Klaus Hart Brasilientexte

Aktuelle Berichte aus Brasilien – Politik, Kultur und Naturschutz

Brasilien: Verelendeter, krank, verdreckt, abgehungert, bettelt vor Kirche im Zentrum Fortalezas. Leben im Ghetto. Gesichter Brasiliens.

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Leben im Ghetto “ Beobachtungen in Fortaleza

Armut, Analphabetismus, Zerrüttung

Die nordostbrasilianische Küstenstadt Fortaleza hat etwa soviele Einwohner wie Berlin –  doch jeder Dritte haust in den entsetzlichen Slums der Peripherie, weit entfernt von den Touristenstränden. Die Großfamilie Carneiro hat sich dort Stück für Stück eine kleine, provisorisch wirkende Backsteinkate gebaut, die an denen der Nachbarn klebt.

Die Kate ist fehlkonstruiert, schwer zu belüften und wird deshalb schon vormittags zum Backofen. Die Vorderfront besteht komplett aus Stahlgitter, immer fest verschlossen, um Attacken von Straßenräubern abhalten zu können. Beißender Gestank von Schweinekot hängt auch bei den Mahlzeiten in der Luft, weil Anwohner Wand an Wand zu den Carneiros mehrere Borstentiere aufziehen. Hinzu kommen die Gerüche von den Abwässern, den Fäkalien der Familie, die gleich hinter der winzigen Küche in den kleinen Hof aus festgestampfter Erde geleitet werden, dort eine große Schlammlache bilden. Ideale Bedingungen für  Kakerlaken, Mücken-und Fliegenschwärme, Spinnen, sogar Frösche und große Kröten. Angesichts solcher hygienischen Verhältnisse wird einem sofort klar, wieso an Slumperipherien wie in Fortaleza immer wieder Epidemien von Cholera, Malaria und tödlichem Dengue-Fieber ausbrechen, TBC und Lepra häufig sind. Vater Anysio Carneiro, inzwischen 72, ist Analphabet, das Problem ist ihm nicht bewußt, Gespräche darüber sind unmöglich. Mit seiner Frau Lisa, 69, die von Indianern abstammt, hat Anysio acht Kinder gezeugt, die längst erwachsen sind und mit ihrer Nachkommenschaft, ausgenommen Sohn Edmir, in Katen ganz in der Nähe wohnen. Acht Kinder –  gar nicht so viel. „Mein Vater hatte 15 bis 20 Kinder, mein Großvater sogar 30”, rechnet Luis Pereira vor, der ebenfalls an der Peripherie lebt. „So fünf bis sieben von den Kindern hatten sie außerhalb der Ehe, immer mit einer anderen Frau.” Anysio und Lisa bekommen eine staatliche Rente von zusammen umgerechnet rund 330 Euro, von der sie notgedrungen an den Rest der meist arbeitslosen Großfamilie reichlich abgeben. Sohn Edmir beispielsweise repariert hinter den Stahlgittern schwarz und recht glücklos Fahrräder, verdient damit pro Monat höchstens umgerechnet sechs Euro. Dickköpfiger Macho wie sein Vater, läßt sich Edmir jedoch auch von seiner eigenen Frau Maria nicht dazu bewegen, nach besseren Gelegenheitsjobs Ausschau zu halten. Maria ist mager und wirkt gehetzt, weil sie jeden Morgen schon nach fünf die Kate verläßt, um nach mehrstündiger Busfahrt an die 12 Stunden, auch sonnabends, die Hausdienerin in der Mittelschichtsfamilie eines besseren Viertels zu spielen. Für umgerechnet 160 Euro im Monat –  grauenhaft wenig für ihre fünfköpfige Familie. Im Grunde sind es sechs, denn Tochter Celia, 15, wurde mit elf Jahren schwanger und brachte ihr Söhnchen unbekannten Vaters zwar in einem kirchlichen Kindergarten unter, ist indessen nicht bereit, wieder in die Schule zu gehen oder sich eine Arbeit zu suchen. Celia hängt fast den ganzen Tag, bis sie das Söhnchen aus dem Kindergarten holt, schlichtweg nur herum, döst, schlägt die Zeit mit Fernsehen tot. Wie Studien zeigen, lebt ein beträchtlicher, zunehmender Teil der brasilianischen Slumjugend (Geracao nem-nem, lernt nicht, studiert nicht, arbeitet nicht, mehr als zwei von zehn jungen Menschen zwischen 18 und 20 in dieser Kategorie)) so lethargisch-apathisch