Klaus Hart Brasilientexte

Aktuelle Berichte aus Brasilien – Politik, Kultur und Naturschutz

Brasiliens jüdischer Unternehmer Oded Grajew – er hatte die Idee des Weltsozialforums – und die Rolle der Machteliten des Tropenlandes. Grajew verließ Lulas Arbeiterpartei.

 Link zur Studie von Oded Grajew

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Oded Grajew, 64, geboren in Tel Aviv, Präsident des „Instituto Ethos“ in Sao Paulo, Führungsmitglied des „Movimento Nossa Sao Paulo“, Lula-Kritiker, enger Freund und Companheiro des katholischen Menschenrechtsaktivisten Chico Whitaker, der Träger des Alternativen Nobelpreises ist.

Weltsozialforum-Erfinder, Elitemitglied Oded Grajew, eine freie Stimme der freien Welt.  Der jüdische Ex-Berater Lulas über die vielgelobte Demokratie Brasiliens, Wahlen, Korruption, Atomkraft, Amazonien, Automultis, die brasilianische Elite.„Die brasilianischen Politiker sind heute enorm in Mißkredit”, sagt der jüdische Unternehmer und Leiter des Ethos-Instituts in Sao Paulo im Exklusivinterview gegenüber dieser Website. „Heute findet man schwerlich jemanden guten Willens, der in die Politik, in eine politische Partei geht. Die Glaubwürdigkeit des politischen Systems, von demokratischen Institutionen, Parlament, Justiz hat stark abgenommen. Besorgniserregend, wenn die Menschen weder in Politiker, Justiz, Parlament, Exekutive vertrauen. Die Brasilianer sehen die Politiker als Leute, die aus purem Eigeninteresse handeln –  daß es viel Korruption gibt und daß die Politiker lediglich „oben” sitzen, um zu rauben, zu stehlen, sich Gelder anzueignen. Deshalb sind ja auch die öffentlichen Dienste von niedrigster Qualität –  daher nutzt jeder, der etwas Geld hat, keinerlei öffentliche Dienstleistungen, ob Gesundheit, Bildung, öffentlicher Transport, öffentliche Sicherheit. Bestimmte ökonomische Machthaber, bestimmte Wirtschaftsinteressen haben sich des politischen Systems bemächtigt, finanzieren die Wahlkampagnen. Und fast alle Politiker dienen treu den Finanziers ihrer Wahlkämpfe –  denn ohne diese Finanziers würden sie nicht gewählt. Also wird die Hälfte des Mandats benutzt, um jenen Geldgebern nützlich zu sein –  denn wer Mittel lockermacht, will dafür Gegenleistungen. Und die andere Hälfte des Mandats sorgen sich die Politiker um die Finanzierung des nächsten Wahlkampfes. Noch besorgniserregender ist, daß mir kein Unternehmer bekannt ist, der als Finanzier genannt werden will. Denn 70 bis 90 Prozent der Gelder sind illegal, aus schwarzen Kassen, stammen aus illegalen bzw. kriminellen Aktivitäten. Und dies heißt: die Betreiber illegaler Aktivitäten haben heute ihre Repräsentanten im politischen System. In Amazonien nimmt stets vor Wahlen die Abholzung zu. Denn die Abholzer finanzieren  schließlich die Wahlkämpfe der Politiker. Und wer sich mit den Abholzern anlegt, hat dann eben kein Geld für die Kampagne. Nach einer Wahl werden in Brasilien alle Leute gewechselt, alle Posten der sogenannten politischen Vertrauensstellungen neu besetzt, selbst bei gleicher fortregierender Partei. Indessen bekommt man einen Posten nicht etwa wegen eigener Spezialkompetenz “ sondern nur, weil die eigene Partei zur Regierung gehört. Andere Verteilungskriterien sind familiärer Art –  Freunde, Verwandte, Wahlhelfer werden bedacht. Und daher funktionieren dann eben die öffentlichen Dienste nicht. Brasiliens Steuerlast ist auf dem Niveau der ersten Welt, doch was die Bevölkerung davon zurückerhält, ist fünftklassig. Siehe die Luftqualität. Bereits 2002 hat der staatliche Umweltrat bestimmt, den sehr hohen, tödlichen Schwefelgehalt im brasilianischen Diesel stark abzusenken, wenngleich immer noch nicht auf das viel niedrigere Niveau Europas. Doch Brasiliens nationale Petroleumagentur, die die entsprechenden Regelungen definieren müßte, hat dies auf Druck der Autoindustrie, darunter Mercedes-Benz und Volkswagen, sowie des Petrobras-Konzerns einfach nicht getan. Also haben wir vom Movimento Nossa Sao Paulo jetzt