Biosprit macht Arme hungriger
Hungeraufstand in Haiti. Reis, Brot und Bohnen wurden zu teuer für die verarmte Bevölkerung. Brasilianische Blauhelme müssen den Präsidentenpalast in Port-au-Prince mittels Gummigeschossen und Tränengas vor den revoltierenden Menschen verteidigen. Doch nicht nur in der Karibik. Extrem angestiegene Lebensmittelpreise trieben die Menschen ebenso in mehreren afrikanischen Staaten wie Kamerun, der Elfenbeinküste und Burkina Faso auf die Barrikaden.
 Laut Welternährungskommission (FAO) habe sich der Weltmarktpreis der beiden Hauptgrundnahrungsmittel, Reis und Weizen gegenüber 2007 verdoppelt. Schon seit 2005 hatten die Preise vor allem für Weizen, Mais und Milchprodukte kräftig um bis zu 90 Prozent angezogen, was gerade Familien in von Nahrungsmittelimporten abhängigen Entwicklungsländern betrifft. Sie müssten bereits, so die FAO, bis zu 80 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben. Und ein Ende der Preisspirale ist nicht abzusehen. Eine der diskutierten Ursachen: Agrarsprit. ”Biotreibstoffe sind ein Verbrechen gegen die Menschheit”, kritisiert der UN-Sonderberichterstatter für das Menschenrecht auf Nahrung, Jean Ziegler, angesichts der sich verschärfenden globalen Nahrungsmittelkrise. Auch für Weltbankpräsident Robert Zoellick seien Biotreibstoffe „ohne Zweifel ein wichtiger Faktor der globalen Preissteigerung.”  Luiz Inácio Lula da Silva, Präsident des weltweit größten Ethanolproduzenten, Brasilien, und globaler Förderer der Agrarenergie allerdings sieht das anders. Der Sprit vom Acker trage keine Schuld an der gegenwärtigen Hungerkrise. Es werde einfach weltweit zu wenig Nahrung produziert und gleichzeitig mehr, vor allem in Indien und China konsumiert. Generell weist Lula da Silva jegliche Kritik an seinem Pro-Bioenergiekurs zurück. In Brasilien geschehe der Ausbau des Agrarspritsektors weder auf Kosten des Amazonasregenwaldes noch auf Kosten der Nahrungsmittelproduktion, versichert der Präsident. Und sein Agrarminister Reinhold Stephanes legt nach: in Brasilien gebe es keine Konkurrenz zwischen Ethanol und Nahrung. Das Land sei seit Jahren einer der Welt größten Exporteure von Fleisch, Zucker, Kaffee und vor allem Soja, ohne dass die eigene Bevölkerung Hunger leide. Trotz der Ausweitung des Agrarenergiesektors würden Brasiliens Nahrungsmittelexporte stärker anwachsen als die Exporte der USA. Deshalb bewertet Präsident Lula die extrem hohen Weltmarktpreise für Lebensmittel auch positiv, füllen sie doch die Taschen von Brasiliens Weltmarkt abhängigen Großgrundbesitzern wie Soja-Baron Blairo Maggi. So berichtete kürzlich die Folha de Sáo Paulo, dass die explodierenden Sojapreise “ von rund 8 US-Dollar je Sack Sojabohnen auf 28 US-Dollar “ in nur wenigen Monaten Dutzende von Agrarinvestoren in Brasilien zu Multimillionären machte.Â
Bohnen um 150 Prozent teurer
 Das Gros der eigenen Bevölkerung allerdings hat unter dieser Agrarindustriepolitik genauso wie die Haitianer zu leiden. Zahlen des IBGE (Instituto Brasileiro de Geografia e EstatÃstica) zufolge müssen die Menschen des größten lateinamerikanischen Landes seit über einem Jahr gleichfalls mit extrem angezogenen Lebensmittelpreisen leben. Hauptgrundnahrungsmittel Bohnen kosten heute im Schnitt über 150 Prozent mehr als im vergangenen Jahr, so die Erhebung des Departamento Intersindical de EstatÃsticas e Estudos Socioeconômicos (Dieese). Auch die tägliche Semmel ist in Brasilien so teuer wie seit Jahren nicht mehr. Schuld sei der Weizenpreis, der in den vergangenen 12 Monaten um 45,69 Prozent anzog, berichtet die Fundaçáo Getúlio Vargas (FGV). Entgegen der Behauptung der Regierung Lula nahm der Anbau von 32 traditionellen Nahrungsmittelpflanzen der brasilianischen Bevölkerung im vergangenen Jahr ab, so das landwirtschaftliche Institut (Instituto de Economia AgrÃcola). Reis verlor um 10 Prozent, Bohnen um 13 Prozent, Kartoffeln um 14 Prozent, Tomaten um 12 Prozent und Maniok um drei Prozent an Boden, während Zuckerrohr zulegte: Von 5,6 Millionen Hektar im Jahr 2005 auf 6,7 Millionen im Jahr 2007 und über 7,2 Millionen Hektar in diesem Jahr.