wie Celia. Nur gelegentlich ist sie verschwunden. Die ganze Großfamilie weiß, daß Celia im schicken Strandviertel mit Ausländern schläft –  erklärt dies aber zum Tabu. Celias elfjährige Schwester Cristina wirkt sehr aufgeweckt, droht jedoch in der vierten Klasse sitzenzubleiben. Jeden Tag müßte sie deshalb zu Nachholstunden in ihre öffentliche Schule, geht aber oft nicht hin, schaut lieber Fernsehen. Ihren minimal gebildeten Eltern ist das egal, Vater Edmir, der Fahrradmechaniker, läßt Cristina gewähren. Für alle Fächer hat sie ein einziges Heft –  all ihre Hausaufgaben sind voller Fehler. „Die Lehrer kontrollieren nicht, die schauen nicht hin, berichtigen nichts. In der Schule schlagen uns Jungen, dort wird man auch beklaut.” Cristina hat den Kopf voller Läuse, andere Mädchen und Jungen der Großfamilie ebenfalls. Neurobiologen haben festgestellt, daß in Misere oder Armut lebende Kinder erhebliche, irreparable Lern-und Konzentrationsschwächen aufweisen –  Cristina ist offenbar ein typischer Fall.  Nach außen hin verbreiten die Carneiros brasilianische Fröhlichkeit, scheinen auffällig gelassen mit ihrer Armut, den familiären Problemen umgehen zu können. Doch in Wahrheit ist die Großfamilie tief zerrüttet, sozial verwahrlost, unter Spannung. Auch wegen der vielen Tabuthemen gibt es kaum echten Dialog, echte Gespräche zwischen Älteren und Jüngeren. Als Vater Anysio mitbekommt, daß seine Tochter Isa mit einem Mann flirtet, läßt er beide von Militärpolizisten aus einem Hotel holen, zum Standesamt zerren, erzwingt dort die Eheschließung. Isa ist todunglücklich, will den Mann überhaupt nicht als Lebenspartner, wird von ihm aber sogar mit dem Lederriemen geschlagen, dann geschwängert, in der Stillzeit des Töchterchens Marina weiter verprügelt. Er hat schon eine offizielle Familie mit mehreren Kindern, verschweigt dies auf dem Standesamt. Isa flüchtet schließlich nach Rio, läßt Marina zurück – sie wird von Anysios Frau Lisa großgezogen. Marina wirkt heute bitter, haust mit Sohn und Tochter allen Ernstes in einer Sieben-Quadratmeter-Kate an einer Schnellstraße –  in zwei Metern Abstand brettern LKW vorbei. „Hier im Slum ist sich jeder selbst der Nächste, hier hilft niemand dem anderen. Das Bretterklo dort draußen teilen wir uns mit zehn anderen Familien. Strom und Wasser sind abgezapft, geklaut, so machen es hier viele. Vom Staat bekomme ich für meinen Sohn eine Hilfe von 80 Real –  davon leben wir drei den ganzen Monat , das ist unser einziges Einkommen.”  80 Real –  das sind umgerechnet etwa dreißig Euro, und das bedeutet für Marina, Sohn und Tochter, beide von verschiedenen Vätern, ein Leben in Misere. Der Aufenthaltsort der Väter ist unbekannt, der letzte Partner Marinas hat sich aus der Kate gerade davongemacht, ohne Abschied. Als Marina endlich einen Gelegenheitsjob ergattert, wird am allerersten Arbeitstag in ihrer Abwesenheit von Slum-Nachbarn ihre Kate völlig ausgeräumt – als sie zurückkommt, sind Herd, Gasbehälter, Klamotten, alles weg. Marina hat die Schnauze voll, verkauft die Kate, zieht wieder tief in einen Banditen-Slum: Denn vor der neuen Kate sah sie, wie Polizisten mit ihren Autos für die Banditen den Drogentransporter spielten. Banditen schossen direkt vor ihr mit der MPi einen Mann vom Fahrrad.  der auf sie drauffiel, sodaß sie schreiend davonrannte. Sooo schlecht empfindet Marina unter den gegebenen Umständen die Rückkehr in den übleren Slum garnicht – denn immer wieder kann sie dort Raubgut, vom Fernseher bis zur Mikrowelle direkt spottbillig von den Banditen erwerben. Bettler – selbst das gibts, verhökern im Slum an sie gespendete Lebensmittel ebenfalls sehr billig – und Marina greift auch da natürlich zu.

