Klaus Hart Brasilientexte

Aktuelle Berichte aus Brasilien – Politik, Kultur und Naturschutz

Brasilien, Rio de Janeiros bischöfliche Slum-Seelsorge und die Menschenrechtslage in der Olympia-Stadt. Nanko van Buuren, IBISS-Direktor.

Angesichts der jüngsten schweren Feuergefechte in Rio de Janeiro und dem Abschuß des zweiten Polizeihubschraubers durch Banditenkommandos  hat die bischöfliche Slum-Seelsorge der Erzdiözese an den Staat appelliert, endlich die Menschenrechte der über zwei Millionen Bewohner in den Elendsvierteln zu garantieren. Viele kirchliche Sozialprojekte müssen wegen der Kämpfe ihre Arbeit einstellen.

luisantoniopereirasilva.jpg

”Wegen der Feuergefechte sind die Slumbewohner derzeit regelrecht in ihren Hütten eingesperrt, leben in Angst und Panik”, sagt Priester Luis Antonio Pereira Lopes, der in Rio de Janeiro die Slum-Seelsorge der Erzdiözese leitet, im Website-Interview. „Die desaströse Lage der Millionenstadt zeigt, daß eine wirkliche Sicherheits-und Menschenrechtspolitik fehlt –  der Staat muß endlich die verfassungsmäßigen Rechte der Slumbewohner respektieren. Die Menschen brauchen Arbeit, Bildung, ein funktionierendes Gesundheitswesen –  und nicht nur gelegentliche Polizeieinsätze, die das Problem nicht lösen.”

http://www.hart-brasilientexte.de/2009/10/17/krieg-auf-dem-morro-dos-macacos-von-rio-de-janeiro-youtube-anklicken-bope-im-einsatz/

Die Slums von Rio de Janeiro vor Fußball-WM und Olympischen Sommerspielen/2012

In der Millionenstadt Rio de Janeiro hat ein weiteres Blutbad, bei dem mindestens acht junge Menschen ermordet wurden, jüngste Analysen der Kirche über gravierende Menschenrechtsverletzungen in den über eintausend Elends-und Armenvierteln bestätigt. Die Slum-Seelsorge wirft den Regierenden Brasiliens vor, viele Milliarden für die Vorbereitung von Fußball-WM und Olympischen Sommerspielen auszugeben, statt für die Lösung dringlichster sozialer Probleme.

„Die Herrschaft des organisierten Verbrechens über die Slums bedeutet, daß die Bewohner wie in einem System der Sklaverei, der Versklavung leben. Daß der Staat diese Menschen allein läßt, kostet soviele Menschenleben“, sagt Priester Luis Antonio Lopes, der die Slum-Seelsorge der Erzdiözese von Rio leitet und zudem Gemeindepfarrer in einer Peripherie-Region ist. „Das organisierte Verbrechen herrscht ungehindert dort, wo es keine sogenannten Befriedungseinheiten der Polizei gibt, also in den allermeisten Favelas. Und selbst in einigen Slums, wo der Staat angesichts der herannahenden Sportevents solche Befriedungseinheiten stationierte, geschehen weiter Morde.“

Anfang September 2012 verübte ein Banditenkommando just im Seelsorgebereich von Padre Lopes  ein Blutbad an mindestens acht jungen Menschen, deren Leichen mit grauenhaften Folterspuren an der Stadtautobahn gefunden wurden. Entsprechend empört ist die brasilianische Öffentlichkeit, zumal die meisten dieser Blutbäder den Medien garnicht bekannt werden. Denn in die Parallelstaaten der Slums, wie es Soziologen nennen, wagt sich kaum jemand hinein, der dort nicht gezwungenermaßen hausen muß. Padre Lopes von der Slum-Seelsorge macht folgende Rechnung auf:

“Alle mehr als eintausend Favelas von Rio de Janeiro haben gravierende Gewaltprobleme – der Staat müßte dort etwa 200000 Sicherheitsbeamte stationieren – tut es aber nicht. Wie die Investitionen für Fußball-WM und Olympische Sommerspiele in Rio zeigen, sind Mittel durchaus vorhanden – aber eben nicht für soziale Zwecke, nicht für menschenwürdige Behausungen. Wie kann man angesichts so vieler drängender Probleme soviel Geld für Sportevents ausgeben, die nur ganz kurze Zeit dauern!“

Ein mehrstündiger Gang durch Slums an der Seite eines Priesters, der von den Banditenkommandos die nötige Zutrittserlaubnis hat, führt zu den Brennpunkten der barbarischen, bedrückenden Situation. Zu den Verhaltensregeln zählt: Nicht fotografieren, keine Mikrophonaufnahmen, weil sonst sofortige Ermordung drohte. So tun, als ob man die überall lauernden bewaffneten Banditen garnicht bemerkt und fast durchweg ein angeregtes Gespräch mit dem Priester über Religiöses führt. Elendskaten, Müll und Gestank, Unmengen von geraubten und zu Schrott gefahrenen Autos, sadistischer Gangsta-Rap in Hardrock-Lautstärke rund um die Uhr.

