Klaus Hart Brasilientexte

Aktuelle Berichte aus Brasilien – Politik, Kultur und Naturschutz

Brasilien: Junge schwangere Obdachlose wurde in Rio de Janeiro lebendig verbrannt, zweiter Obdachloser starb an schweren Brandwunden. Fast täglich Morde an Obdachlosen in der Scheiterhaufenstadt.

Am Pfingstsonntag haben Unbekannte unter einer City-Hochstraße Rio de Janeiros zwei junge Obdachlose angezündet. Eine junge schwangere Frau ist dabei lebendig verbrannt, während ein junger Mann im Hospital den schweren Brandverletzungen erlag. Das Verbrennen von Bettlern und Obdachlosen zählt in Rio, aber auch anderen brasilianischen Großstädten  zu den alltäglichen Verbrechen. Anfang Mai waren in Vitoria, der Hauptstadt des Rio benachbarten Teilstaates Espirito Santo, zudem drei schlafende Obdachlose erschossen worden.

Zeit-Leser:

“Hätte jedes Land einen Präsidenten wie Lula, dann wäre unsere Welt ein besserer Ort. Er ist kein Politiker, er ist ein Staatsmann.” Deutscher Leserbrief an die “Zeit”. 

http://www.hart-brasilientexte.de/2008/09/25/brasiliens-befreiungstheologen-demonstrieren-mit-obdachlosen-tagesschaude/

Polizeivideo zeigt, wie ein Obdachloser Rios erschlagen wird: http://g1.globo.com/Noticias/Rio/0,,MUL463676-5606,00.html

“Schönheit und Fäulnis”. Neue Zürcher Zeitung/NZZ – Klaus Hart:https://www.nzz.ch/schoenheit_und_faeulnis-1.700750

obdachloserbettsp.jpgKranker Obdachloser in der City von Sao Paulo, in der Tausende von Obdachlosen derzeit bei Temperaturen unter zehn Grad teils in Gruppen zu 15 Personen unter Hochstraßen nächtigen. Straßenkinder betteln barfuß, nicht wenige sterben deshalb an Erkältungen. Sao Paulo ist die reichste Stadt der zehntgrößten Wirtschaftsnation, zudem die reichste ganz Lateinamerikas.

http://www.hart-brasilientexte.de/2008/02/17/lynchland-brasilien-meiste-opfer-lebendig-verbrannt/

Gewöhnlich werden die Opfer, welche nachts in großer Zahl in der City auf den Bürgersteigen schlafen, mit Benzin oder anderen brennbaren Flüssigkeiten überschüttet und dann angezündet. Schlafende Obdachlose werden zudem erschossen oder mit Knüppeln und Eisenstangen erschlagen. Als Täter werden häufig Todesschwadronen sowie Geschäftsleute und Ladenbesitzer vermutet, welche die Bettler und Obdachlosen als störend empfinden, sogenannte „soziale Säuberungen“ veranlassen. Die in diesem Miserestadium sehr oft völlig verrohten, animalisierten „Moradores da Rua“, Straßenbewohner, verüben indessen auch gegeneinander Gewalttaten, etwa im Streit um Essen oder einen Schlafplatz. Ein Obdachlosen-Massaker von Sao Paulo ist nach mehreren Jahren immer noch nicht aufgeklärt. Der weltbekannte Menschenrechtspriester Julio Lancelotti aus Sao Paulo organisiert deshalb immer wieder öffentliche Protestaktionen. Nennenswertes Interesse an derartigen Menschenrechtsverletzungen Brasiliens  existiert in Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie anderen Ländern der Ersten Welt nicht – kirchliche Menschenrechtsaktivisten wie Bischof Erwin Kräutler konstatieren  ein hohes Maß an Gleichgültigkeit sowie Unsensibilität in Europa  gegenüber derartigen Zuständen. Im letzten halben Jahr hat sich laut amtlichen Angaben die Zahl der Bettler und Obdachlosen im Zentrum Rio de Janeiros verdreifacht.