Auffällig, daß sehr viele Slumkaten nicht einmal ein provisorisches Klo haben – man verrichtet seine Notdurft gleich neben der Kate, irgendwann wird der ganze Menschenkot vom Regen weggespült. Wer direkt am Fluß wohnt, kackt auf Papier, wirft danach alles in den Fluß, so gelangt es auch an die Tropenstrände von Fortaleza.

Ivonete, ebenfalls aus der Großfamilie Carneiro, haust in einer winzigen Lehmhütte, hat fünf Kinder von fünf verschiedenen Männern, die stets nach kurzer Zeit verschwanden. Rentnerin Lisa steckt Marina und Ivonete manchmal ein paar Real zu –  aber sie hat ja selbst nicht viel. Lisa erträgt ohne Murren, daß Anysio ihr nur selten erlaubt, alleine aus der Kate zu gehen. Wenn er ißt, setzt sich Lisa nicht etwa mit an den Tisch, sondern bleibt stehen, um ihn zu bedienen. Erst wenn Anysio die Mahlzeit beendet, ißt sie auch. Ihre Tochter Geni mit den indianischen Gesichtszügen kritisiert den machistischen Vater heftig, der sie früher oft verprügelte. „Die ganze Region um Fortaleza ist von Indiokultur geprägt, doch abgesehen vom Gewalt-Machismus, ist davon das meiste leider verloren gegangen –  darunter die Geheimnisse der Naturmedizin. In meiner eigenen Familie wurden viel Wissen und Techniken einfach nicht weitergegeben, erklärt –  ich mußte alles durch Zuschauen und Beobachten lernen. Meine Eltern haben keinerlei Bildung –  Kinder, die viel fragten, bekamen Schläge. Ja, es fehlt das Gespräch in den Familien. Die Mädchen lernten Sexualität durch Alltagsbeobachtung oder eigene Praxis kennen –  was eben zum Desaster, zu den vielen Frühschwangerschaften führt.” Widersprüchlich, daß auch in dieser Familie die Jungen viel mehr dürfen als die Mädchen, Rundumbedienung genießen, früh Macho-Allüren kultivieren, richtige kleine Tyrannen und Parasiten sind. Marcio wird auch mit sieben Jahren noch von der Mutter getragen, in den Bus gehoben, wenn er dies fordert –  und braucht sich nicht einmal die Schuhe selber zuzubinden. Die Großfamilie greift nie zu einer Zeitung, schaut im Mini-Fernseher nie eine Nachrichtensendung –  das Thema Politik, ob lokal, regional oder national, existiert schlichtweg nicht. Alle zwei Jahre sind Pflichtwahlen, dann werden die Kandidaten der Sektenkirche „Assembleia de Deus” angekreuzt, zu der die Großfamilie Carneiro gehört. Auf einem Jahreskalender und einem Poster in der Küche sind Sektenpolitiker abgebildet, der bevorzugte TV-Kanal gehört der Sekte. An deren absolutes Alkoholverbot hält man sich in der Kate, während in der Nachbarschaft immer wieder volltrunkene Männer zu hören, zu beobachten sind. Einfachster Zuckerrohrschnaps ist in Brasilien billiger als Milch – in vielen Küchen sehe ich Zehn-Liter-Schnapsfäßchen zum ständigen Abzapfen. Kritik an den Lebensverhältnissen höre ich bei den Carneiros nicht. „Seit der Kolonialzeit haben wir eine Kultur der permanenten Anpassung an die Verhältnisse, gibt es gerade in den Slums viel Fatalismus und Passivität”, sagt mir der katholische Menschenrechtsaktivist Francisco Whitaker, Träger des Alternativen Nobelpreise, Mitgründer des Weltsozialforums. „Nur zu oft halten gerade die Armen Veränderungen für unmöglich, unterwerfen sich freiwillig, statt aufzubegehren.” Als der deutschstämmige Kardinal Aloisio Lorscheider in Fortaleza Erzbischof ist, berichtet er mir von der enormen Herausforderung der Kirche, dagegen anzukämpfen. „Die Herrschenden, das sind zynisch und skrupellos agierende Clans, wollen weder Macht noch Privilegien abtreten. Deshalb wird das Volk bewußt dumm gehalten, werden Bildungsprojekte verhindert. Denn Ungebildete, Analphabeten wissen nicht, wie sie sich in der heutigen Zeit bewegen sollen. Sie kennen ihre Rechte nicht und fordern sie auch nicht ein. Sie lassen sich fatalistisch treiben, sie verbinden sich nicht mit anderen, sie organisieren sich nicht.”