Eine Mitarbeiterin des Priesters berichtet über zahlreiche willkürliche Morde und Folterungen, teils direkt vor ihrer Katentür. Wer sich von den Slumbewohnern weigert, Raubgut oder Drogen zu transportieren, wird sofort erschossen – wer des Kontakts mit der Polizei verdächtigt wird, ebenfalls. Indessen – oft innerhalb von nur Monaten sind die Killer ebenfalls tot – kamen beispielsweise bei Schießereien zwischen rivalisierenden Banditenkommandos um. Und schon werden andere die neuen Slum-Herrscher. Für Padre Lopes von der Slum-Seelsorge handelt es sich  bei jenen jungen Gangstern um Brasilianer, denen Staat und Gesellschaft keinerlei Chance gaben, sich zu bilden und zu entwickeln. Laut neuesten Studien ist beispielsweise der Handel mit harten Billig-Drogen wie Crack und Kokain landesweit der einfachste Weg für junge Menschen, um an Geld für schicke Markenklamotten und andere attraktive Dinge zu kommen.

“Wir haben jetzt bei der UNO und bei Amnesty International Anzeige erstattet, weil wegen der Fußball-WM gleich drei Stadtautobahnen durch Favelas gezogen werden, Zehntausende von Slumbewohnern ihre Behausung verlieren.“

Brasiliens Menschenrechtsministerin Maria do Rosario räumte wegen des neuesten Blutbads von Rio ein, daß bei den Heranwachsenden des Landes Gewalt die Haupt-Todesursache sei. Die katholische Kirche hatte deshalb bereits vor Jahren eine „Kampagne gegen Gewalt und gegen die Ausrottung von Jugendlichen“ gestartet. Priester Geraldo Nascimento zählt zu den Wortführern, den Organisatoren.

“Wir wollen, daß die ganze Welt sieht, was hier vor sich geht. Der brasilianische Polizeiapparat dient nicht dem Verteidigen der Bevölkerung – alle Arten von  Verbrechen existieren weiter, weil die Polizei verwickelt ist.“

http://www.hart-brasilientexte.de/2008/07/31/globo-serie-uber-die-diktatur-in-den-brasilianischen-slums-erhalt-transparency-international-preis/

http://www.hart-brasilientexte.de/2009/10/04/lula-brasilien-ist-standigem-sitz-im-uno-sicherheitsrat-sehr-nahe-melden-landesmedien/

