Musiker Dori Caymmi: Brasiliens Kultur verarmt generell
Würde Deutschlands Kulturstaatsminister die klassische Musik, das reiche musikalische Erbe links liegenlassen, oder schlimmer noch, boykottieren, wäre er vermutlich binnen kurzem geliefert, seinen Posten los. Und wäre er ein gewiefter schwerreicher Musikunternehmer, mit einschlägigen Interessen in der Popbranche, hätte er aller Wahrscheinlichkeit nach in einem recht zivilisierten Land wie Deutschland den Posten gar nicht bekommen.In Brasilien, der immerhin zehntgrößten Wirtschaftsnation, die nach wie vor von extremen neoliberalen Sozialkontrasten, Analphabetismus, gravierenden Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Sklavenarbeit und neofeudalem Terror der Banditenmilizen gegen Slumbewohner, über 50000 Morden jährlich gezeichnet ist, gehen indessen auch im Kulturbereich die Uhren völlig anders. Entgegen den Warnungen zahlreicher Intellektueller und Künstler ernannte Bankiersliebling Lula vor vier Jahren den Popmusikmillionär Gilberto Gil, gelernter Firmenadministrator vom Multi Gessy-Lever, Popunternehmer und PR-Talent, zu seinem Kulturminister – selbst in deutschen Medien wurde das beklatscht.
17.4. 2016, US-Hinterhof Brasilien – Pro-Impeachment-Kundgebung auf der Avenida Paulista in Sao Paulo.Daß Eduardo Cunha die Abstimmung im Abgeordnetenhaus leitet, degradiert nach Ansicht vieler Brasilianer das Land zur Bananenrepublik. Unter Lula-Rousseff wurde Brasilien weiter spürbar u.a. soziokulturell amerikanisiert – Brasilien und die USA haben u.a. ein Gewalt-Gesellschaftsmodell als auffällige Gemeinsamkeit.
Die Kritiker in Brasilien verwiesen auf Gils traditionell enge, freundschaftliche Kontakte zu rechtsextremen Diktaturaktivisten wie Bahias Ex-Gouverneur Antonio Carlos Magalhaes. Oder auch auf Gils aktive Unterstützung für Staatschef Lulas Amtsvorgänger Fernando Henrique Cardoso, gemäß internationalen Tribunalen politisch hauptverantwortlich für Massaker an Landlosen sowie andere barbarische Menschenrechtsverletzungen. Gil wird vorgeworfen, zu all dem geschwiegen zu haben – als typischer Opportunist, der für seine teils von der eigenen Frau geleiteten Firmen ja bereits viele Millionen Staatsknete, Subventionen eingesackt habe.
–„geringes“ Ministergehalt—
Gleich zu Beginn der Amtszeit regte sich Gil über das „geringe“ Ministergehalt auf, was selbst in seinem Heimatteilstaat Bahia Schlagzeilen machte. Das Salär betrug immerhin das Vierzigfache des damaligen brasilianischen Mindestlohns.
Gil – privat drei Ehen, sieben Kinder – ist ohne Zweifel ein talentierter Musiker, Komponist und Sänger – nicht wenige in Brasilien hören dessen Hits heute jedoch nur noch mit zwiespältigen Gefühlen, angesichts seiner Ministerbilanz. In vierjähriger Amtszeit wurde die Kultur des Tropenlandes weiter „entbrasilianisiert“, wurden die kommerziellen Megatrends der internationalen Musikkonzerne, darunter Rap, auch extrem sadistischer Gangsta-Rap, Hiphop und Reggae, indessen spürbar favorisiert. Beispiel Karneval in Rio 2008: Noch vor wenigen Jahren kannte fast jedermann die neuesten Karnevalssambas, sang sie bei der berühmten Parade mit, tanzte dazu. Vorbei. Heute wird die Parade von den allermeisten konsumiert wie ein Konzert mit Folklore vergangener Zeiten. In den Diskotheken an der Paradestrecke wird Rap und HipHop aufgelegt, stört bereits viele der Samba von draußen. ”Gilberto Gil möchte den HipHop als Ausdrucksform Jugendlicher in den Slums gesellschaftlich akzeptabel und massentauglich machen”, heißt es in einer deutschen Zeitschrift. Auch zum Schaden der mehreren Dutzend Sinfonieorchester des Tropenlandes, überhaupt der genuinen brasilianischen Musik, wie ihm seine Kritiker vorwerfen. Nach mehreren Jahren Gil-Amtszeit ist Brasilien noch weniger Sambaland, Bossa-Nova-Land als zuvor: Deutlich weniger Brasilianer hören, spielen Samba – und schlimmer noch – viel weniger können ihn überhaupt tanzen. Sambaschwoofs waren noch in den siebziger, achtziger Jahren ein kulturelles Massenphänomen des Nachtlebens der Großstädte und des Hinterlands. Heute sind die Chancen, irgendwo Samba, Bolero oder Forrò tanzen zu können, in Brasilien stark geschrumpft, nur eine ständig geringer werdende Minderheit kann überhaupt noch die Schritte. Außergewöhnliche Tanzprofessoren wie Jaime Aroxa oder Philip Miha halten, so verrückt es scheint, mit enormem Kraftaufwand mühselig am Leben, was vielen in Europa als typisch brasilianisch gilt.
Zouk-Experte Philip Miha in Sao Paulo:“Wir bekommen keinerlei kulturelle Förderung – es gibt dafür bei denen oben einfach kein Interesse, Null, nichts. Alles lebt nur von unserem Idealismus. Die Zahl jener, die in Brasilien überhaupt noch tanzen können, ist trotz stark gewachsener Bevölkerungszahl nicht größer geworden, sondern kleiner.“ Danke, Gil.