Wie das organisierte Verbrechen die Slumbewohner terrorisiert.  

Herrliches Tropenwetter, ich greife morgens zur Kamera, will einen Rundgang durchs Viertel machen. „Auf keinen Fall, du bleibst drin”, befiehlt mir die ganze Großfamilie, „heute ist es viel zu gefährlich, die werden dich abknallen –  hier weiß doch längst jeder, daß wir einen Deutschen beherbergen, der sicher Kohle hat!” Bewaffnete Banditenkommandos, höre ich, patrouillieren durch die gesamte Slumperipherie Fortalezas, überfallen Geschäfte und Fracht-LKW, greifen sogar in der City an, rauben gleich serienweise Boutiquen und Kaufhäuser aus. Zudem häufen sich Schießereien zwischen rivalisierenden Verbrecherorganisationen –  um die Vorherrschaft in möglichst vielen Ghettos und im Drogenhandel. Ich weiß inzwischen, die Leute hier übertreiben nicht. „Direkt vor unserer Tür wurde erst kürzlich jemand umgebracht, bei einer Schießerei zwischen zwei Banden”, sagt Almir, 52, „im Drogenrausch werden hier viele Überfälle und Morde verübt!” Fast jede Nacht, und selbst Heiligabend, sind Schüsse zu hören, berichten tags darauf  Passanten, Nachbarn von Morden und Leichen. Letzte Weihnachten wurden über einhundert Menschen umgebracht.

Wer sind denn die beiden Männer, die dort auf den Betonsteinen grade ein Bier trinken? „Oh, das sind große Leute hier. Der eine ist ein berühmter Bankräuber, wird von allen sehr respektiert, geachtet. Der andere macht bewaffnete Überfälle auf Fracht-LKW, ist ein richtiger Spezialist geworden, verdealt die ganze Fracht, schießt auch, wenns nicht anders geht, so wie in den Filmen. Wirklich, tolle Leute.”