Hintergrundtexte:
Sao Paulo – Reichtum, Elend, Obdachlose
Bei Brasilien denken die meisten Deutschen immer zuerst an Rio de Janeiros kleine Schokoladenseite, den Zuckerhut, den Copacabanastrand, Samba und Karneval. Dabei ist das 430 Kilometer entfernte subtropische Sao Paulo zwar keineswegs schöner, aber viel interessanter und nicht nur Brasiliens, sondern ganz Lateinamerikas Kultur-und Gastronomiehauptstadt. Hier dirigiert John Neschling das beste Sinfonieorchester Lateinamerikas, hier leben die populärsten Musiker des Tropenlandes “ das Sertaneja-Duo Zezè di Camargo und Luciano. Hier werden jährlich an die tausend Theaterstücke inszeniert. Nicht zufällig bildet das kosmopolitische Sao Paulo vor Rio den wichtigsten touristischen Anziehungspunkt des Tropenlandes. Viel mehr Deutsche steuern Sao Paulo an, nicht Rio. Die nach Tokio und Mexico-City drittgrößte Stadt der Welt ist zudem Lateinamerikas Industriemetropole, zählt an die tausend deutsche Unternehmen und erwirtschaftet ein höheres Bruttosozialprodukt als ganz Argentinien. Extreme Sozialkontrasten fallen indessen beinahe überall ins Auge “ auch die über zweitausend Slums sind nicht zu übersehen. Sao Paulo zählte einmal zu den schönsten Städten des Erdballs “ hemmungslose Geldgier, kollektive Unvernunft und provozierender Individualismus haben sie in eine der häßlichsten verwandelt. Sao Paulo ist heute auch Symbol lateinamerikanischen Sozialdarwinismus. Manche verdrängen lieber, schauen nicht hin “ doch die Situation der marginalisierten Paulistanos, darunter der Obdachlosen, schockiert.
„Unser Land ist besudelt von Korruption, Gewalt und Lügen”, ruft Padre Julio Lancelotti vor der Kathedrale von Sao Paulo aus und ärgert damit manche Vorübergehenden. Übertreibt der Kirchenmann nicht unverschämt? Aus dem Präsidentenpalast in Brasilia kommen schließlich permanent positive Nachrichten über Wirtschaftswachstum, Rekordausfuhren und sozialen Fortschritt, was auch in Europa Beifall findet. Lange schlug der tropischen Fußballnation nicht mehr so viel Sympathie entgegen.
Doch Lancelotti zählt zu Brasiliens führenden Menschenrechtsaktivisten, kordiniert in Sao Paulo das weltweit einzige Vikariat für Obdachlose und sieht die riesigen, entsetzlichen Slums an den Peripherien der Millionenstädte auch unter der Lula-Regierung immer rascher wachsen. Vor der Kathedrale prangert er mit Gleichgesinnten an, daß ein im August 2004 an Obdachlosen verübtes Massaker immer noch nicht aufgeklärt ist, tatverdächtige Militärpolizisten unbehelligt bleiben. Acht Männer und Frauen wurden damals mit Eisenstangen totgeschlagen, weiteren sechs wurde der Schädel zertrümmert “ doch sie überlebten. „Das Blutbad gehört zur Schande Brasiliens”, so Lancelotti, „selbst Sklavenhalterkultur und Folter existieren weiter.” Der Padre erhält Morddrohungen, wurde mehrfach von Unbekannten attackiert, man setzte sogar einen bezahlten Killer auf ihn an. „Jetzt fürchten wir mehr denn je um sein Leben”, sagt die Deutsche Hedwig Knist, die seit acht Jahren in Sao Paulo die katholische Obdachlosengemeinde nahe dem Luz-Bahnhof leitet. Wegen der zunehmenden Arbeitslosigkeit verlieren immer mehr Familien ihre Bleibe, kampieren direkt an der Gemeindekirche, unter den vielen Hochstraßen Sao Paulos “ Szenen wie in Haiti, Kalkutta oder Lagos. Den Bessergestellten sind die Verelendeten vor