Klaus Hart Brasilientexte

Aktuelle Berichte aus Brasilien – Politik, Kultur und Naturschutz

„Mulata do Gois 2009″ – Videos über die Karnevalsmulattin jeder Spitzen-Sambaschule Rio de Janeiros. Kulturphänomen Rio-Karneval.

Die Kandidatinnen zum Anklicken: http://oglobo.globo.com/rio/ancelmo/vote/

Fotostrecke 2008: http://www.hart-brasilientexte.de/wp-content/themes/red-minimalista-2.3/fotostrecke/html/fotostrecke-start.html

Karneval in Rio – jedes Jahr unvergleichlich anders – ein Hintergrundtext von 2003:
Fällt in Deutschland das Wort „Karneval“ – verknüpft mit Köln, Mainz, Rio – winken kopflastige „Progressive“ gewöhnlich ab. Carnaval – out, gräßlich, furchtbar, ja nicht – ein Unwort. Indessen geradezu ein Verbrechen, ausgerechnet den Karneval von Rio in einem Topf mit dem westdeutschen zu werfen. Denn der unterm Zuckerhut ist zuallererst ein Kunstwerk, die grandiose kulturelle Leistung einer von grausamsten Widersprüchen gezeichneten Stadt der Dritten Welt. Orientiert an oberflächlichen Fernsehbildern, glauben viele allen Ernstes, die berühmte Parade der Sambaschulen sei vor allem ein kommerzielles Touristenspektakel, von dem die Armen, Verelendeten weitgehend ausgeschlossen sind. Noch so ein unausrottbares Brasilien-Klischee. Stutzig machen sollten Basis-Fakten: Über fünfzig Sambaschulen, fast alle in den Slums, „Favelas“ – Hunderttausende ihrer Bewohner bereiten dort über Monate jene ausgefeilte, gut durchkomponierte, jährlich bessere Mischung aus Oper, Ballett, Theaterstück, Musical, Kabarett vor, mit der dann jede „Escola de Samba“ schließlich während der vier, fünf tollen Tage auf die Piste geht. Jede Sambaschule beschäftigt zudem Schauspieler, Musiker, Kostüm-und Maskenbildner, präsentiert ihr Defilee-Thema mit nicht weniger als fünftausend, sechstausend Laiendarstellern – die allermeisten aus dem Slum. Ungezählte Details, die man – wie bei einem Bühnenwerk vorher im Programmheft erklärt – eigentlich kennen muß, um den Kontext, den ganzen Inhalt zu verstehen. Rio-Karneval ist auch eine Wissenschaft, mit der sich Soziologen, Anthropologen, Musikexperten, Doktoranden befassen.

An der vergleichsweise extrem platten, unbeholfen steif wirkenden Rosenmontagsparade von Köln oder Mainz sind gerade um die zweitausend Karnevalisten beteiligt – gemessen an den Dimensionen Rios also kaum der Rede wert.

Schuhputzer, Tagelöhner als erfolgreiche Komponisten

Bereits jetzt, kurz nach dem jüngsten Karneval, laufen die Vorbereitungen für den nächsten, grübeln in jeder Sambaschule bereits unzählige Laienkomponisten, wie das Motto für 2004 musikalisch umgesetzt werden kann. Schuhputzer, Hilfsarbeiter in ärmlichsten Verhältnissen hatten bereits die zündendsten Ideen, siegten bei den Wettbewerben um den Samba-Enredo, mit dem es dann im Frühjahr auf die Sambodrome-Piste ging, konnten es kaum fassen, ihren Samba auf CD gepreßt zu sehen, in den Radios zu hören.