Eine bizarre Situation, den ganzen Tag hinter den Gitterstäben der Backsteinkate hocken zu müssen und das Leben auf der Straße zu beobachten. Die meisten Slum-Läden sind selbst tagsüber, während der Öffnungszeiten, mit Stahlgittern verriegelt. Doch oberflächlich betrachtet, scheint alles normal, ist auf den ersten Blick nichts Auffälliges zu bemerken. Wer zu einem Banditenkommando gehört, stets bewaffnet ist, bereits mehrere Morde verübte, als besonders gewalttätig gilt, weiß man erst nach einiger Zeit. Obwohl im Slum das „Lei do Silencio” gilt, das Gesetz des Schweigens: Besser zu keinem ein Wort über die sichtbaren, unsichtbaren Strukturen des organisierten Verbrechens –  weil sonst Racheakte drohen. Als die Großfamilie an meinem ersten Abend Türen und Fenster verrammelt, daß mir wegen der schlechten Luft rasch schlecht wird, halte ich alle für verrückt und übertrieben furchtsam. Am Ende meines Aufenthalts habe ich die gleiche panische Angst vor Greueltaten, Gewaltexzessen marodierender Kommandos wie meine Gastgeber. Auch sie haben –  wie die allermeisten Familien der Ghettos –  bereits Angehörige durch Mord verloren. Doch ein Mann der Großfamilie sitzt auch bereits zwölf Jahre im Knast –  hatte in der Kneipe jemanden erschossen, der das Schnapsglas provozierend in seine Richtung warf. Morde haben sehr oft entsetzlich banale Motive –  und alle kennen hier Mörder, die nie bestraft wurden. „Manche bringen jemanden, oder gleich mehrere um, verschwinden für ein paar Jahre, kommen dann zurück, haben nichts mehr zu befürchten”, erläutert mir eine Frau. „Jetzt haben sie ihn liquidiert”, kommentiert unser Nachbar den jähen Tod eines Mannes, der täglich vorbeikam, den lokalen Banditenkommando unsympathisch war. „Das ist eine biblische Plage –  all dies wird bereits in der Heiligen Schrift beschrieben”, sagt mir Ricardo Mendes, Sektenpastor. „Hinter dieser Gewalt steckt der Satan –  den müssen wir mit dem Evangelium bekämpfen.” Als ein Vieh-LKW umkippt, stürzen sich die Leute mit Hackmessern auf die Rinder, trennen ihnen die heraushängenden Gliedmaßen ab, es wird ein entsetzliches Blutbad mitten auf der Straße. Fast rund um die Uhr ist aus allen Richtungen laute Musik zu hören, die gerade alte Menschen oft sichtlich streßt. Als in der Nebenstraße jemand partout nach Mitternacht den Hardrock nicht abstellen will, schießt ein genervter Nachbar zunächst in die Boxen und hält dem Lärmer dann den Revolver an den Kopf. Die hohe, irrational anmutende Gewaltbereitschaft schockiert. Sozialwissenschaftler nennen in Fortalezas Zeitung „Diario de Nordeste” die Slumbevölkerung von der Gewalt „traumatisiert” –  die ganze Stadt sei „gewalttätig, verrückt, anarchisch, desorganisiert, fiebrig und leidet unter Bandenattacken”. Wie in Rio de Janeiro organisieren die Kommandos täglich moderne Wegelagerei, mobile Straßensperren. Ehe die Polizei viel zu spät eintrifft, werden in wenigen Minuten Dutzende von Autos geraubt, die Fahrer ausgeplündert. Kein Wunder, daß abends und nachts die meisten Straßen und Gassen der extrem dichtbesiedelten Slumperipherie wie ausgestorben sind, eine Art von informeller Ausgangssperre gilt. Apathie, Mißtrauen und Entsolidarisierung sind überall zu spüren. Warum liefert man ausgerechnet die Bevölkerungsmehrheit, die Armen und Verelendeten den gut organisierten Verbrechern aus, steckt dahinter Methode? „Die Slums sind heute voller psychisch gestörter Menschen, dort herrschen soziales Chaos und Verwahrlosung in einer brutalen Diktatur”, betont die Anthropologin Alba Zaluar, eine der führenden Gewalt-Forscherinnen Brasiliens. José Murilo de Carvalho, Mitglied der brasilianischen Dichterakademie und Lehrstuhlinhaber für Geschichte an der Bundesuniversität von Rio de Janeiro, sieht dadurch Protestpotential niedergehalten:”Die Existenz des organisierten Verbrechens in den Slums blockiert die Politisierung der Bewohner, hält sie ruhig, verhindert eine Rebellion, Protestaktionen jeder Art. Die Gangsterkommandos dienen damit der Aufrechterhaltung von politischer Stabilität im Lande –  und das ist nicht wenigen Autoritäten sehr recht.” Durch die „Tyrannei des organisierten Verbrechens”, so Carvalhos Kollege Luiz Eduardo Soares, „wird überall in den brasilianischen Städten eine Selbstorganisation der Armen und Verelendeten blockiert.”