Druck gemacht “ in drei Wochen mußte die Petroleumagentur tun, was sie in fünf Jahren nicht zustandebrachte! Jetzt muß alles noch in Kraft treten “ falls nicht, wird das auch auf internationaler Ebene Konsequenzen haben: Wir werden das in Deutschland, in Schweden bekanntmachen, vor Gericht ziehen. Schließlich verursachen die angerichteten Gesundheitsschäden Kosten in Milliardenhöhe.”Im Jahre 2000 sagte Grajew, die Elite ändere sich. „Ich denke immer noch so “ wenngleich sich die Elite längst nicht in der nötigen Schnelligkeit verändert. Unser Movimento, das von 32 Unternehmen getragen wird,  will keineswegs etwa nur bestimmte soziale Aktivitäten unterstützen, etwa einen Kindergarten “ wir sind eine politische Bewegung und wollen das politische System verändern. Es gibt Leute aus der Elite, die sich bei uns engagieren “ sich in dieser Diesel-Schwefel-Frage mit der Ölindustrie, der Autoindustrie anlegen. Es gab bereits Movimentos, um bestimmte korrupte Leute aus der Politik zu entfernen “ und Leute der wirtschaftlichen, intellektuellen, sozialen Elite waren daran beteiligt. Es müßte alles schneller gehen “ und dafür arbeite ich hier. Fortschritte gibt es durchaus. Aber wir brauchen schnellere Fortschritte auch, um Schlimmeres verhüten zu können, ob bei Klima oder Nachhaltigkeit.” Wie ist zu erklären, daß Brasiliens Elite zwar häufig in der ersten Welt weilt, dort aufmerksam interessante Unterschiede zur Kenntnis nimmt, jedoch überhaupt nicht daran denkt, moderne, fortschrittliche Lösungen zu kopieren, in Brasilien zu übernehmen? Nicht einmal der Straßenbahnverkehr, die Radwege wie in der Schweiz oder Deutschland werden übernommen, entsprechende Forderungen der brasilianischen Öffentlichkeit ignoriert, abgeschmettert. „Ein großer Teil der brasilianischen Elite hält sich entfremdet, anstatt die eigene Macht für positive Veränderungen zu gebrauchen. Und genau diese Leute will ich beeinflussen, mobilisieren. In Wahrheit weiß ich nicht, ob diese Leute sich ändern. Und ich weiß auch nicht, was künftig in Brasilien geschehen wird. Ich versuche jedenfalls, Dinge in Gang zu bringen.”Gesellschaftliche Apathie, Lethargie, starker Individualismus, Schwächung der Sozialbewegungen “ all dies wird in den Medien heftig kritisiert.„Die Idee unseres Movimento ist, in einer der größten Städte der Welt zu zeigen, daß es anders gehen könnte. Wir wollen Beispiele schaffen “ denn was zählt, ist das Beispiel. Damit wollen wir ganz Brasilien anstecken. Wir haben bereits ein landesweites, ein Lateinamerika-weites Netzwerk geschaffen. Apathie, Hoffnungslosigkeit “ das ist die Wahrheit, wir wollen das ändern. Viele Organisationen, NGO haben auf die Regierung gesetzt “ erfolglos, ohne Resultat. Viele NGO wissen nicht, sich zu artikulieren, haben Finanzprobleme. Und viele Organisationen werden von Menschen geleitet, die gleichzeitig ums eigene Überleben kämpfen müssen, die arbeiten und erschöpft sind. Das erschwert den Aufbau von Netzwerken. Heute haben wir hier gerade über Deutschland, über Bundeskanzlerin Angela Merkel geredet “ sie kam 2008 lediglich nach Brasilien, um hier das Atomkraftwerk Angra 3 zu verkaufen. Ja, nur deshalb. Was geschah? Da die Regierenden eben Geiseln der Finanziers ihrer Wahlkampagnen sind, wurde halt akzeptiert, das AKW Angra 3 zu bauen. Denn da fließt viel Geld, gibt es viele Baustellen, sind viele Firmen beteiligt. Doch für mich ist das ein Verbrechen! Hier verdealt man Angra 3 “ doch in Deutschland treibt man die Atomkraft nicht weiter voran! Und für mich ist auch ein Verbrechen, daß die deutsche Autoindustrie in den unterentwickelten Ländern schlechtere Autos baut. Diese deutsche Autoindustrie ist daher für vieles Negative hier verantwortlich.  