 Kleinbauern ernähren BrasilienÂ
Obwohl Brasiliens Großgrundbesitzer und internationale Investoren wie George Soros 43,7 Prozent der brasilianischen Anbaufläche besitzen, sind es die Kleinbauern, die bis heute den Großteil der Bevölkerung ernähren. Etwa 70 Prozent der in Brasilien verbrauchten Nahrungsmittel stammen von ihren Äckern und Weiden. Doch gerade sie verlieren tagtäglich an Boden, weil sie sowohl der Agrarindustrie wie der industriellen Entwicklung im Wege sind. Präsident Lula hat deshalb in einem Punkt recht. Man kann die Teuerung der Nahrungsmittel nicht nur dem Ethanol anlasten. Schuld sind auch Bodenspekulation, Zersiedelung und großindustrielle Projekt wie der erst vor wenigen Tagen von Lula auf den Weg gebrachte Chemiekomplex von Itaborai vor den Toren Rio de Janeiros. Das über acht Milliarden Dollar teure Mega-Projekt zur Verarbeitung von nationalem Schweröl wird exakt auf einem der fruchtbarsten landwirtschaftlichen Gebiete Rio de Janeiros errichtet, mit der Folge, dass die rund 11-Millionen Einwohner zählende Metropole über kurz oder lang eine der wichtigsten Nahrungsmittel produzierenden Regionen verlieren wird. Ähnliches geschieht gerade durch die Ausweitung der Eukalyptusplantagen zur Zellstoffproduktion “ geplant ist auch die Herstellung von Zellulose-Ethanol – in Südbahia und vor allem in Rio Grande do Sul. Dort, im äußersten Süden Brasiliens wird zwar kein „Amazonasbaum” gefällt, doch werden Zehntausende von Hektar Pampa – ein Naturweide-Ökosystem, auf dem seit Generationen extensive, faktisch ökologische Rinderzucht betrieben wird – in Pestizid verbrauchende und Grundwasser belastende Baummonokulturen umgewandelt. Zellstoff und Zellulose-Alkohol statt gesundem Weidefleisch und Milch.Â
Nahrung ist nicht gleich NahrungÂ
Genau dies ist der für Bevölkerung und Ökologie zu bedauernde Prozess, der sich schon seit den 1970er Jahren mit Regierungshilfe fortsetzt und sich nun im Zuge der neuen Agrarenergie-Investitionen beschleunigt: Die Vernichtung von lokalen Nahrungsmittelressourcen zugunsten einer industriellen Landwirtschaft -und Nahrungsmittelproduktion kontrolliert von wenigen Großgrundbesitzern und transnationalen Konzernen. Gesunde, einfache Grundnahrungsmittel wie beispielsweise Pampa-Rindfleisch oder Eier von freilaufenden Hühnern von Kleinbauern sind dabei ein seltenes Luxusprodukt zu werden. Auf dem größten Bauernmarkt von Rio zum Beispiel, der Feira da Gloria, gibt es inzwischen nur noch zwei Anbieter von Eiern traditioneller Hühnerrassen, und der Preis hat sich in den vergangenen sechs Monaten um 50 Prozent erhöht, während der Markt von „billigen” Eiern aus Legebatterien, gefüttert mit Soja-Mehl, regelrecht überschwemmt wird.Â
Lula will mit Ethanol Hunger bekämpfenÂ