allem in der City ein Dorn im Auge. An Lateinamerikas Leitbörse, protzigen Bankenpalästen, Oper und Pinakothek, Shopping Centers und Nobelrestaurants ärgern sich High Society und Schickeria über die zerlumpten, verzweifelten, teils übelriechenden und psychisch gestörten Gestalten, wollen von denen nicht angebettelt werden. Die vom sozialdemokratischen Bürgermeister Josè Serra geleitete Stadtverwaltung will deshalb das Zentrum jetzt von ihnen säubern. „Die sollen alle weg, an die überfüllte Peripherie, werden teilweise rausgeprügelt”, so Hedwig Knist, „immer mehr Obdachlose und Straßenkinder werden mißhandelt.” Natürlich wenden sich die Erzdiözese und ihre Obdachlosenseelsorge gegen eine solche Vertreibungspolitik, pochen auf die Menschenrechte der „Moradores da Rua”(Straßenbewohner). „Deshalb werden wir von den Autoritäten gehaßt.” Die Gemeindereferentin aus der Diözese Mainz macht interessante Rechnungen auf: Allein in der City stehen vierzigtausend Wohnungen leer “ mehr, als es Obdachlose in Sao Paulo gibt. Würde jede Firma der lateinamerikanischen Wirtschaftslokomotive einem einzigen Obdachlosen Arbeit geben, wäre das Problem aus der Welt. Was auch Hedwig Knist besonders provoziert: Sao Paulo ist Lateinamerikas reichste Stadt, Brasilien immerhin die vierzehnte Wirtschaftsnation – genügend Geld für Soziales ist de facto vorhanden. Spenden aus Deutschland wären gar nicht nötig. Doch im neoliberal regierten Brasilien wollen die Betuchten nicht abgeben, ist eine gerechtere Einkommensverteilung nicht in Sicht. Ohne Spenden kirchlicher deutscher Hilfswerke wie Adveniat wäre auch wirkungsvolle Obdachlosenbetreuung nicht möglich. „Hedwig hat mir Auswege gezeigt, mich in Momenten der Schwäche und Unsicherheit bestärkt, bis ich es geschafft habe”, sagt Eliana de Santana. „Mit meiner kleinen Tochter lebte ich im Dreck “ doch dank Hedwig und ihren Gemeindeprojekten konnte ich öffentliche Gesundheitsbetreuerin werden, habe jetzt eine winzige Wohnung.” Sie kümmert sich in der City um kranke Obdachlose, erzwingt notfalls deren Behandlung in Kliniken. „Straßenbewohner werden diskriminiert – eine Frau hat man vor der Hospitalpforte sterben lassen!” Hedwig Knist umarmt vorm Gottesdienst die über dreißigjährige Berenice. ”Zehn Jahre hauste sie wie ein Tier zwischen Müll “ jetzt macht sie Abendschule, arbeitet in der Gemeindewerkstatt, lebt in einem Wohnprojekt.
Obdachlose in Deutschland “ Obdachlose im riesigen Brasilien “ überhaupt kein Vergleich. Jene wenigen, die in deutschen Fußgängerzonen, auf Straßen und Plätzen betteln, schlafen, herumhängen, sind gegenüber ihren brasilianischen Schicksalsgenossen geradezu in einer luxuriösen Situation. Niemand käme auf die Idee, an denen von Berlin, Frankfurt oder München Massaker zu verüben, sie lebendig zu verbrennen, gar beim Vorbeifahren aus dem Auto heraus zu erschießen. In Brasilien ist das alltäglich, Sandra Stalinski aus Aschaffenburg erlebt es als „Missionarin auf Zeit” mit. „Von den Opfern in Sao Paulo habe ich einige gut gekannt, alles hilflose Menschen, die Schwächsten der Schwachen, gezielt ausgesucht. Ich bin deshalb psychisch richtig zusammengebrochen, habe stundenlang geweint. Die Tatorte sind ja immerhin mein Arbeitsbereich. Das Massaker, denke ich, wurde aus politischen Gründen kurz vor Kommunalwahlen inszeniert, um es politisch auszuschlachten.” Denn Sandra Stalinski macht der ganze Medienrummel um den Fall stutzig, die gegenseitigen Anschuldigungen der Politiker. Soviel öffentliche Resonanz sei nicht normal, man hätte alles auch unter den Tisch kehren können.