Soziale Verwahrlosung hat viele Seiten: Die entsetzliche Wohn-Enge, das völlige Fehlen von Privatsphäre ist Auslöser zahlreicher Konflikte und Streitereien, die sogar bis zu Mord führen. Die Katen kleben so eng aneinander, daß jeder alles von allen hört – ob Geschlechtsverkehr, bei dem nur zu oft notgedrungen die Kinder zusehen – bis zu Familienzwisten – die dann beispielsweise von den Zuhörern der anderen Katen sogleich lautstark kommentiert werden, was Spontanärger erzeugt. Der Umgangsston ist immens rauh, drastisch und sexistisch – völlig normal, daß Mütter bereits ihre drei-bis vierjährigen Töchter unüberhörbar als Huren beschimpfen(„Wo ist denn diese dreckige Hure schon wieder hin, scher dich in die Kate!“)Söhnen gleichen Alters wird immer wieder die Kastration angedroht: „Vou te capar!“ Die Söhne als Schwule zu beschimpfen, ist ebenfalls Normalität für Mütter und Väter: „Esse viado!“Verdrischt eine Mann seine Frau, bekommen das natürlich alle Katen rundherum sofort mit – und geben Kommentare ab. Nachvollziehbar, daß aus Gründen politisch-korrekter Zensur verboten ist, über die Favela-Realität in Mainstream-Medien Mitteleuropas, doch auch in bestimmten Pseudo-Drittweltblättchen zu berichten. Um die soziale Verwahrlosung zu bekämpfen, wäre Bildung die einzige Lösung, betont nicht nur die katholische Kirche – doch auch die Unesco-Statistiken zeigen, daß just Brasiliens Bildungswesen nach wie vor von den Regierenden aus den bekannten Gründen vernachlässigt wird. Auch unter Lula hat die Zahl der Slums landesweit nicht etwa abgenommen, sondern sichtbar zugenommen – wuchsen damit alle entsprechenden Probleme, und bestimmte Berichterstattungsvorschriften.

