Klaus Hart Brasilientexte

Aktuelle Berichte aus Brasilien – Politik, Kultur und Naturschutz

Rio+20. Sao Paulos folgenreiche Luftvergiftung und die Eliten. Herzspezialist Dr. Ubiratan de Paula Santos und Weltsozialforum-Erfinder Oded Grajew. Luftvergiftung beeinträchtigt Sexualität. Mehr Todesopfer als durch Aids und Verkehrsunfälle.

Der Landeanflug auf Lateinamerikas Wirtschafts-und Kulturmetropole Sao Paulo verstört besonders im  brasilianischen Winter nicht wenige Mitteleuropäer. Die Maschine, eben noch von Tropensonne umspielt, taucht häufig ganz plötzlich in die dichte, dreckige, braungelbe oder grauschwarze Smog-Glocke aus giftigen Abgasen und Feinstaub ein – nun gibt es kein Entrinnen mehr. Schon auf dem Airport beginnt leichtes Augenbrennen, sieht man es den Angestellten, später in Metro, Bus und Restaurant den übrigen „Paulistanos” an –  deren Haut ist sichtlich geschädigt.

http://wissen.dradio.de/megastadt-sao-paulo-macht-krank.37.de.html?dram:article_id=4122

http://www.hart-brasilientexte.de/2009/09/17/alkohol-sprit-vergiftet-luft-viel-starker-als-benzin-bei-flex-autos-laut-neuen-studien-achtmal-mehr-ozon-bildende-stoffe-ausgestosen-bio-sprit-ist-todes-spritfrei-betto/

luftgiftigspveja.JPG

Ausriß.

http://www.hart-brasilientexte.de/2009/05/04/virada-cultural-in-sao-paulo-brasiliens-lateinamerikas-vielseitigstes-interessantestes-kulturereignis-in-europa-schon-bemerkt/ (Protest gegen Luftvergiftung, Naturzerstörung auf Virada Cultural Sao Paulos 2009)

Die produktivste Metropole Südamerikas zählt zu den sechs Großstädten des Erdballs mit der gravierendsten Luftvergiftung. In der Muttermilch wurden Bleiwerte dreißigfach über den WHO-Empfehlungen gemessen. Im Großraum Sao Paulos leben rund 25 Millionen Menschen –  vor allem im City-Bereich und den angrenzenden Distrikten sind über vier Millionen PKW, LKW, Busse und Motorräder unterwegs, kommen täglich weitere 1100 Fahrzeuge hinzu. Der öffentliche Transport ist indessen nur armselig ausgebaut, ein Fahrradwegenetz fehlt völlig. Aus klimatischen Gründen ist der Wintersmog am gefährlichsten, sind die Intensivstationen der Krankenhäuser dann überfüllt, müssen die Hospitäler täglich etwa doppelt so viele Patienten wie im Rest des Jahres betreuen. Bei Dr. Ubiratan de Paula Santos in Brasiliens führender Herzklinik, dem Instituto do Coraçáo, ist Getriebe wie im Supermarkt. „Allein in der Notaufnahme zählen Tag für Tag zwanzig Prozent der Eingelieferten zu den Opfern dieser permanenten Luftvergiftung –  an extremen Smog-Tagen ist die Rate noch viel höher. Die Atemluft Sao Paulos bewirkt etwa zweihundert verschiedene Krankheiten, darunter Infarkt, Schlaganfall, Krebs und Asthma, verschlimmert Diabetes und Alzheimer, erhöht die Risiken für Lungenkrebs und Lungenentzündung.”  Die Kinder Sao Paulos, besonders die Kleinsten, bei denen die Lunge und die Bronchen noch schwach sind, leiden besonders unter der Luftvergiftung –  Stadtbewohner über 65 werden sehr häufig krank, müssen mehr Medikamente einnehmen, gibt es bei deren Klinikbehandlung mehr Komplikationen. „Herzrhythmusstörungen wegen dieser fürchterlichen Luft spürt hier jedermann an sich selbst.”

Dr. Ubiratan de Paula Santos betreibt neben der Klinikarbeit ständig Forschungsprojekte und hat festgestellt, wie der giftige Dauersmog sogar die Fruchtbarkeit und die Sexualität der Stadtbewohner beeinträchtigt: ”Die Luftvergiftung bewirkt auch genetische Veränderungen –  so werden die Reproduktionszellen des Mannes regelrecht attackiert, in Sao Paulo deshalb mehr Mädchen als Jungen geboren.” Zigarrettenrauch assoziiere man mit Impotenz –  die chemischen Bestandteile einer Zigarette und der Atemluft seien ähnlich. Da die giftige Luft den gesamten Organismus und auch die Psyche beeinträchtige, Depressionen auslöse, sei natürlich selbst die Sexualität betroffen.Der Herzspezialist wirkt resigniert, hat nur wenig Hoffnung, daß von den verantwortlichen Politikern Sao Paulos längst überfällige Schritte für eine gesunde Umwelt unternommen werden. „Wir haben es hier offenbar mit einer Gesellschaft zu tun, die Selbstmord begehen will. Und selbst, wenn die Autos bessere Auspuff-Filter hätten –  es sind einfach zuviele Fahrzeuge!” Die absurd dicht bebaute, wie ein Betonmeer wirkende Stadt erlebt zudem einen Boom bei Hochhäusern, wodurch noch mehr von knappem Grün vernichtet wird, noch mehr Verkehr entsteht.  „Es ist die reine Unvernunft.” Unglücklicherweise setzten sich partikulare Wirtschaftsinteressen durch, dominiere zudem die Autoindustrie, habe man öffentliche Verkehrsmittel noch nie gefördert. „Unser U-Bahn-Netz hat nur 60 Kilometer “ das viel kleinere Paris dagegen über zweihundert!”