Beliebtes brasilianisches T-Shirt.
–Immer weniger Sambaland—
Auf den Sambaschwoofs nahm niemand Drogen, kam es nie zu brutalen Schlägereien. Jetzt erlebt Brasilien einen Boom von Raves, auf denen auch deutsche DJs auflegen. Drogen aller Art werden dort massenhaft konsumiert, die Raves schufen einen neuen, zusätzlichen Rauschgiftmarkt – oder wurden extra dafür geschaffen. Massenschlägereien mit Toten, Schwerverletzten machen regelmäßig Schlagzeilen. Von den „Bailes Funk“ mit sexistischen, sadistischen Raps ganz zu schweigen.
Im Dezember 2006 ließ sich Gil in der Megacity Sao Paulo überraschend auf dem ersten Seminar der brasilianischen Sinfonieorchester blicken, die fast durchweg mit enormen existentiellen Problemen zu kämpfen haben und deshalb in dem riesigen Drittweltland auf Vorschlag von John Neschling einen nationalen Orchesterverband gründeten. Minister Gil schlug bei seinem Kurzauftritt unverhohlene Kritik und Skepsis entgegen. Die hatte zuvor bereits Dirigent John Neschling auf den Punkt gebracht, der in Sao Paulo seit 1997 Lateinamerikas bestes Sinfonieorchester leitet. Sein Orchestra Sinfonica do Estado de Sao Paulo(OSESP) ist heute für Brasiliens Kulturszene so wichtig wie die Berliner Philharmoniker oder das Gewandhausorchester Leipzig für Deutschland. Zahlreiche CDs, die Neschling mit dem OSESP für das Label BIS aufnahm, stehen auch in deutschen Geschäften.
“Ich finde, daß unser Kulturminister heute nicht besonders famos die brasilianische Kultur vertritt. Wenn man sich anschaut, was 2005 im Brasilienjahr Frankreichs gezeigt wurde, ist man nicht gerade angetan. Sehr viel der brasilianischen Kultur und Kunst wurde nicht in Frankreich gezeigt. Wir machen unsere Arbeit hier so gut wie möglich – ich glaube nicht, daß sie von unserem Kulturminister sehr geschätzt wird. Er hat ja keinen Bezug zur klassischen Musik. Und selbst als Musiker nicht, hat sich auch sehr wenig dafür eingesetzt. Er ist ein großer Popmusiker, ein Star in der Welt der Popmusik, betreibt als Minister just jene Kultur, die er für gut hält. Und als ich gesehen habe, daß es so ist, habe ich gesagt, wir machen unseren Weg alleine, ohne Kulturministerium. Wir wollen einfach zeigen, daß in Brasilien die Möglichkeit besteht, ein ganz erstklassiges Welt-Sinfonieorchester zu führen, daß wir ein Publikum dafür haben. Und gute Musik, die hier komponiert wurde vom 18. Jahrhundert an bis heute: Von 1708 an gibts brasilianische Musik, die erstklassig ist.“
Das Brasilien-Jahr in Frankreich hatte nicht zufällig den ironischen Beinamen „Ano do BraGil na França“
–Protokoll, Monolog, umstrittene Copa der Kulturen—
Gerade kam Neschling mit dem OSESP von seiner zweiten umjubelten USA-Tournee zurück, erntete hervorragende Kritiken. Im März 2007 führte eine große Europatournee auch nach Deutschland. Alles einmalig für ein lateinamerikanisches Orchester. Die internationale Anerkennung ist da, Minister Gil kommt um diesen gewichtigen brasilianischen Kulturbotschafter aus Sao Paulo nicht mehr herum. Auf dem Orchesterseminar las Gil vom Blatt sogar etwas Selbstkritik ab, die nicht nur für Deutschlands Klassik-Experten, gar Kulturstaatsminister Neumann, kurios und exotisch klingen dürfte. “Vor vier Jahren hatten wir keine Politik für die klassische Musik – und bis heute sind wir in diesem Bereich nur sehr wenig vorangekommen. Ja, wir müssen den Forderungen der Sinfonieorchester Aufmerksamkeit schenken, denn ohne Zweifel haben viele von ihnen derzeit große Probleme. Der Staat muß den Orchestern helfen, das Kulturministerium ist sich der Dringlichkeit bewußt. Eine systematische Orchesterpolitik ist nötig. Und hoffentlich wird dieses Seminar unseren Dialog verbessern. Die Orchester müssen zugänglich sein für alle, die ihre musikalische Sensibilität kultivieren wollen.“ Kurz darauf stand er auf und verließ mit seinen Beratern den Saal.
Unverständnis, Kritik daher auch bei bei dem Dirigenten Ricardo Rocha aus Rio de Janeiro, der seine Ausbildung in Deutschland gemacht hatte. Rocha sagte, der Minister habe bei der Copa der Kulturen, dem umstrittenen brasilianischen Kulturprogramm anläßlich der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland, viel kommerziellen Mist gezeigt, unerträgliche Brasilienklischees gefördert, statt beispielsweise auch Hochkarätiges aus dem Bereich der brasilianischen Klassik zu präsentieren.