Doch für die Regierung Lula ist dieser Verlust an umweltfreundlicher, das Klima schützender regionaler Produktion und Nahrungsmittelvielfalt kein Thema: Ihr Motto lautet: Mit Ethanolplantagen den Hunger in den Entwicklungsländern bekämpfen. So diktierte es der Präsident bereits 2007 den schwarzafrikanischen Staaten. Oder anders ausgedrückt: Wer Hunger hat, brauche keinen eigenen Nahrungsmittelanbau, sondern einen Job in der Ethanolproduktion, um sich die industrialisierten Nahrungsmittel des Weltmarkts im Supermarkt zu kaufen. Um Haiti aus seiner seit Jahren chronischen „Hungermisere” zu helfen hat die brasilianische Regierung deshalb auch schon 2006 mit der haitischen Regierung ein Abkommen zur Förderung der Ethanolindustrie auf der Insel abgeschlossen. Statt Nahrung für die hungernde Bevölkerung anzubauen, sollte Haiti zum preisgünstigen Agrarspritproduzenten werden.Â
Regen oder Traufe?Â
Die gerade von deutschen Politikern heftigst diskutierte Frage, ob der vermehrte Konsum von Fleisch aus der Massentierhaltung oder der Biodieselboom die Hauptursache der globalen Lebensmittelteuerung sind, ist im übrigen lediglich ein Scheingefecht. Beides nämlich treibt die Preise in die Höhe, und beide haben in Brasilien denselben „Hauptrohstoff”, Soja, der mit steigender Nachfrage eben teurer wird, was wiederum Anreiz zur Ausweitung der Anbauflächen ist. Dasselbe gilt für Ethanol aus Zuckerrohr. Mit anziehenden Preisen expandieren die Zuckerrohrfelder und zwar vor allem auf fruchtbaren, Maschinen gerechten Böden, weil sich dort die Investitionen der Agrarindustrie rasch bezahlt machen. Der Futtermittel- oder Agrarspritanbau auf – durch Abholzung und Raubbau – bereits degradierten Flächen indes ist kostenintensiv und sehr zeitaufwendig und deshalb für Investoren unattraktiv. Das von Regierung und Biospritlobby regelmäßig angeführte Argument, Brasilien habe über 100 Millionen Hektar brachliegende oder degradierte Flächen zur Ausweitung der Agrartreibstoffe zur Verfügung, ist deshalb lediglich ein billiges Propagandamittel, um den brasilianischen Agrarsprit für die europäischen Konsumenten ökologisch rein zu waschen. Â
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/768424/
”Preissteigerungen bei Lebensmitteln sind ein Motiv für Fröhlichkeit, sagte Brasiliens Staatschef Lula in Holland laut Presseberichten.
Weil die Armen der Welt mehr essen, so Lula gemäß ”Folha de Sao Paulo, erhöhe sich die Nachfrage nach Lebensmitteln, damit auch die Inflation in einigen Ländern. ”Erstens müssen wir alle Gott danken, daß das Volk mehr zu essen hat. Und wenn der Arme mehr Zugang zu Lebensmitteln hat, ist das eine Alegria imensa. Und zweitens gibt es noch eine andere Alegria: Dann nämlich, wenn alle Welt etwas mehr produziert, wird es mehr Reichtum, mehr Arbeit und weniger Inflation geben. Zu Einwänden, die Lebensmittelproduktion werde negativ beeinflußt durch die Herstellung von Agrotreibstoffen, sagte Lula: ”Kommen sie mir nicht mit diesen Redensarten, wonach die Agrotreibstoffe zu einer Preiserhöhung bei Lebensmitteln geführt haben.
Laut ”Folha de Sao Paulo setzte Lula auch auf dieser Europareise seine Werbung für brasilianische Agrotreibstoffe fort, während Hollands Premierminister Jan Peter Balkenende kritisch auf die Umweltaspekte verwiesen habe. Â
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