–„Ich bin kein Mensch, ich bin Müll””
Wie üblich, wenn es „Sem-Teto”, Obdachlose, trifft, die häufig von der autoritären, egozentrischen Gesellschaft Brasiliens wie Nicht-Menschen betrachtet werden. „Man setzt sie mit Müll gleich. Und das Schlimme ist: Die Obdachlosen sagen selber schon, ich bin kein Mensch, ich bin Müll.” Um so nötiger ist soziale Betreuung, die „Missionaria” Stalinski nicht etwa weit entfernt an der Slumperipherie, sondern sogar mitten in der modernen City, neben dem pompösen Gebäude der lateinamerikanischen Leitbörse und den Großbanken, unweit feiner Manager-Restaurants, leistet. Oder selbst auf den Stufen der Kathedrale, oft gleich unter Gruppen tief verzweifelter, teils stark betrunkener Obdachloser. Unter all den Menschenmassen quält diese, einsam, ausgestoßen, ausgeschlossen zu sein “ um so dankbarer für Hilfe, ein tröstendes Wort, ein Gespräch.
„Auf dem Platz davor sieht man alles “ Überfälle, Streit und Tod.” Denn die skandalösen Sozialkontraste Brasiliens liegen noch so offen wie zur Sklavenzeit: Manager in feinem Tuch, aufgeputzte Chefsekretärinnen kreuzen in Sao Paulos Innenstadt tagsüber alle paar Schritte Obdachlose, Bettler, Verkrüppelte, gar alte, zerlumpte schwarze Frauen, die sich ächzend vor hochbeladene Lastkarren spannen. Das Massaker geschah just in der trubeligen City “ nur zu viele der Privilegierten haben sich an den Anblick jener etwa 16000 Straßenbewohner Sao Paulos, „Moradores da Rua”, schlichtweg gewöhnt, nehmen sie kaum noch wahr, unglaubliche Indifferenz dominiert. In Deutschland gäbe es nach solchen Untaten einen öffentlichen Aufschrei “ hier stößt Sandra Stalinkski sogar während eines kleinen Protestmarsches auf offene Abweisung “ ihre Flugblätter werden von nicht wenigen Schlipsträger aus Banken, Geschäftshäusern abgelehnt:”Nee, kannste behalten, interessiert mich nicht. Da ist mir die Galle hochgekommen “ soviel Ignoranz!” Obdachlosen, so sagen viele, „verschmutzen” das Stadtbild, verrichten ihre Notdurft überall “ auch wegen ihnen stinkt es in den brasilianischen Großstädten vielerorts barbarisch nach Urin und Menschenkot.
Sandra Stalinski arbeitet vorwiegend in einem Nachtasyl für 120 Männer, wird zwangsläufig Expertin in hausgemachter brasilianischer Sozialproblematik, auch brasilianischer Religiosität. Denn überall stößt sie auf einen ihr völlig neuen Bezug zu Gott:”Die Brasilianer sind viel religiöser als wir Deutschen, leben den Glauben wesentlich emotionaler, feiern Gottesdienste viel gefühlvoller, mit Liedern und Gesten. Man tanzt dort sogar, was ich gleich gar nicht kannte. Auch die Obdachlosen sind religiös und sagen, daß es letztendlich in Gottes Hand liege, ob sie sich aus dieser Situation befreien können. Sie sind fatalistisch, passiv, finden sich mit ihrem Schicksal ab, meinen, daran nichts ändern zu können. Ihre Lage sei scheinbar Gottes Wille. Und so eine Haltung kritisiere, hinterfrage ich natürlich.” Doch kaum Resonanz, wie die Missionarin verkraften muß. „Mit denen darüber zu reden, ist ganz schwierig, da habe ich eigentlich keine Chance.” Sie beobachtet zudem, wie sogar direkt vor der Kathedrale