“Gil fehlt dafür Interesse – er hat nichts gemacht. Wo sind die Leute vom Kulturminister jetzt? Sie sind weggegangen. Er hätte vielleicht einen Repräsentanten hierlassen müssen. Es gibt niemand mehr – das ist die Realität. Nur Protokoll, Monolog, aus. Für die Copa der Kulturen haben wir ein riesiges Projekt entworfen und ans Ministerium geschickt. Erfolglos. Brasilien wurde repräsentiert mit Populärmusik, die lediglich für einen Teil unserer Kultur steht. Soviele Klischees, soviel Mist – ich kann das nicht mehr ertragen. Das repräsentiert uns nicht. Brasilien ist nicht nur das. Sie machen einfach nichts.“
Bei der Copa der Kulturen, die kurioserweise Brasiliens populärstes Genre, nämlich Sertaneja, ausschloß, wurden auch im Berliner Haus der Kulturen der Welt einige große Namen wie Chico Buarque präsentiert – Kritik richtete sich vor allem gegen Figuren aus der einschlägig bekannten DJ-und Baile-Funk-Szene Brasiliens.
–Kein Musikunterricht an Brasiliens Schulen—fatale Folgen für Musikszene-
Während der Diktaturzeit wurde in Brasilien auch der Musikunterricht an den Schulen abgeschafft. 1985 endete das Militärregime, doch bis heute wurde das vergleichsweise gute Vor-Diktatur-Niveau an den öffentlichen Schulen nicht wieder erreicht, wurde auch der Musikunterricht nicht wieder eingeführt – trotz permanenter Forderungen von Musikexperten, Psychologen, Soziologen, die natürlich auf das Vorbild mitteleuropäischer Länder verweisen.
Selbst Bischöfe, Kardinäle argumentieren, ein niedriges Bildungsniveau sei beabsichtigt, weil man dadurch die Menschen besser manipulieren könne.
Die Folgen solcher Starrköpfigkeit und Verantwortungslosigkeit Brasilias sind zunehmend fataler: Kinder, Jugendliche ohne Stimmschulung durch Musiklehrer singen entsetzlich falsch und merken es nicht. Keineswegs ungewöhnlich, Heranwachsende zu treffen, die auf total verstimmten Gitarren spielen und dazu auch noch völlig schräge singen. Haben alle im Tropenland dennoch das berühmte brasilianische Rhythmusgefühl? Keineswegs, man merkts auch auf den Sambaschwoofs. Gil interessiert all derartiges nicht – obwohl Musiker, hat er den dringend nötigen Musikunterricht nicht durchgesetzt.
Triste für Dirigent John Neschling, daß aufgrund solcher Kulturpolitik gute brasilianische Konzertmusiker kaum noch zu bekommen sind. Wenn sich nichts ändere, gebe es in zehn Jahren in seinem Orchester keine exzellenten Musiker des eigenen Landes mehr, da die entsprechende Ausbildung im Argen liege. „In den letzten zehn Jahren wurde kein Orchestermusiker bei uns eingestellt, der direkt von Universitäten oder Musikschulen kam. Alle hatten zwar hier studiert, danach aber zur weiteren Ausbildung ins Ausland gehen müssen. Hier in Brasilien läuft alles falsch. Man kann eben nicht einfach ins Musikfach überwechseln, nur weil man beispielsweise keinen Medizin-Studienplatz bekam. Man kann nicht erst an der Universität anfangen, Musik zu studieren, nicht erst mit achtzehn Jahren Violine lernen – das ist natürlich viel zu spät!“
Ein Nebeneffekt – manche Sinfonieorchester spielen deutlich falsch, was indessen kaum einer, mangels geschulten Gehörs, merkt.
–Klassische Musik – Wegwerfmusik—
Ohne guten Musikunterricht keine Grundkenntnisse über klassische Musik, kein von klein an gefördertes Interesse daran, keine musikalische Sensibilität, kein Sinn für Echtes, für Qualität. Und dadurch mehr Anfälligkeit für billigste Wegwerfmusik, wie vom Musikbusiness gewollt. Das gilt auch für Deutschland.
Achtzig Prozent des Publikums von Neschlings OSESP sind älter als fünfzig Jahre. 75 von 100 Personen aus der relativ hochgebildeten Mittel-und Oberschicht Brasiliens waren noch nie in einem Konzert mit klassischer Musik. Bei den unteren Schichten sind es 93 bis 96 von 100. Qualitätszeitungen wie „ O Estado de Sao Paulo“ betonen, daß nach vier Jahren Gil die klassische Musik in seinem Ministerium eine Lücke, ein schwarzes Loch sei. Das Ministerium privilegiere indessen musikalische Sektoren, die kommerziell nutzbar seien. Das Blatt lobt just das staatlich finanzierte „Sistema“ im Venezuela von Hugo Chavez als beispielhaft, das bereits hunderttausende Kinder an die klassische Musik herangeführt habe. 15000 Lehrer arbeiteten in Venezuela mit 140 Kinderorchestern, 125 Jugendorchestern und dreißig professionellen Orchestern. Simon Rattle, Claudio Abbado und Daniel Barenboim betrachteten das „Sistema“ als das beste, was der klassischen Musik in der Welt von heute passieren könne.
Über monströse Korruptionsskandale in der Regierung von Hugo Chavez steht nichts in der Zeitung, über Stimmen-und Parteienkauf in Brasilien durch enge Gefolgsleute Lulas dagegen um so mehr. Hiesige Kommentatoren betonen immer wieder, daß in zivilisierten Ländern die Regierung über derartiges natürlich schon gestolpert wäre. Gemäß dem „O Estado de Sao Paulo“ sagte Gil in Genf am Rande einer Konferenz über geistiges Eigentum:“Ich bin zufrieden mit der Regierung.“ Die Praxis der Korruption sei systematisch, allgemein, das Probleme existiere in allen Regierungen und Ländern. Derartige Praktiken würden zwar verurteilt, dann aber von der Gesellschaft doch akzeptiert und toleriert. “O Estado de Sao Paulo” sprach daraufhin von einer “internationalen Blamage”, ausgerechnet vor einem Weltforum in der Schweiz. Der Kulturminister zähle nunmehr zu den notorischen Verteidigern von Unredlichkeit, fehlender Ethik. Daß Gil für die Freigabe allen Rauschgifts, darunter Kokain, plädiert, sehen manche in diesem Kontext.