Priester Lopes zählt zu den besten Kennern der Lage in den Slums von Rio und weiß auch, wie es auf dem derzeit am heftigsten umkämpften Bergslum „Morro dos Macacos” aussieht, über dem vor wenigen Tagen ein Polizeihubschrauber abgeschossen wurde. Bewohner zählten in dem Gassenlabyrinth über zwanzig Tote. ”Die Leute dort sagen mir, es gibt noch mehr Opfer, viele Leichen wurden noch gar nicht entdeckt. Dort hat man Erfahrungen von früheren Gefechten rivalisierender Banditenkommandos und weiß bestimmte Anzeichen zu deuten.  Wenn immer mehr Aasgeier über dem Morro dos Macacos kreisen, so erklärte mir eine junge Frau, weist dies auf mehr Tote, als bisher offiziell angegeben.”Seit Jahrzehnten prangert Brasiliens Kirche an, daß der Staat auch in den Slums von Rio de Janeiro nicht präsent ist und die Bewohner sich deshalb dem neofeudalen Normendiktat der Verbrechersyndikate unterwerfen müssen. So werden häufig Ausgangssperren verhängt. Wer dagegen verstößt, bezahlt dies mit dem Leben. Padre Lopes von der Slum-Seelsorge erläutert, daß auch jetzt die Polizeieinheiten nur kurz in den Elendsvierteln auftauchen und nie nachts dort bleiben. Günstig für die Banditenkommandos, die sich gemäß Guerillataktik kurz zurückziehen und nach dem Abzug der Polizei sofort wieder das Zepter übernehmen. ”Damit die Bewohner dort überleben können, müssen sie sich mit den Banditen gut stellen, eine Politik der guten Nachbarschaft pflegen, wie wir es nennen. Befehle,  Regeln müssen unbedingt eingehalten werden. Jene jungen Gangster sind Brasilianer, denen man keinerlei Chance gab, sich persönlich zu entwickeln und zu bilden. Das organisierte Verbrechen bietet indessen Pseudo-Chancen an, alles was ein junger Mensch möchte. Dazu zählt schicke Kleidung, ein tolles Auto –  doch der Preis dafür ist eben das eigene Leben. All diese jungen Banditen leben nur kurz, sterben sehr früh. Doch bei solchen Gefechten wie jetzt werden auch viele unbeteiligte, völlig unschuldige Slumbewohner getötet.”Die Kirche unterhält in vielen umkämpften Slums Sozialprojekte, darunter sogar Schulen und Kindergärten, Hospitäler und Arztpraxen, muß sich ebenfalls an die Banditenregeln halten. Doch häufig wird den Mitarbeitern sogar für Monate der Zutritt zu den Slums verboten, vor allem dann, wenn ein rivalisierendes Gangstersyndikat nach langen Kämpfen die Macht übernahm. Nicht nur in Rio de Janeiro werden immer wieder Priester getötet. Luis Antonio Pereira Silva betont, daß in den Armenvierteln die Werte der Gewalt und der Rache dominieren, die Vermittlung christlicher Werte sehr kompliziert ist:„In den Slums fehlt der Staat, fehlen Institutionen, die den Kindern ethische Prinzipien beibringen. Auch die Kirche müßte dort viel präsenter sein. Denn wer erzieht denn die Jugend dort, wenn deren Eltern abwesend sind, außerhalb des Slums irgendwo Geld verdienen müssen ? Jene, die dort ständig präsent sind “ also die Banditen. Sie sind gerissen und wissen gut, mit den Kindern umzugehen, brauchen diese ja künftig als Arbeitskräfte, damit die kriminellen Geschäfte weiterlaufen können. Aus all diesen Gründen hat die Bischofskonferenz ihre diesjährige Brüderlichkeitskampagne der öffentlichen Sicherheit gewidmet. Und die gespannte Lage in Rio de Janeiro beweist, daß die Kirche ein hoch aktuelles Thema aufgriff, das den Menschen auf den Nägeln brennt.”Brasilien ist zwar die zehntgrößte Wirtschaftsnation, auf dem neuesten UNO-Index für menschliche Entwicklung aber vom siebzigsten auf den fünfundsiebzigsten Rang zurückgefallen. Denn die sozialen Kontraste sind schärfer geworden, wie das rasche Wachstum der Elendsviertel von Rio de Janeiro zeigt.”In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der Slums selbst nach offiziellen Zahlen auf 1043 verdoppelt –  über zwei Millionen Menschen, also ein Drittel der Rio-Bewohner, hausen bereits in solchen Vierteln.”

http://www.hart-brasilientexte.de/2009/11/05/ein-richtiger-krieg-in-rio-de-janeiro-nanko-van-buuren-ibiss-direktor-in-salve-tvweimar-video-von-wwwourchild-de-anklicken/

hansstapelklein.JPG

Frei Hans Stapel aus Paderborn – Gründer von weltweit über 60 Fazendas der Hoffnung – zum Drogenentzug, die meisten in Brasilien. http://www.hart-brasilientexte.de/2009/09/20/crack-jugendpolitik-unter-lula-und-jose-serra-dunkelhautige-kinder-und-jugendliche-sind-crack-hauptkonsumenten/

http://www.hart-brasilientexte.de/2009/11/02/new-york-times-brazil-has-arrived-but-where-roger-cohen-uber-die-feuergefechte-in-rio-de-janeiro-und-brasiliens-widerspruchliche-position/

http://www.hart-brasilientexte.de/2009/09/08/25-neue-atomkraftwerke-in-brasilien-mit-franzosisch-deutscher-hilfe-nebeneffekt-der-rustungszusammenarbeit-betonen-landesmedien-an-franzosischer-areva-ist-siemens-beteiligt-folha-de-sao-paulo/

Dieser Beitrag wurde am Donnerstag, 05. November 2009 um 17:05 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Kultur, Politik abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

«  –  »

Keine Kommentare

Noch keine Kommentare

Die Kommentarfunktion ist zur Zeit leider deaktiviert.

    NEU: Fotoserie Gesichter Brasiliens

    Fotostrecken Wasserfälle Iguacu und Karneval 2008

    23' K23

interessante Links

Seiten

Ressorts

Suchen


RSS-Feeds

Verwaltung

 

© Klaus Hart – Powered by WordPress – Design: Vlad (aka Perun)