tagtäglich zahlreiche Sektenprediger agieren, mit der Bibel in der Hand allen Ernstes wie wild herumspringen. Das einerseits so moderne Sao Paulo ist auch Zentrum archaischster Wunderheiler-und Exorzisten-Sekten, die man bestenfalls weit im Hinterland vermutet hätte. „Ich empfinde das schockierend, laufe in den Straßen an Hallen vorbei, wo gerade ein Sektenpriester schreit, über den Satan spricht. Manche Obdachlose erzählen von Sekten, haben einen sehr fundamentalistischen Glauben, nehmen die Bibel wortwörtlich. Bei ihnen hat jedes zweite Wort mit Gott zu tun. Auf der Straße, unter den Obdachlosen gibts alle möglichen Religionen, wahnsinnig viele Freikirchen. Wir sind daher in den Projekten von „Rede Rua” ökumenisch, nicht nach einer bestimmten Religion ausgerichtet, halten keinen rein katholischen Gottesdienst, aber Gebetsstunden ab, feiern natürlich religiöse Feste wie Ostern und Weihnachten. Ganz besonders wichtig für die Bewohner der Straße.”
Die ganze zwiespältige, komplexe, widersprüchliche Obdachlosenproblematik wird von der Missionarin sachlich, illusionlos gesehen, ohne sozialromantische Scheuklappen. Da in Brasilien ein soziales Netz wie in mitteleuropäischen Ländern fehlt, geht der Absturz in die Obdachlosigkeit ganz rasch, oft von heute auf morgen. ”Man verliert die Arbeit, dann ganz schnell auch die Wohnung “ und wohin dann? Auf die Straße.” Andere sind aus tausende Kilometer entfernten Regionen Brasiliens quasi nach Sao Paulo eingewandert, hofften in der Industriestadt auf einen Job, hörten wohl nichts von grassierender Rekordarbeitslosigkeit.
–Machismus, Alkoholismus und harte Drogen”
„Wenn Ehen auseinanderbrechen, gehen die Männer oft aus Wut und Trotz einfach weg, landen auf der Straße – fast nie die Frauen. Das hat viel mit dem lateinamerikanischen Machismus zu tun. Die Männer sind unheimlich stolz, sehr machistisch, sehen es nicht ein, etwa ihren Teller abzuwaschen, ihre Sachen zu säubern. Und bei Entlassung halten sie es einfach nicht aus, daß die Frau für den Lebensunterhalt der Familie sorgt “ und flüchten einfach, greifen zur Flasche.” Absurderweise ist simpler Zuckerrohrschnaps, Cachaca, in Brasilien billiger als Milch “ was würde sich in Deutschland abspielen, wenn der Liter Wodka oder Korn weit weniger als einen Euro kostete? „Für die brasilianischen Männer ist es fast normal, Cachaça zu trinken und in einer schwierigen Situation in den Alkoholismus abzurutschen.” Kokain, Crack kosten im Vergleich zu Deutschland ebenfalls nur Spottpreise, sind daher selbst für Slumbewohner erschwinglich. Schnaps, Rauschgift dienten zum Ruhigstellen von Problemgruppen, etwa Strafgefangenen, würden deshalb in die Knäste bewußt hineingelassen “ sagen selbst katholische Pfarrer. „In unserem Nachtasyl sind 98 Prozent alkohol-oder drogenabhängig”, so Sandra Stalinski, „ein Problem, mit dem wir ganz viel zu kämpfen haben, das sie aber nicht thematisieren.” Abends deshalb immer dasselbe Ritual: „Wenn die Leute unheimlich betrunken ankommen, würden sie in der Herberge Streit anfangen, gäbe es Konflikte. Also lassen wir sie erst vor der Tür warten, etwas nüchterner werden.” Bei den Männern stößt sie teils auf tiefste Verwahrlosung, gar Verrohung “ auf einen Teufelskreis, nur ganz schwer zu durchbrechen. Denn das Leben auf der Straße ist unbeschreiblich hart, auch grausam:”Da kann