Vor rund zwei Jahren wurde in Brasilien heftig diskutiert, daß Kulturminister Gil und der damalige Arbeitsminister Ricardo Berzoini, heute eine Schlüsselfigur in den Regierungsskandalen, sich laut Presseberichten von gefürchteten berüchtigten Gangsterbossen den Besuch eines Rio-Slums genehmigen ließen, wie gefordert ohne Bodyguards, Polizeibegleitung hineinfuhren und damit die neofeudale Diktatur der Banditenmilizen über ihren Parallelstaat der Armenviertel sozusagen offiziell anerkannten. Immerhin terrorisieren diese Milizen des organisierten Verbrechens auf grausame Weise die Bewohner, köpfen und foltern, verbrennen auch gemäß den Aussagen des einst im Westberliner Exil lebenden Kongreßabgeordneten Fernando Gabeira regelmäßig sogar Menschen lebendig. Seit dem Beginn der Aggression gegen den Irak machen immer mehr beteiligte US-Soldaten an Rios Nobelstränden, vor allem Ipanema, “Fronturlaub”. In Rio de Janeiro besuchte Gil zudem die berühmte Sambaschule Mangueira, als dessen Vizedirektor und Chef der hundertköpfigen Perkussionsgruppe gerade vom lokalen Banditenkommando bestialisch umgebracht worden war. Doch der Minister verurteilte keineswegs , wie erwartet, den zunehmenden Druck des organisierten Verbrechens auf die Sambaschulen, sondern überging den Mordfall mit Schweigen, suchte befremdlicherweise Optimismus und Karnevalsvorfreude auszustrahlen. Gegenüber der Presse nannte er später die Hipocrisia, Scheinheiligkeit, ein Werkzeug zivilisierten menschlichen Umgangs und notwendig für das menschliche Zusammenleben. Er selbst bediene sich der Hipocrisia häufig. Manche Kritiker sehen in Gil seit jeher einen fragwürdigen Opportunisten. Der Befreiungstheologe Frei Betto beispielsweise, einer der führenden Intellektuellen Brasiliens, war vehement gegen die Ernennung Gils zum Minister, wohl auch wegen dessen engen und freundschaftlichen Beziehungen zu rechtsextremen Diktaturaktivisten. Frei Betto hatte schließlich während des Militärregimes Jahre hinter Gittern verbracht, war gefoltert worden.
-Killerspiele seit Jahren als direkte Anleitung zu sadistisch-perversen Gewalttaten-
Kein Geheimnis, daß die Banditenmilizen bereits seit den achtziger Jahren begeisterte Fans von US-Killerspielen, US-Gewaltvideos sind, das dort Gezeigte, Praktizierte als Anregung nutzen und sadistisch-pervers an Slumbewohnern ausprobieren. In Großstädten wie Sao Paulo und Rio de Janeiro verbringen ungezählte Jugendliche einen beträchtlichen Teil der Freizeit damit, am Computer per Killerspiel jedesmal Tausende von Menschen sadistisch zu quälen, zu foltern und zu ermorden, Mädchen und Frauen zu vergewaltigen und ebenfalls zu töten. Die bereits erzielte Brutalisierung, Verrohung, Gewöhnung an Gewalt sowie Gleichgültigkeit gegenüber Gewalttaten wie in den Killerspielen erscheinen manchen nachdenklichen Brasilianern in der neoliberalen sozialdarwinistischen Gesellschaft als vom System politisch gewollt, da ebenso wie in Deutschland ernstzunehmende Gegenmaßnahmen ausbleiben, im Unterschied zu Mitteleuropa Politiker nicht einmal die üblichen Alibiappelle absondern, auch in Brasilien gemäß den Kritikern “Jugendschutz” in völliger Absicht nur auf dem Papier steht. Auf dem riesigen Raubkopienmarkt der Millionenstädte erhalten selbst Kinder unter zehn Jahren problemlos und spottbillig auch das perverseste Killerspiel, notfalls kauft es ihnen, wie in Deutschland bei Pornographie und anderen Gewalt und Perversität fördernden Produkten üblich, eben der nächste Erwachsene. Im Teilstaate Rio de Janeiro werden gemäß einer neuen Studie von 2006 nur 1,31 Prozent der Morde überhaupt aufgeklärt. Nicht zufällig ist die Mordrate Rios etwa dreißigfach höher als die Deutschlands.