In der Tat wurden besonder unter der Regierung von Lula und Dilma Rousseff die Interessen der Autoindustrie sehr gut bedient. Wie vor der WM von 2012 von Transportexperten konstatiert wurde, hat Sao Paulo inzwischen nur 71 Kilometer Metro, Mexiko;City dagegen ueber 200 Kilometer, Seoul fast 400 Kilometer, London 408 Kilometer. Es gibt weder Schnellbahnen wie etwa in Berlin, noch ein Radwegenetz, um den Verkehr mit PKW absolut zu bevorzugen. 

 Der Mediziner bestätigt, daß brasilianische Politiker bei ihren Auslandsbesuchen durchaus mit großem Interesse moderne, umweltgerechtere Verkehrslösungen von Berlin oder Zürich studieren – doch etwas davon in Sao Paulo zu übernehmen, kommt nicht in Frage. Die Straßenbahn Sao Paulos, früher eine wunderschöne Gartenstadt, hat man schon vor Jahrzehnten als Zeichen vor Rückschritt diffamiert und abgeschafft. Paulistanos verwundert daher bei Zürich-Besuchen, daß der „Bonde” dort noch fährt und sogar sehr beliebt ist.

herzsantos.JPG

Die Infarkthäufigkeit bei Brasilianern unter 55 liegt heute vierzig Prozent höher als in dieser Altersgruppe der entwickelten Länder –  nicht nur in Sao Paulo bewirkt dies auch der entnervende, streßfördernde Lärm. Verglichen damit, wirken viele europäische Städte geradezu friedhofsstill. Im Hinterland Sao Paulos sowie im Nordosten, so kritisiert Santos, werden regelmäßig die riesigen Zuckerrohrplantagen abgefackelt, was die Luft der dortigen Städte und Dörfer enorm vergiftet, ebenfalls zu zahlreichen Krankheiten führt.

Laut dem Mediziner Paulo Saldiva, der in der Bundesuniversität Sao Paulos das Laboratorium für Luftvergiftung leitet,  bewirkt die „Poluicao“ täglich als direkte Konsequenz den Tod von 12 Menschen. In Sao Paulo zu leben und deren Luft zu atmen, verringere die Lebenserwartung um anderthalb Jahre. Gemäß Laboratoriumsangaben verursacht die Luftvergiftung mehr Todesopfer als Aids und Verkehrsunfälle in Sao Paulo.

Dem jüdischen Unternehmer Oded Grajew, 64, der zum modernen Teil der brasilianischen Elite gerechnet wird, ist all dies wohl bewußt. Unweit der Herzklinik leitet er das von mehr als 1300 Privatfirmen getragene Ethos-Institut, hatte die Idee zum Weltsozialforum, organisierte alle bisherigen Foren mit. Grajew, in Tel Aviv geboren, war Berater von Staatschef Lula in dessen erstem Regierungsjahr 2003, verließ den Präsidentenpalast enttäuscht jedoch bereits nach elf Monaten, lange bevor dort der verheerende Korruptionsskandal um Parteien-und Politikerkauf losbrach. „Der Zustand Sao Paulos, ganz Brasiliens ist das Werk eines Teils unserer Elite “ das System hier ist einfach verfault”, diagnostiziert Grajew, der vor den brasilianischen Kommunalwahlen vom Oktober auch noch eine überparteiliche Bewegung namens „Movimento Nossa Sao Paulo” anführt, die den Kandidaten Vorschläge für soziale Gerechtigkeit und eine nachhaltige, umweltfreundliche Stadtpolitik macht. Typisch Grajew “ auf seine Initiative hin existiert nun ein ganzes landesweites Netzwerk solcher Stadt-Movimentos. Indessen sei schwerlich eine Person guten Willens zu finden, die heutzutage direkt in die Politik, in eine politische Partei gehe – den demokratischen Institutionen fehle zunehmend Glaubwürdigkeit.  ”Brasiliens Steuerbelastung liegt auf dem Niveau der ersten Welt “ doch was die Bevölkerung an öffentlichen Leistungen zurückerhält, ist fünftklassig! Siehe die Luftqualität.” Bereits 2002 habe der staatliche Umweltrat beschlossen, den sehr hohen, geradezu tödlichen Schwefelgehalt im Dieseltreibstoff stark abzusenken “ doch bis heute sei dies nicht geschehen. Die Gesundheitsschäden verursachten immerhin  Kosten in Milliardenhöhe. ”Brasiliens gesellschaftliches Klima ist derzeit von Apathie und Hoffnungslosigkeit geprägt “ das ist die Wahrheit “ und wir wollen dies ändern.” Grajew meint, sein Movimento-Programm müsse für Schweizer, Deutsche absurd klingen, schwerlich vermittelbar sein. Denn es heiße „Gesetze einhalten”.  Komplexe, weitreichende Gesetze würden einfach nicht respektiert. Grajew spricht von einer tief gespaltenen Landeselite. Ein Teil, der sich regelrecht für die Zustände schäme, stelle sich klar gegen den Rest. „Ich arbeite daran, den ersteren gegen den anderen zu stärken.” Für moderne Eliteangehörige, darunter viele Unternehmer, gibt es in diesem Kampf eine sehr persönliche Motivation “ den schmerzhaften Verlust der eigenen Kinder. Ein beträchtlicher Teil wohnt in Europa, den USA und Australien, verspürt Ekel vor der politischen Klasse Brasiliens. Grajew kennt das Problem aus dem eigenen Freundeskreis. „Deren Kinder gehen nicht etwa weg, weil sie den Alpenschnee so mögen “ die wollen einfach in einem anderen gesellschaftlichen Klima leben.”