Immer wieder aufschlußreich, deutsche Parade-Zuschauer bei dem schwierigen Versuch zu beobachten, diese mit Abstand größte Show der Welt irgendwie politisch, soziokulturell „einzuordnen“. Festgeklammert am Caipirinha-Glas fragt sich mancher – darf ich das denn gut finden, muß ich das nicht schärfstens verurteilen – hier diese Euphorie, Ekstase, verschwenderisch-teure Kostüme, Allegorienwagen – und dahinten die Hügelslums mit denen, die nichts, oder kaum was zu fressen haben? Selten werden Brasiliens Widersprüche deutlicher sichtbar als beim Rio-Karneval – und die Sambaschulen legen Wert darauf, sie immer deutlicher herauszustellen. Wer als Mitteleuropäer in Rio nur zuschaut, seine Berührungsängste, die üblichen Ängste vor Körperkontakt nicht überwindet, ist eigentlich verloren – das weltweit einmalige, auch in Brasilien konkurrenzlose Kulturphänomen Rio-Karneval erschließt sich nur übers intensive Mitmachen, vor allem bei der Parade, aber auch den Bällen, dem Karnevalszug des uralten Bola-Preta-Clubs am Opernhaus.
Bom – nun ist meine Sambaschule „Portela“ leider nur Achter geworden – ich werds verschmerzen. Denn unser Defilee – ich zum xten Mal mittendrin – war wieder der reinste, schönste Lustgewinn pur. Die vierzehn Sambaschulen der Spitzenliga, darunter meine „Portela“, investieren am meisten – jede umgerechnet bis zu drei Millionen Euro. Kostüme können bis zu 150000 Euro kosten, doch vielen reicht Körperbemalung. Eine Jury bewertet jede „Escola de Samba“, denn es geht ja um Sieg und Platz. Elektrisierend, wenn mit Trillerpfeifen die letzten Kommandos gegeben werden, unsere hundertköpfige Bateria, bestimmt die beste des Erdballs, wie wild lostrommelt, Böller krachen, ein irrsinniges Feuerwerk in den nächtlichen Rio-Himmel schießt, unser tausendfacher Glücks-und Begeisterungsschrei die über hunderttausend auf den Rängen des Sambodroms ansteckt, mitreißt wie unser Samba, Leitmotiv der Farbenorgie. Und der Trommelrhythmus uns anfeuert, anregt wie Champagner und zehn starke Expressos zusammen, zu den irrwitzigsten improvisierten Schrittkombinationen anstachelt. Portela singt, tanzt, zeigt die wechselvolle Geschichte des City-Altstadtviertels „Cinelandia“ – Treffpunkt der Cineasten, der Intellektuellen, Bohemiens, der Regimegegner und Stadtguerilleiros während der Militärdiktatur – die Namen, die Figuren, die besten Filme, Shows, Stücke, Episoden auch durch enorme Allegorienwagen dargestellt. Jeder einzelne Block hunderter Tänzer, so wie meiner der Harlekins – eine spezielle Idee, ein Kapitel des Cinelandia-Stücks. Und über fünftausend im eigentlich unbeschreiblichen Cinelandia-Sambarausch – hinterher, am Pistenende das Gefühl, ein anderer Mensch zu sein, irgendwie bewußtseinserweitert, mit anderem Sinn, anderer Sensibilität für die Realitäten.

Irak-und Rio-Krieg als Karnevalsthema – „Schluß mit der Geldgier!“-

Die traditionellste Sambaschule Rios, Mangueira, bringt grandios Hebräer, Ägypter zu Zeiten von Ramses, selbst Moses auf die Parade-Bühne, tippt die Nahostkonflikte, den drohenden Irak-Ölkrieg der USA an – Friedensappell im Karneval – selten war das größte Volksfest der Erde so politisch, so realitätsorientiert. Kein Wunder – erstmals mußte der Carnaval wegen des zugespitzten Rio-Stadtkriegs der hochgerüsteten Banditenmilizen von den Streitkräften beschützt werden, gab es dennoch heftige, stundenlange Feuergefechte in Slums, an Stadtautobahnen, wurden sogar gleich neben dem Sambodrome im Trubel Leute erschossen, verwundet. Im extrem widersprüchlichen Brasilien geht all dies zusammen, für Europäer meist schwer begreiflich.
Mangueira verfehlt knapp den Paradesieg – Beija-Flor gewinnt mit nur einem Punkt Vorsprung – und dem sozialkritischsten Defilee: Misere, Hunger, Gewalt, soziale Kontraste, Tragödien Brasiliens – mit großartigen Szenen wie im Ballett, wie im politischen Theater. Ein Zitat aus dem Samba-Enredo, achtzig Minuten lang ununterbrochen lauthals gesungen, alles im Fernsehen übertragen:“Schluß mit diesem elend niedrigen Lohn, ich bin am Ersticken, beinahe am Ende, schreie es heraus. Schluß mit dieser Geldgier, ewig tolerieren wir die nicht.“
Rio-Karneval – Opium fürs Volk? Klingt nicht grade so, viele Sambaschulen schlugen solche Töne an. Ganz offenkundig – eben kein vordergründiges, banales, kommerzielles Touristenspektakel, gar ähnlich dumpf-dümmlich, abstoßend unsinnlich, eklig profitorientiert wie die Love-Parade. Natürlich kein Vergleich – wer im Rio-Sambodrome mittanzt, mitsingt, zehrt von diesem auch ästhetischen Vergnügen womöglich viele Jahre.