Zu den bekannten Untaten solcher Milizen im betreffenden Slum „Complexo da Marè“ von Rio kein Wort von Gil oder Berzoini. Paulo Sergio Pinheiro, Experte für Gewaltfragen an der Universität von Sao Paulo, sieht durch die Ministervisite bestätigt, daß der brasilianische Staat große Teile seines Territoriums nicht mehr kontrolliert. Beide Minister hätten sich zudem im Slum von fünfzehn Männern unterstützen lassen, die just von den Gangstern ausgesucht worden seien: „All dies ist ein Skandal – geschähe derartiges in Berlin, Paris oder London, würde das im Parlament debattiert, würde die Regierung gestürzt.“ In der Tat – ein deutscher Kulturstaatsminister in solcher Situation – die Aufregung in Deutschland, in den Feuilletons wäre vorhersehbar. Im Falle eines Kulturministers Brasiliens, der in Deutschland erfolgreiche Konzerte gibt, wird dies natürlich anders gesehen, willfährige hochbezahlte Leute für Jubel-PR finden sich immer. Preta Gil, des Ministers aufmüpfige Tochter:“Die Polizei ist korrumpiert, die Regierung ist korrumpiert, alle sind doch verwickelt, das ändert sich nie mehr, ist zu tief verwurzelt.“
–”Stolz, ein Brasilianer zu sein”–
An vielen Supermärkten der Millionenstädte steht draußen in großen Lettern und drinnen noch einmal über den Kassen unübersehbar: „Stolz, ein Brasilianer zu sein“. Woran erinnert einen doch gleich dieser Spruch? Auf manchen Waren, darunter gängigen Mineralwasserflaschen, steht aufgedruckt: „Das Beste an Brasilien ist der Brasilianer“. Die Flugzeuge der großen nationalen Luftlinie TAM tragen die Aufschrift: „Stolz, brasilianisch zu sein.“ Manches Trendige aus Brasilien wird von vielen in Deutschland freudig kopiert. Soll man hoffen, daß die Lufthansa oder andere deutsche Linien auf einen Spruch dieser Art an ihren Maschinen verzichten, ebenso die Supermärkte, Warenfabrikanten? Oder wäre vorstellbar, daß eine Supermarktkette eines Tages dem brasilianischen Beispiel folgt, den Satz in der gefürchteten Version an der Frontseite anbringt, sich der Chef gegenüber der Presse verteidigt:“Na und, wir sind Multikulti – übernehmen gerne Kulturelles auch aus Brasilien, was dagegen?“
Anfang 2007 kamen in Brasilien landesweit massenhaft Schreibhefte mit der Aufschrift “Stolz, ein Brasilianer zu sein” auf den Markt. Und wenn ein deutscher Schulhefteverlag künftig Analoges auf seine Produkte drucken läßt?
Musiker Dori Caymmi meint indessen, patriotisch seien die Brasilianer nur im Fußball.
–Dori Caymmi über Kulturverlust und kulturelle Gleichschaltung in Brasilien—
Wird Brasiliens Populärmusik, werden Samba und Forrò schon in absehbarer Zeit im Museum landen, weil die global agierenden Musikkonzerne in dem Tropenland zunehmend nordamerikanische Rhythmen und Stile wie Rap und Hiphop durchdrücken und heimisch machen, den Musikgeschmack, die Hörgewohnheiten der Brasilianer verändern? Dori Caymmi, aus einer hochkarätigen Musikerfamilie Brasiliens, steht auf diesem Standpunkt. Er kritisiert Kollegen wie den Kulturminister Gilberto Gil und Caetano Veloso, weil sie nach seiner Auffassung sogar als Paten, Förderer nordamerikanischer Trends agieren.
Noch in den achtziger Jahren gaben in Brasiliens Musikmetropolen Rio de Janeiro und Sao Paulo nationale Rhythmen wie Samba, Bossa Nova und Forrò den Ton an. Das scheint vorbei – selbst in den berühmten Sambaschulen tanzt die schwarzhäutige Jugend vor allem nach musikalisch sehr simpel bis primitiv gestrickten Klängen. Ein Hiphop-und Rockfestival folgt in Brasilien dem anderen, alle werden gewöhnlich von großen multinationalen Konzernen gesponsert. Die Zeitungen und das Fernsehen machen dafür massiv Werbung, berichten ausführlich. Motto: Wer dort nicht hingeht, wer diese Musik nicht mag, ist out. Festivals für Samba, Bossa Nova, Forrò? Fehlanzeige. Typisch brasilianische Rhythmen hört man im Alltag immer seltener, die Medien berichten kaum. Im Radio, in den TV-Musikkanälen gibt es gravierende, schleichende Veränderungen.
–„Frischer Wind“ in der Musikszene?—
Der Anteil in Brasilien produzierter Musik ist nach wie vor erstaunlich hoch, erreicht in den Musikmedien etwa achtzig Prozent.
Indessen ist es immer weniger genuiner Samba oder feinster Bossa Nova, sondern Brazilian Rock, Brazilian Rap, Brazilian HipHop, Brazilian Techno, Brazilian Reggae, Brazilian Pop – zumeist banale Imitiationen der Vorbilder, die die Musikmultis liefern. Die Welt, so argumentieren seit langem brasilianische Komponisten, will von uns Originales, typisch Brasilianisches, keine Imitationen und Kopien – das könne man in den jeweiligen Herkunftsländern besser. Entsprechende Erwartungen an Minister Gil wurden bisher enttäuscht.
Das massive Einpeitschen kommerzieller Megatrends mit allen Methoden moderner PR läuft häufig unter dem beliebten Motto „frischer Wind in der Musikszene“ – in Deutschland nicht anders.
