseelsorge keinerlei juristischen Beistand hätten. Dafür sind uns auch die Familienangehörigen sehr dankbar. Deshalb hat das organisierte Verbrechen hier Respekt vor der Kirche, haben wir mit den Gangstern bei unserer Arbeit nur wenig Probleme.”
Zwar gibt es öffentliche Schulen in der Nähe, sind die Klassen mit etwa 50 Kindern aber überfüllt, werden die Lehrer schlecht bezahlt. Cachoeirinha ist daher voller funktionaler Analphabeten, die zwar einigermaßen lesen können, aber selbst den Inhalt einfacher Texte nicht verstehen – daher nur minderwertige, schlecht bezahlte Arbeit bekommen. Auch dank Adveniat ist es gelungen, über Sozialprojekte wenigstens einen Teil der Mädchen und Jungen schulisch zu fördern – manche davon besuchen inzwischen sogar die Salesianer-Universität, schaffen so den Absprung aus der Favela. “Solche Bildungsförderung müßte in diesem reichen Land massenhaft geschehen – was wir von der Kirche aber alleine nicht leisten können”, betont Padre Silva.
In der City Sao Paulos, auf der von Banken gesäumten Avenida Paulista, fordern Demonstranten Gelder für die Bildung, statt für eine Fußball-Weltmeisterschaft. „Die Politiker wollen große, teure Bauten, wie dieses neue WM-Stadion in Sao Paulo, weil ihnen die Baufirmen dann ihre Wahlkampagnen finanzieren.“
Franziskanerbischof Cappio aus Bahia am Rio Sao Francisco mit Slumpriester Aecio Cordeiro da Silva in Sao Paulo.
Tags: Brasilien, Favelakinder, Sao Paulo
Crackkind in Sao Paulo – wie Kinder in Brasilien leben. Straßenkinder, Drogen-Kids, Kindersoldaten, Slumkinder…
Zeitungsausriß NZZ.
Wie in deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften die Situation interpretiert wird:
« „Gestaltungsmacht“ Brasilien: Erneut systemkritischer Journalist liquidiert. Nationale Journalistenvereinigung protestiert. „Reporter ohne Grenzen“ zur Pressefreiheit unter Lula-Rousseff. Bundesaußenminister Westerwelle besucht Rio de Janeiro. – Brasiliens Polizeistreiks für bessere Bezahlung angesichts hohen Lebensrisikos: Staat reagiert in Bahia und Rio de Janeiro mit Verhaftungen und Entlassungsdrohungen. 166 Morde während Streik in Salvador da Bahia, laut offiziellen Angaben. Morde an Polizisten in Brasilien häufig. »
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