2012 führte zu öffentlichen Diskussionen, daß die Dauerstaus auf den Fernstraßen zu den Stränden bei Sao Paulo ständig zunähmen, die Fahrt statt der früher ein bis zwei Stunden inzwischen bis zu sieben Stunden dauere. Von nicht wenigen Brasilianern wird dies auf die unter Lula-Rousseff verfolgte Verkehrspolitik zurückgeführt, die zwecks Begünstigung der Automultis den ökologischen, preisgünstigen Schienen-Nahverkehr, der der Bevölkerungsmehrheit dienen würde,   zielgerichtet benachteilige. In den Informationsradios wurde 2012 von Brasilianern  auf den Bahn-und S-Bahn-Verkehr in Mitteleuropa als nachahmenswertes Beispiel verwiesen. Hätte Brasilien ein solches Verkehrssystem, käme es nicht zu den immer absurderen Staus, die mit enormer Luftvergiftung, viel höherem Kraftstoffverbrauch und Streß verbunden seien. Indessen existierte bereits ein relativ gut ausgebautes Schienennetz in Brasilien, konnte man sogar von Sao Paulo mit dem Zug an die Küste fahren, gab es Bahnstrecken entlang der Küste. Jedoch wurden diese Zugverbindungen von interessierter Seite aus den bekannten Gründen gestoppt, zerstört. In diesem Zusammenhang werden stets Lulas sehr gute Beziehungen zu den Automultis betont.

  http://www.hart-brasilientexte.de/2008/08/05/bye-bye-brasil-weltsozialforum-erfinder-oded-grajew-aus-sao-paulo-zum-massenexodus-von-brasilianern-in-die-erste-welt/

“Wenn Umweltschützer den Umweltschutz sabotieren – die meisten NGOs haben ihre Seele verloren”:

“Die meisten NGOs haben ihre Seele verloren, den Geist ihrer Gründer, die die Natur liebten. Heute sind diese Umweltorganisationen vergiftet mit städtisch geprägten Ökonomen, Soziologen, Anthropologen, denen der emotionale Bezug zur Natur fehlt. Und wenn es in den NGOs Leute gibt, die sich mit der Sache nicht identifizieren, öffnet sich der Weg für Korruption, schützt man Umweltanliegen vor, um persönliche Interessen zu bedienen.

In Brasilien kommt als großes Problem hinzu, dass die Zahl der wirklich aktiven, eingeschriebenen Mitglieder stets nur bei einigen hundert bis einigen tausend liegt – in so einem Riesenland! Nur zu oft sind es Grüppchen, die viel Lärm machen, um Gelder zu erhalten. Die britische Vogelschutzvereinigung beispielsweise hat dagegen über eine Million feste Mitglieder.”

http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/wissenschaft/1897202/

Dieser Beitrag wurde am Montag, 13. Oktober 2008 um 17:54 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Kultur, Politik abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

«  –  »

28 Kommentare

Noch keine Kommentare

Die Kommentarfunktion ist zur Zeit leider deaktiviert.

    NEU: Fotoserie Gesichter Brasiliens

    Fotostrecken Wasserfälle Iguacu und Karneval 2008

    23' K23

interessante Links

Seiten

Ressorts

Suchen


RSS-Feeds

Verwaltung

 

© Klaus Hart – Powered by WordPress – Design: Vlad (aka Perun)