Ein Alarmsignal auch für Dorí Caymmi, der zusammen mit Schwester Nana, Bruder Danilo und seinem Vater Dorival Caymmi Brasiliens Populärmusik um zahlreiche Klassiker bereicherte. “Was sich derzeit abspielt, ist sehr dekadent, unsere Musikkultur wird regelrecht demoliert. Als Resultat der Globalisierung sehe ich überall kulturelle Infiltration, unsere Musik verliert diesen typisch brasilianischen Charakter, man imitiert kulturell Minderwertiges. Das macht mich traurig. Brasilien ist nicht das einzige Opfer. Die Massenmedien nutzen nicht mehr unsere Kultur, informieren nicht mehr über sie. In Europa haben wir die beste klassische Musik der Welt, die größten Komponisten, verschiedene davon in Deutschland. Dort hat das Volk ein anderes Informationsniveau als hier, eine andere Reife, eine andere Bildung. Doch wir sind Dritte Welt, das Land ist riesig. Selbst der Teilstaat Cearà hat eine eigene Musik, dort gibt es eine andere Kultur. Doch heute tauschen wir Sao Joao, unser Junifest, für Halloween ein! Das ist ein gravierendes Problem der internationalen Kultur. Heute wird die unterschiedliche Kultur der Länder von den Medien zerstört. Hier in Brasilien wird doch alles aus den USA kopiert, unser Modell ist nordamerikanisch – die Fernsehprogramme, die Ideen, die Kleidung. Alles Neue kommt von dort – und zwar sofort!” Gewaltvideos und Killerspiele geradezu in Massen.
“Unsere Kultur ist heute eine nordamerikanische – aber eben leider die armselige von dort, die des ungebildeten Nordamerikaners. Was die Musikkonzerne jetzt in Brasilien durchdrücken, auch über Bestechung, große Korruption, das berüchtigte Jabaculè, ist entsetzlich kommerziell, selbst die Kultur unserer Schwarzen wurde bereits ausgetauscht – der Samba, die Sambaschulen kamen aus dem Takt. Ich denke, es gibt keine Zukunft mehr für unsere Musik. Echte brasilianische Musik wird bald im Museum landen. Die brasilianische Kultur verarmt generell. Selbst unser Kulturminister Gil ist ein Apologet von Bob Marley.“
Am letzten Nationalfeiertag des Schwarzen Bewußtseins dominierte bei der Schwarzen-Demo in Sao Paulo HipHop, hochgepriesen.
Und was die Bestechungsmethode „Jabaculè“, in den USA „Payola“, betrifft: Nach Gils Amtsantritt rückte Mitte 2003 Andre Midani, einer der mächtigsten multinationalen Musikmanager Brasiliens in den sechziger bis neunziger Jahren, ganz überraschend mit der Sprache heraus, wurde so zitiert: “Ich habe damals Jabaculè bezahlt, damit Gilberto Gil in den Radios gespielt wird.“ Laut Midani sind nur deshalb auch andere bekannte Namen des Bossa Nova, des Tropicalismo und des brasilianischen Rock groß herausgekommen. Als Zahlungsmittel seien in der Branche auch Rauschgift und Prostituierte üblich gewesen. Wie läuft das in Deutschland, wie wars im Kalten Krieg, wie ist es heute, wann packt mal einer aus, schreibts auf?
Aber gab es in Brasilien nicht schon immer kulturelle Einflüsse aus den USA? „In den 50ern kam der Rock `n Roll, dann die Beatles – das mochten die Jugendlichen. Doch zur Ära der Beatles hatten wir hier Tom Jobim, auch meinen Vater Dorival Caymmi – meine Musikergeneration wuchs in dieser Zeit auf. Ich habe das selbe Alter wie Mick Jagger! Musik aus den USA wirkte sich jedoch nie zuvor hier so negativ aus wie heute. In der Dritten Welt ließ man das Volk ohne Kultur, ohne Optionen. Der Sohn des Reichen hat Arbeit, der des Armen hat nichts! Die Slums wachsen unaufhörlich. Erst brauchte man in Sao Paulo die Leute aus dem Nordosten, dann schob man sie weg, zahlt ihnen ein Mindestsalär von 350 Real, während ein Abgeordneter 15000 Real kriegt. Der Nordamerikaner hat all das entdeckt und an unseren Schwarzen-Peripherien HipHop, Rap eingeführt. In den Texten heißt es, schieße auf die Polizei, kille diesen weißen Misthund. Es gibt den Gewalt-Rap, verschiedene Rapper wurden schon ermordet. Hör dir die CDs von Brasiliens führendem Gangstersyndikat PCC an – da hörst du MGs rattern. Alles eine regelrechte Strafe für die brasilianische Gesellschaft. Was man da jetzt durchdrückt, erreicht eine Bevölkerung, die keine anderen Optionen mehr hat – sie hören nur das, lernen nur das. Die Kinder tanzen HipHop, niemand hört doch mehr brasilianische Musik.“
Auffällig ist, daß Dori Caymmi beinahe wie ein Rufer in der Wüste wirkt, niemand sonst auf die Barrikaden geht. “Ja, ich prangere diese Dinge offen an, all das, was hier hereinkommt – und dadurch verliere ich Sponsoren. Die sagen sich, den engagieren wir nicht, der ist unser Gegner. Meine Musikerkollegen verkneifen sich Kritik. Die großen Künstler Brasiliens, in ihrer Mehrheit, wollen keine Einkünfte verlieren, passen sich lieber an, loben diese Trends, die ich scharf verurteile. Das betrifft Kulturminister Gilberto Gil, für dessen erste Platte ich die Arrangements geschrieben habe. Ich meine, der Kulturminister sollte sich für die Erhaltung unserer Kultur einsetzen. Caetano Veloso hat jetzt eine Rockplatte veröffentlicht – für mich ist das eine Dummheit, ich kritisiere das. Caetano und Gil sind stets für jede neue Mode, spielen die Paten für Rio-Funk, Reggae – ich halte sowas für gefährlich.“