Angela Merkel würde nicht in Rio, Sao Paulo oder Angra leben wollen “ sie sieht ja schließlich die hiesigen Risiken! Brasilia akzeptiert den Bau eines weiteren AKW, obwohl hier so viele andere Energieressourcen existieren. Und Brasilia akzeptiert auch, daß die Auutomultis hier Wagen schlechterer Qualität produzieren, stellt dieser Industrie sogar öffentliche Mittel zur Verfügung “ von der staatlichen Entwicklungsbank. Das ist doch sehr interessant! Millionen gehen an diese Industrie, werden indessen nicht in den öffentlichen Transport investiert. Wir denken nicht, daß eine andere Regierung es anders machen würde “ das System hier ist einfach verfault. Bestimmte große Politiker Brasiliens wären anderswo im Gefängnis. Daher wollen wir dieses System hier verändern, das von einem Teil der Elite geschaffen wurde. Ein anderer Teil der Elite sieht sich dadurch geschädigt. Ich kenne viele Unternehmen, die nicht an öffentlichen Ausschreibungen teilnehmen, um sich nicht an Korruption beteiligen, mitkorrumpieren zu müssen. Diese Unternehmen wollen nicht korrupt werden “ und verlieren deshalb gute Geschäfte. Ein andereres Problem: Hier konkurriert man als Firma mit Unternehmen, die keine Steuern zahlen, illegal tätig sind, Sklavenarbeit nutzen “ das ist unlauterer Wettbewerb. Ethisch agierende Firmen sind also durch dieses System hier geschädigt. Unser Movimento hat ein absurd klingendes Programm: Gesetze einhalten! Schweizern, Deutschen ist dies sicherlich nicht zu vermitteln. Aber hier werden eben wichtige, komplexe Gesetze einfach nicht respektiert. Das ist unsere Realität.”Oded Grajew, sind sie noch Mitglied der Arbeiterpartei Lulas?„ Nein, ich bin längst ausgetreten. Als Korruptionsfälle wie der Mensalao ans Licht kamen, gab es eine parteiinterne Wahl. Bei dieser wurde ausgerechnet die alte Führung unter Berzoini wiedergewählt “ das hieß also, alles okay, alles in bester Ordnung. Da bin ich sofort raus aus der Arbeiterpartei, zu derartigem will ich nicht gehören. Das war etwa 2005, noch bevor mein Freund Chico Whitaker ebenfalls austrat.”Wie ist zu erklären, daß auch unter Lula das öffentliche Bildungssystem so schlecht ist?„Die Mehrheit unserers Volkes hat keine Bildung, da das Schulsystem ein sehr niedriges Niveau besitzt. Es ist ein Projekt des reaktionären Teils der Elite, dieses Volk nicht zu bilden, es nur auszubeuten. Ja, es handelt sich um ein regelrechtes politisches Projekt. Denn ein gebildetes Volk würde soziale Forderungen stellen, würde kontrollieren, aufpassen. Ein anderer Eliteteil indessen engagiert sich für bessere Bildung.” Der deutschstämmige Kardinal Aloisio Lorscheider sagte, die Herrschenden, zynisch und skrupellos agierende Clans, seien nicht gewillt, Macht und Privilegien abzutreten. Deshalb werde das Volk ganz bewußt dumm gehalten, da es dann leichter manipulierbar sei. Ungebildete, Analphabeten, so der Kardinal, „wissen nicht, wie sie sich in der heutigen Welt bewegen sollen. Sie kennen ihre Rechte nicht und fordern sie auch nicht ein. Sie lassen sich fatalistisch treiben, sie verbinden sich nicht mit anderen, sie organisieren sich nicht.” Grajew:”Genauso ist es, Lorscheider hat Recht. Dieser Teil der Elite, der Kampagnenfinanzierung mit Privatinteressen verquickt, hat als politisches Projekt, das Volk nicht zu bilden, will es manipulieren. Denn ein gebildetes Volk würde die Dinge hier nicht in diesem Zustand lassen, würde bestimmte Politiker einfach nicht wählen, würde die Einhaltung der Gesetze fordern “ und wäre nicht so passiv! Ein Teil der Elite leidet unter einem ungebildeten Volk “ selbst aus ureigenstem Interesse. Denn Ungebildete arbeiten sehr schlecht. Brasiliens Elite ist gespalten “ Ein Eliteteil wendet sich gegen den anderen. Ich arbeite dafür, den fortschrittlichen Teil zu stärken.”

http://www.hart-brasilientexte.de/2008/10/13/sao-paulos-folgenreiche-luftvergiftung-und-die-eliten-herzspezialist-dr-ubiratan-de-paula-santos-und-weltsozialforum-erfinder-oded-grajew-sexualitat-durch-luftvergiftung-betroffen/

Dieser Beitrag wurde am Donnerstag, 24. Juli 2008 um 16:43 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Kultur, Politik abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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