man nicht zartbesaitet sein, da muß man auch zum Messer greifen und töten, um sein eigenes Leben zu schützen “ diese Leute leben in einer ganz anderen Welt.” Viele lehnen es ab, nachts eine Herberge aufzusuchen, weil sie sich dort bestimmten Gemeinschaftsregeln unterwerfen müßten:”Da wird man nur gedemütigt, ich bin doch kein Hund, der an der Kette laufen muß!” Sie schlafen lieber in der „Freiheit” der Straße, trotz aller Gefahren. Doch jenen „Sem-Teto”, die in Sandra Stalinskis Asyl kommen, soll ihre Autonomie, Selbständigkeit wiedergeben werden “ dafür dienen die Seelsorge, die unzähligen stundenlangen nächtlichen Einzelgespräche, all die Kurse. „Wir wollen nicht, daß sich die Leute an das Straßenleben gewöhnen, nur jeden Abend im Asyl essen, duschen, schlafen, ohne etwas dafür tun zu müssen. Das kann zu einer Form von Bequemlichkeit werden. Es gibt Leute, die das Asyl als angenehme Möglichkeit empfinden, Geld einzusparen “ weil sie weniger verdienen oder auch weniger arbeiten.” Sandra Stalinski macht mit allen Kunstworkshops, malt, zeichnet mit ihnen, entdeckt die unglaublichsten Talente. Was denken sie über Deutschland? „Das Paradies, das gelobte Land, wo jeder reich ist, das Geld schier vom Himmel fällt.” Doch was weiß der deutsche Normalbürger über Brasilien? „Fußball, Samba, Caipirinha, Rio de Janeiro und die Strände als weltweit verkauftes Markenzeichen “ das Elend hier ist in Deutschland niemandem bewußt.”
An der Peripherie Sao Paulos wachsen die Slums um über zehn Prozent jährlich, das Obdachlosenproblem verschärft sich zunehmend. „Weitere Massaker können geschehen”, schreibt die kleine Zeitung des „Rede-Rua”-Hilfswerks, bei der Sandra Stalinski ebenfalls mitarbeitet. „Präfektur, Staat und die Obdachlosen selber müssen endlich aktiv werden!”
In Rio de Janeiro ist die Lage keineswegs anders “ die nach dem Diktator, Judenhasser und Hitlerverehrer Getulio Vargas benannte City-Avenida wird nachts zum Schlafsaal. Auf einem Kilometer nächtigen stets rund zweihundert Obdachlose. In Sao Paulo sprießen überall „Mini-Favelas” gar an Straßenecken, Fabrikmauern. Diözese-Soziologin Eva Turin analysiert, daß die Gesellschaft heute abgrundtief individualistisch, immer weniger solidarisch sei. Daß die Gutbetuchten der besseren Viertel ihren Konsumismus, den zunehmend stärker konzentrierten Reichtum nicht etwa verstecken, sondern sogar immer offener zur Schau tragen, sei „eine Aggression, eine Provokation, ein direkt obszöner Akt gegenüber den Armen.” So wie an der Avenida Paulista “ „der eine liegt krank vor Hunger auf der Straße, der andere fährt mit dem Importauto für hunderttausend Dollar vorbei.” Eva Turin meint, daß die Mittel-und Oberschicht diese Sozialkontraste bewußt verdrängt. „Die Deutschen hier, von Ausnahmen abgesehen, verhalten sich sogar wie die Elite der Elite, beziehen keinerlei kritische Position, solidarisieren sich nicht, erscheinen auch nicht bei uns in der Kirche.”
Marcio Pochmann, renommierter Wirtschaftsexperte von der Universität UNICAMP in Campinas, sieht einen Zusammenhang zwischen Bereicherung und Dekadenz. Die Reichen von heute entstammten immer weniger den legalen produktiven Sektoren der Gesellschaft, Geldgier mache sie zunehmend entfremdeter. Der Prozeß unproduktiver Bereicherung gehe unverändert weiter, damit auch die sozioökonomische Dekadenz im Lande.