Sekten in den Slums –  haarsträubend unchristliche Gepflogenheiten

Roberto Ramos, Tempel-Küster der Wunderheiler-Sektenkirche „Assembleia de Deus”, lobt vor der tiefreligiös wirkenden Großfamilie Carneiro den Herrgott über alle Maßen. „Er hat mir jetzt sogar die staatliche Hungerhilfe besorgt,  ist das nicht wunderbar?” Alle am großen Eßtisch nicken zustimmend. Gott als Unterstützer unchristlichster Tricksereien? Denn eigentlich wäre heftiger Protest angebracht. Küster Ramos wohnt mit seiner Frau kostenfrei auf Tempelgelände und bekommt von der Sektenkirche einen auskömmlichen Arbeitslohn, hat daher laut Gesetz gar keinen Anspruch auf die Hungerhilfe. Allein in der Straße des Tempels hausen  viele in absoluter Misere, hätten die staatliche Hilfe bitter nötig, aber kriegen sie nicht. Auch an der Slumperipherie von Fortaleza funktioniert also die von den Sekten gepredigte „Theologie der Prosperität”, die Idee vom Reichwerden durch Gott, geradezu blendend. „Wer ein üppig-reiches Leben führt”, verkündet Edir Macedo, Chef der Universalkirche vom Reich Gottes,  auch in Fortalezas Fernsehen, „genießt die Segnungen des Herrn.” Daß Sektenpastoren im Luxus leben, wird akzeptiert und bewundert, nur von wenigen Slumbewohnern verurteilt. Jede Sektengemeinde, so wird mir erläutert, will auf keinen Fall einen Pastor, der aussieht und lebt wie die Leute im Viertel.  „Das Volk will einen prosperierenden Pastor, damit man aller Welt sagen kann: Seht, unser Geistlicher wurde wegen seines tiefen Glaubens bereits von Gott reich beschenkt!” Wenn der eigene Pastor sogar einen superteuren Importwagen fahre, sei das umso besser fürs Image der Slumgemeinde. Die Carneiros haben es bis zu ihrem Tempel der „Assembleia de Deus”, Gottesversammlung, nur ein paar Schritte, nehmen wie alle anderen stets die Bibel mit. Direkt über das Eingangsportal hat ein zur Sektenkirche zählender Privatarzt frech seine große, bunte Praxis-Werbung geklebt, was aber  niemanden zu stören scheint. Die Sektenkirche stellte sogar Brasiliens Umweltministerin Marina Silva und ist auch in Fortaleza für ihre ekstatischen Wunderheilungen bekannt. Selbst Krebskranke würden schlagartig genesen, Querschnittsgelähmte aus ihren Rollstühlen aufstehen. Kein Zweifel, die allermeisten glauben das. Nicht ungewöhnlich, wenn ein Assembleia-Priester mit Gläubigen zum Friedhof zieht, eine bereits verwesende Leiche ausgraben läßt und durch eindringliche Gruppengebete versucht, den Toten zum Leben wiederzuerwecken. Mit Menschen extrem niedrigen Bildungsgrades scheint beinahe alles möglich. In den Predigten der Sektenpastoren kommt Politisches, gar soziale Probleme, nicht vor.  „Für mich sind das alles scheinheilige Kirchen mit einem Gutteil Gerissenheit”, meint die Gläubige Amelia Nunes, die mir ihr Austrittsmotiv schildert:”Eine hungernde Familie hatte in tiefster Not und Verzweiflung einen reichen Assembleia-Pastor Fortalezas um Hilfe angefleht –  doch der hat mit ihnen nur gebetet und sie dann weggeschickt, ihnen weder etwas zu essen noch ein Almosen gegeben. Da war es bei mir aus mit der Gottesversammlung.” Zuvor habe sie bereits genervt, mit welchem Psychodruck die Pastoren selbst aus den allerärmsten Gemeindemitgliedern den Zehnten herauspreßten. „Wer nicht zahlte, wurde wie ein Aussätziger behandelt, von den anderen Gläubigen im Viertel geschnitten, von den Kulten ausgeschlossen. Sowas ist doch absurd, ein Verbrechen!”  Die katholische Kirche, meint die Dreißigjährige, habe es in den Slums schon wegen des Priestermangels enorm schwer. Die Sekten nähmen dagegen jeden zum Pastor, der geschäftstüchtig sei und gut reden könne. „Die Katholiken wollen von den Slumbewohnern, daß sie aufbegehren, sich sozial engagieren, ihre Lage nicht hinnehmen –  die Sekten predigen genau das Gegenteil, Passivität und Anpassung, was schön bequem ist.” Im Nachbarslum feiert eine Sekte im Hof des Tempels ihr Gemeindefest, als in heißer Tropenluft bereits nach kurzer Zeit der Nachschub an Erfrischungsgetränken und Essen stockt. Unter den Augen des Sektenpastors hatte ein Teil der Gläubigen schlichtweg die Küche geplündert, war mit den gestohlenden Flaschen und Nahrungsmitteln durch den Altarraum auf die nachtdunkle Straße entschwunden. Das Fest war daher bald zuende, der Vorfall fortan tabu. „Die Leute vergessen Solidarität, denken nur an materielle Vorteile –  es fehlt Evangelisierung”, hatte Kardinal Lorscheider in Fortaleza beklagt.

Dieser Beitrag wurde am Mittwoch, 03. Dezember 2008 um 21:18 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Kultur, Politik abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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