–Maria Bethania:“Gil hat in seiner Amtszeit nichts Konkretes gemacht“–
Leicht zu erraten, wen Dori Caymmi lobt: „Chico Buarque ist das größte Idol meiner Generation, ist ein Phänomen, eine Hoffnung. Meine Generation hat noch Edu Lobo, Francis Hime, Tonio Horta, Paulo Cesar Pinheiro, Leute wie mich. Unsere Sängerinnen – Elis Regina, Gal Costa, Maria Bethania, Clara Nunes, meine Schwester Nana – alles wichtige Persönlichkeiten, mit Seele.“
Maria Bethania, Schwester von Caetano Veloso, kritisierte Kulturminister Gil öffentlich:“Er hat in seiner Amtszeit nichts Konkretes gemacht.“
Dori Caymmi komponiert hochkarätige, komplexe Rhythmen, liebt die deutsche Klassik – Bach, Beethoven, auch Wagner. „Der ist absolut genial, Tristan und Isolde höre ich häufig, auch die Werke von Bach. Da sage ich mir, meu Deus, que Beleza! Ich war noch nicht in Deutschland, will aber demnächst dorthin, um den Boden meiner Idole zu betreten. Ich sage immer zu meiner Frau, laß uns Musik hören in einem zivilisierten Land. Deutschland zieht die Menschen an wegen Bach-oder Wagner-Festivals, wegen der Qualität seiner Musiker, Schriftsteller, Denker – all das hat Gewicht, dahinter steckt eine große Kraft. Wunderbare Leute wie Liszt – die haben uns doch geformt! Solche Geniusse wie die Europas haben wir nicht.“
Sprechgesang, Hiphop, Techno, überhaupt primitiv-monotone elektronische Musik hält er für entsprechend armselig, drückt es drastisch aus. “Die Leute hören heute Musik nicht mehr mit den Ohren, sondern mit dem Arsch. Die neue Musikergeneration hat keine Seele, singt simpel, mit wenig Emotion. Dieser neue Stil ist nicht mehr brasilianisch, wie der meiner Generation, ob Maria Bethania, Elis Regina oder Gal Costa. In den Sechzigern, zu den Zeiten von Joao Gilberto oder meinem Vater, sang man sanfter, sensibler, das prägte meine Generation. Selbst die Sphäre der Religion ist heute betroffen, indem man die Gospelmusik einführte. Sie singen, als wären sie Whitney Houston oder Maria Carey, nur auf Portugiesisch, kopieren die Nordamerikaner. Denn damit läßt sich unheimlich viel Geld machen. Ich sehe die Dinge wie ein Europäer, der sich fragt – ist das denn noch brasilianisch? Es wird noch schlimmer kommen, ich habe wirklich nicht viel Hoffnung. A coisa tà preta, wie Chico Buarque singt. All diese Phänomene tragen dazu bei, daß die Menschheit immer mehr verblödet, der Kulturverlust voranschreitet. “
–„Unsere Eliten interessiert nur Reichtum und Macht“—
Chico Buarque sagte einmal im Interview, Brasiliens Elite sei zunehmend kulturloser, ungebildeter. „Klar, so ist es tatsächlich. Unsere Eliten interessiert nur Reichtum und Macht. Der Reiche teilt nicht. Er stellt zwar Leute ein, zahlt ihnen aber schändlich niedrige Löhne. Das haben wir von den portugiesischen Kolonialisten übernommen. Chico Buarques Vater sagte, der Brasilianer sei ein herzlich-inniger Mensch. Aber eben in dem Sinne, daß er die ganze Zeit auf die Birne kriegt und einfach nicht reagiert! Wenn man, wie hier unter der Collor-Regierung, etwa in Deutschland oder Frankreich den Leuten für Jahre die Bankguthaben einfröre, würde man Paris anzünden, Berlin niederbrennen. Hier nicht, hier geht man in die Kneipe und trinkt einen, klagt übers Leben. Das brasilianische Volk ist sehr unterwürfig, ohne Präsenz. Die Leute interessieren sich nicht mehr für Goethe. Neulich fragte mich ein Musiker im Hotel, Goethe, was hat der doch gleich gespielt? Da wirds schwierig. Das Problem ist, wir haben nicht die Reife der Europäer. Dieses Land ist nach über 500 Jahren zwar eine Republik, änderte sich aber nicht wirklich. Leute ohne Arbeit, mit Hunger, denen man immer wieder was verspricht. Nur Versprechen, Versprechen, Versprechen. In Brasilia verbrennt man diesen Indianer, aber die Täter kommen frei, alles endet in Pizza. Das ist hier keine Demokratie. In einer Demokratie wird man nicht zum Wählen gezwungen! Wählt man hier nicht, kriegt man keinen Reisepaß, keine Arbeit im öffentlichen Dienst – das ist doch keine Demokratie, sondern eine Diktatur, sehr elitär dazu. Brasilien ist im Grunde ein feudales Land – und Sao Paulo dessen Lokomotive. Ohne Bildung, ohne Gleichheit kommen wir da nicht raus. Was die brasilianische Musik betrifft, habe ich wirklich nicht viel Hoffnung.“
Nach wie vor nimmt in Brasilien im Grunde nur die Mittel-und Oberschicht am Kulturleben teil, frequentiert Kino, Theater und Konzerte, kauft Literatur. Für die übergroße Mehrheit der Brasilianer ist all dies auch wegen der absurd ungerechten Einkommensverteilung völlig unerschwinglich. Dabei ist das Tropenland von der 24-fachen Größe Deutschlands immerhin die zehnte Wirtschaftsnation des Erdballs – und ein hervorragendes Experimentierlaboratorium für neoliberale Politik.