Erste Welt „stocksteif, kopfgestört, fußlahm“

Arnaldo Jabor, Cineast, Starkolumnist, wohl bester Kenner seines eigenen Landes, bringt es auf den Punkt:“Unser Karneval ist ein feminines Fest, eine sexuelle, musikalische Utopie – die Sexualität der Frauen wird Brasilien retten, Vögeln ist bei uns Brasilianern so herrlich mit Musik, dem Essen, mit Spaß und Spielerei verknüpft.“ Die karnevalsfeindlichen Langweiler, selbstkontrollierten Kopfmenschen der Ersten Welt kriegen von ihm regelmäßig ihr Fett weg, weil sie immer nur noch mehr Komfort, Ordnung, Technologie wollten, immer naturentfremdeter wirkten :“Die haben den Rock, etwas sehr männliches – Rock ist Krieg, Karneval ist Luxus und Wollust, so feminin. Sie haben Lust am Leiden, kriegen davon gar einen Orgasmus – wir in den Tropen nehmen Sexualität als Spiel, Fest, Lachen.“

Jabor-Kollege Marcio Moreira Alves haut in einer anderen Qualitätszeitung in die gleiche Kerbe:“Schwer zu glauben, daß der Rest der Welt nicht wie wir vier Tage mal Pause machte, um zu singen, zu tanzen, zu lieben.“ Und bezogen auf die Erste Welt, vor allem deren Oberschicht:“Diese Leute dort sind wirklich so – stocksteif, kopfgestört und auch noch fußlahm. Wenn sie mal grade nicht auf unsere Kosten Geld scheffeln, denken sie nur an Perversitäten – etwa ein schutzloses Land zu überfallen, dessen halbe Bevölkerung jünger als fünfzehn Jahre ist.“
Übrigens kann man längst problemlos eine wunderschöne „Fantasia“, das Karnevalskostüm der Sambaschulen, schon von Deutschland aus buchen – alles viel billiger, als manche denken. Der Lustgewinn – unbezahlbar.

Hintergrundtext von 2008:

 Rio-Karneval und Banditendiktatur

Brasiliens berühmteste Sambaschule „Mangueira” steht ein weiteres Mal im Zwielicht, steckt in der Krise. Wie Polizei und Medien herausfanden, sind die Beziehungen zwischen Brasiliens mächtigster Verbrecherorganisation „Comando Vermelho”(Rotes Kommando) und dem Karnevalsverein enger denn je. Die über 700 Rio-Slums werden fast durchweg von Gangstersyndikaten neofeudal und terroristisch beherrscht “ die Mangueira-Favela nahe der City ist seit Jahrzehnten in der Hand des Comando Vermelho. In einer einzigen  Nacht werden dort acht Frauen erschossen, die gewagt hatten, das Diktat der perversen Schwerverbrecher zu kritisieren. „Das sind Tyrannen “ sie verbrennen Menschen lebendig, zerstückeln Personen, begehen Greueltaten jeder Art”, sagt Chefinspektorin Marina Maggessi, inzwischen Kongreßabgeordnete, über Rios Banditenkommandos. Sie nutzen Sambaschulen zur Geldwäsche und zum Geldverdienen, finanzieren teuerste Allegorienwagen, bezahlen vielen Ärmsten die Kostüme, spielen sich als Gönner, Mäzene auf. Verbessern damit ihr Image, werden gesellschaftsfähig, bestimmen indessen als karnevalsfremde Figuren die Regeln des Festes, was diesem immer schlechter bekommt, dem Kommerz Vorschub leistet. Zwar ist direkt vor dem Eingang der Mangueira-Sambaschule neuerdings ein Posten der Militärpolizei, doch gleich um die Ecke, im Favela-Labyrinth patrouillieren sogar Kinder und Jugendliche des „Comando Vermelho” mit Revolvern und Maschinenpistolen. Fernandinho Beira-Mar zählt zu Brasiliens grauenhaftesten Verbrecherbossen, sitzt derzeit im Knast. Letzten Oktober veranstaltet Beira-Mar eine rauschende Hochzeitsfeier, an der Percival Pires, Präsident der Sambaschule Mangueira teilnimmt. „Das ist ein glücklicher Tag für alle Anhänger von Mangueira”, erklärt Pires und überreicht eine Gedenktafel. „Die heutige Karnevalsprobe widmen wir dem neuen Ehepaar!” Die berühmte Percussionsgruppe der Sambaschule spielt auf, ebenso der auch in Deutschland inzwischen recht bekannte Rapper Mr. Catra. Mestre-Sala und Porta-Bandeira von Mangueira „Saalmeister und Fahnenträgerin”, Blickfang jeder Sambaschule bei der Karnevalsparade, präsentieren sich ebenfalls. Später fällt der Bundespolizei das Hochzeitsfeier-Video in die Hände, der Skandal ist enorm, Mangueira-Präsident Pires muß gehen. Chef jener Percussionsgruppe ist damals Ivo Meirelles, der öfters mit seiner Band auch durch Deutschland tourt. Inzwischen mußte auch er abtreten. Rios Zivilpolizeichef Gilberto Ribeira startet die „Operation Karneval”, beschuldigt Mangueira enger Beziehungen zum Comando Vermelho. Nach anonymen Hinweisen entdeckt die Polizei einen geheimen Eingang, über den, wie es heißt, die Verbrecherbosse von der Favela aus unbemerkt zu Luxuslogen in der Sambaschule gelangten “ und im Falle einer Polizeirazzia problemlos wieder verschwinden konnten. Ivo Meirelles wird vorgeworfen, jenen Extra-Eingang installiert zu haben. Der bestreitet das.Derzeit ist Tuchinha Boß des Comando Vermelho in der Favela Mangueira, die Polizei fahndet nach ihm fieberhaft. Doch immer wieder nimmt er an den Proben und Karnevalsfesten teil, mischt sich unter die bis zu zehntausend Feiernden. Den diesjährigen Mangueira-Karnevalssamba, der dem Nordost-Rhythmus Frevo gewidmet ist, hat Tuchinha mitkomponiert, was Bände spricht. Laut Zivilpolizei macht das Comando Vermelho wegen der Wochenend-Proben in der Sambaschule blendende Extraprofite bei harten Drogen. Sechzig Prozent der Umsätze würden an diesen Tagen erzielt. Tuchinha, so ergeben abgehörte Telefongespräche, nutzt die Sambaschule offenbar sogar als Büro. Unweit der „Escola de Samba” entdeckt die Polizei eine Art Festung mit Schießscharten, von denen die Banditenkommandos die Region beobachten und auf Polizeieinheiten oder rivalisierende Gangstergruppen feuern konnten. Bürgermeister Cesar Maia nennt die Beziehung zwischen der Sambaschule und dem Comando Vermelho uralt. „Jahrelang haben unsere sogenannten Intellektuellen und die Presse immer Mangueira als einzige Escola de Samba gelobt, in der die Glücksspielmafia keine Chance hatte. Dafür hatte Mangueira halt das organisierte Verbrechen, wie man seit langem sah und wußte.” Viele Kölner Karnevalisten, selbst der Kölner Polizeichor waren schon in der Sambaschule. Brasiliens gravierende Widersprüche sind auch im Karneval so präsent, daß es häufig zwischendurch richtig weh tut. 1987 und 1989 werden die jeweiligen Präsidenten der Mangueira-Sambaschule ermordet, der ermittelnde Kriminalist gleich mit. 1993 defilieren über viertausend Mangueira-Fans am Rosenmontag, stehen Caetano Veloso, Gilberto Gil, Maria Bethania und Gal Costa oben auf dem Allegorienwagen, während exakt zur selben Stunde am Sitz der Sambaschule heftige Gefechte zwischen Comando Vermelho und dem rivalisierenden Terceiro Comando toben. Handgranaten explodieren, MGs rattern “ mindestens 35 Menschen, auch völlig unbeteiligte kleine Kinder werden getötet. 2004 widerspricht der überaus beliebte Percussionschef Robson Roque einem Mangueira-Banditenboß, wird sofort liquidiert. Auch in späteren Jahren defilieren immer wieder Mangueiras Gangsterchefs bei der berühmten Parade mit, die Waffe dezent versteckt. Bevor es losgeht, stehe ich einmal in einer Gruppe von Armee-und Polizeioffizieren, die ebenfalls bei Mangueira kostümiert mitmachen, über alles Bescheid wissen. Karneval in Rio “ schöner, schrecklicher Wahnsinn. 2009 – wieder Unruhe um die Sambaschule Mangueira: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/01/28/feuergefechte-und-brennenden-busse-in-rio-de-janeiro-clima-de-guerra-na-mangueira-fotoserie/

Siehe auch Kapitel: „Karneval mit Mangueira. Schöner, schrecklicher Wahnsinn – das größte, ekstatischste Volksfest der Erde strotz vor Begeisterung und Gewalt.“ Unter dem Zuckerhut – Brasilianische Abgründe – Picus-Reportagen, Picus-Verlag Wien

Dieser Beitrag wurde am Donnerstag, 12. Februar 2009 um 14:17 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Kultur abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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