antimendigosaobernardo.jpgSogenannte „Anti-Bettler-Architektur“(Architectura Anti-Mendigo) vor der Filiale einer Großbank in Sao Bernardo do Campo. Damit soll in diesem Falle verhindert werden, daß Obdachlose und Bettler, geschützt vor Regen, diese Stelle nachts als Schlafplatz nutzen. Ein Obdachloser hat sich indessen mit einer festen Unterlage beholfen. Andere Banken und Geschäftshäuser haben Sprüheinrichtungen installiert, mit denen Obdachlose durch stinkende Flüssigkeiten oder Wasser vertrieben werden.

Text von 2004:

Massaker an Obdachlosen in Sao Paulo – sechs erschlagen, neun in Lebensgefahr

Kirche kritisiert politische Autoritäten

Beinahe täglich werden in Brasilien schlafende Obdachlose lebendig verbrannt, erschlagen, erschossen, ohne daß die Öffentlichkeit davon noch groß Notiz nimmt. Bestenfalls eine kleine Zeitungsmeldung, mehr nicht. Doch derzeit ist Wahlkampf in dem Tropenland “ und das neueste Massaker geschieht ausgerechnet unweit von Lateinamerikas Leitbörse, in der City der reichsten “ und gleichzeitig miserabelsten “ südamerikanischen Metropole Sao Paulo, mit über tausend deutschen Unternehmen. In zwei nächtlichen Attacken schlagen Unbekannte insgesamt fünfzehn Obdachlosen offenbar mit Eisenstangen den Schädel ein “ sechs, darunter zwei Frauen, eine 47, die andere 54 Jahre alt, sterben an den Verletzungen, die restlichen schweben in Lebensgefahr. Wieder das Werk von Todesschwadronen, nazistischen Skinheads, „soziale Säuberung” im Auftrage von Geschäftsleuten, Ladeninhabern? Bisher fehlt angeblich eine heiße Spur. Auf einem Protestgottesdienst vor der Kathedrale Sao Paulos verurteilt Kardinal Claudio Hummes am Wochenende vor fünftausend Gläubigen die Taten als grausamen Akt der Barbarei, klagt die verantwortlichen Autoritäten an:”Die Ärmsten der Armen werden jeglicher Gewalt ausgeliefert, sind völlig schutzlos “ es fehlt politischer Wille, um ein weiteres Massaker zu verhindern. Denn an Geldern fehlt es hier nicht, Sao Paulo hat das größte Steueraufkommen des Landes.”  Neben ihm stehen immerhin Brasiliens Justizminister Thomaz Bastos sowie  Sao Paulos Präfektin Marta Suplicy, Vizechefin der sozialdemokratischen Arbeiterpartei(PT) von Staatspräsident Luis Inacio Lula da Silva. Im Oktober will sie wiedergewählt werden “ das Massaker kommt im ungünstigsten Moment. Einst hatte sie versprochen, alle Obdachlosen von der Straße zu holen, allen eine Bleibe zu beschaffen. Doch selbst laut Präfekturangaben gibt es immerhin zehntausend jener „Moradores da Rua”, Straßenbewohner -  allein in der City rund um das pompöse Gebäude der Leitbörse und der Großbanken etwa zweitausendfünfhundert.  Ein treffendes Symbol der krassen, skandalösen Sozialkontraste jener drittgrößten Stadt der Welt, in der sich die Wohlhabenden hinter hohen, stacheldrahtbewehrten Mauern in ihren wohlbewachten Ghettos abschirmen, doch die Elendsviertel der Peripherie jährlich um über zehn Prozent wachsen. Padre Julio Lancelotti von der Obdachlosen-Seelsorge kennt das soziale Profil jener „Moradores da Rua” ganz genau “ die allermeisten haben eine Arbeit “ ob als Tagelöhner, Wagenwäscher, Bauarbeiter, Hausdienerin, Straßenhändler, Altpapiersammler “ doch bei Stundenlöhnen von nicht selten unter fünfzig Cents umgerechnet, ist selbst die primitivste Mini-Wohnung unerschwinglich, oder die tägliche Heimfahrt zur Slumkate in den Außenbezirken viel zu teuer.  Alles Folge neoliberaler Politik, deutlich sinkender Reallöhne “ was die Bischofskonferenz immer wieder anprangert. Also übernachten viele Tausende notgedrungen gleich unweit ihrer Arbeitsstelle “ auf der Straße, unter Brücken, auf Plätzen. Was viele Bessergestellte einfach störend finden. „Die Unsensibilität der Gesellschaft gegenüber diesen Obdachlosen ist riesengroß”, sagt Lancelotti, „ich beobachte das hier in Sao Paulo schon seit langem. Ein Menschenleben hat in Brasilien nur wenig Wert, Gewalt wird banalisiert. Doch solch ein Massaker, mit so vielen Toten,  hat es in dieser Millionenstadt noch nie gegeben. Wir von der Seelsorge haben sofort versucht, die Öffentlichkeit, die Menschenrechtsorganisationen zu mobilisieren “ mit Kardinal Hummes bin ich täglich bei den Überlebenden in den Hospitälern.”Â

Verbrechen dieser Art machten bereits international Schlagzeilen: 1993 werden an der Candelaria-Kirche von Rio de Janeiro acht von fünfzig dort schlafenden obdachlosen Straßenkindern durch Militärpolizisten erschossen. Und 1998 wird der an einer Haltestelle der Hauptstadt Brasilia übernachtende Indio-Häuptling Galdino dos Santos von fünf jungen Männern aus der Mittel-und Oberschicht lebendig verbrannt. Auch über das neueste Massaker werden Menschenrechtsorganisationen die UNO unterrichten. In europäischen Ländern, vermerken Brasiliens Qualitätsmedien, gäbe es jetzt einen öffentlichen Aufschrei – in Brasilien sei indessen die Empörung recht gering. „Manche fühlen sogar Erleichterung “ einige Arme, und damit auch einige Probleme weniger.”

Kuba-Systemvergleich:

http://www.hart-brasilientexte.de/2016/05/03/kuba-2016-islamisierung-und-forcierte-installierung-des-organisierten-verbrechens-treiben-dem-islamisierungsfreien-nationalstaat-immer-mehr-touristen-zu-denen-frueher-weit-mehr-interessante-urlaubsz/

Klaus Hart: Gangster, Favelados, Bischöfe. Sozialreportagen aus Brasilien. Brasilienkunde-Verlag Mettingen, 307 Seiten.

GangsterFaveladosBischöfe

 

Dieser Beitrag wurde am Sonntag, 11. Mai 2008 um 16:18 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Kultur, Politik abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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