–Samba wird massakriert–
Nei Lopes, einer der großen Sambakomponisten Brasiliens und zudem Schriftsteller, kritisiert ebenfalls die von den großen Musikkonzernen betriebene kulturelle Gleichschaltung. Lopes nennt “internationale Liedfestivals” der siebziger Jahre die bis dahin größten handstreichartigen Unternehmungen, um Brasiliens Musikkultur zu dominieren. Daraus sei der “Rock Brasil” hervorgegangen, was u.a. derartiges nationale Medienlob gefunden habe:”Brasiliens Musik war langweilig und zurückgeblieben gegenüber dem Rest der Welt. Die Rockmusik hat Brasilien aktualisiert, das Land internationalisiert.” Unter dem Primat der Globalisierung, so Lopes, erreichten diese “Internationalierungsanstrengungen” ihren Höhepunkt. “Die transnationalen Konglomerate attackieren in allen Formen und an allen Fronten, um Brasiliens Musik gleichzuschalten – nach dem Modell jung, reich und schön, das überall im kolonisierten kulturellen Universum bereits herrscht…” Gerade der Samba werde wegen seiner starken symbolisch-ästhetischen Inhalte immer wieder strategisch angegriffen. Samba sei eines der Hauptziele des von den internationalen Musikkonzernen angerichteteten Massakers. An diesem “Massaker” beteiligen sich auch in Deutschland nicht wenige pseudoprogressive Figuren der Musikmedien, die nicht zufällig schon seit Jahren guten brasilianischen Samba beiseiteschieben und stattdessen ganz im Sinne der Auftraggeber die bekannten “Megatrends” entsprechend mitteleuropäischen “Hörgewohnheiten” favorisieren.
–Bankwerbung mit Gil-Hits—
2006 hörte man eine geradezu berühmte Komposition Gilberto Gils namens „Andar com Fè“ andauernd in Radio und Fernsehen. Gil hatte sie der größten brasilianischen Privatbank Bradesco für eine Werbekampagne zugunsten von Haus-und Autokrediten zur Verfügung gestellt. „Andar com Fè“ heißt sinngemäß übersetzt soviel wie „Gehen mit Glauben, mit Gottvertrauen“. Katholiken und Anhänger afrobrasilianischer Kulte sangen den Titel gerne bei ihre Messen. Jetzt war der Sinn ein anderer – Gehe mit Glauben in die Großbank Bradesco und vertraue deren Kreditangeboten. Die Regierung, zu der Gil gehört, sorgte für die welthöchsten Realzinsen, was den Spekulanten, aber auch Banken wie Bradesco Rekordgewinne beschert. 2008 rügt ihn indessen die dem Staatspräsidenten unterstellte Ethikkommission wegen geschäftlicher Beziehungen zur brasilianischen Privatbank Itaú streng. Denn Gil hatte auch dieser für Werbezwecke gegen klingende Münze eine Komposition überlassen, obwohl sein Ministerium auch über Projektsubventionen, Kooperation und Steuererleichterungen für das Itaú-Kulturinstitut entscheidet. Gil wurde ermahnt, künftig privat Geschäftskontakte zu vermeiden, die ministerielle Zuständigkeiten tangierten.
Marco Antonio Villa, Schriftsteller und Geschichtsprofessor an der Bundesuniversität von Sao Carlos, nennt in Brasiliens größter Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“ die fehlende Trennung zwischen öffentlichen Angelegenheiten und privaten Interessen ein Charakteristikum der von Korruptionsskandalen geschüttelten Lula-Regierung. Ein gutes Beispiel dafür seien die Aktivitäten von Gilberto Gil, der das Ministerium in sein persönliches Sprungbrett verwandelt habe. Von guter Kulturpolitik sei indessen nichts zu sehen. „Beklagenswerterweise hat das Kulturministerium kein Projekt für eine Kulturpolitik dieses Landes. Es verfolgt indessen ein persönliches Projekt – und das ist erfolgreich, sehr erfolgreich.“ Für 2008 hat Gilberto Gil seinen Rücktritt angekündigt. Als im Jahr zuvor wegen fehlender Staatsmittel eine Übernahme des Jorge-Amado-Nachlasses durch die Harvard-Universität droht, wirft Joao Ubaldo Ribeiro, der nach Paulo Coelho in Europa meistgelesene lebende Autor Brasiliens, dem Kulturminister öffentlich vor, die Amtspflichten zu verletzen. Schon im Titel einer seiner vielgelesenen Wochenkolumnen erinnert ihn Ribeiro an Amados unschätzbare Verdienste, auch bei der Pflege künstlerischen Nachwuchses: “Gil, ohne Jorge wärst du vielleicht nur eine Hypothese.”
Burka, “Girl from Ipanema”, sinnliche Bossa Nova in Itanhaem/Teilstaat Sao Paulo an der Statue von Padre Anchieta. “Garota de Ipanema” mit Tom Jobim und Vinicius Morais:https://www.youtube.com/watch?v=KJzBxJ8ExRk –
Islamische Frauenunterdrückung, Burka, soziokulturelle Kontraste…
« Wahltricks in Brasilien: Beifall für UNO-Generalsekretär in New York wird in PR-Spot als dröhnender Applaus für Lula ausgegeben. Deutscher Regierungssender Deutsche Welle über Lula: „Geradlinigkeit und Verlässlichkeit“. – Brasiliens Kindersoldaten: „…junge kinder mit Waffen die einfach anderre kinder erschossen haben die sie gerade mal schief angeschaut haben…“(Lesermail) Oberflächlich-infantile offiziöse Intensivtäter-Diskussion in Deutschland. „Jetzt geht der Krieg los – das Comando Vermelho kündigt es an.“ Rogerio Reis. Kannibalismus. »
Noch keine Kommentare
Die Kommentarfunktion ist zur Zeit leider deaktiviert.