Klaus Hart Brasilientexte

Aktuelle Berichte aus Brasilien – Politik, Kultur und Naturschutz

Brasilianische Gefängnisinsel für den Tropenurlaub

Die paradiesische Ilha Grande bei Rio de Janeiro

Noch vor Jahren wunderten sich uninformierte Brasilientouristen,warum die unter ansässigen Deutschen und Schweizern als Geheimtip gehandelte Ilha Grande von den streßgeplagten Bewohnern der Millionen-Stadt kaum zur Naherholung angesteuert wurde. Verschwiegene Buchten, über einhundert Traumstrände, kristallklares grünblaues Wasser, Urwald, Gebirgsbäche, weder Autos noch Motorräder – und trotzdem war selbst in der Hochsaison die Bilderbuch-Insel nie überlaufen. Das lag am großen, berüchtigten Kerker ”Candido Mendes”, in den man bevorzugt Schwerverbrecher sperrte – nicht jedermann behagte die Vorstellung, bei einem romantischen Abendspaziergang unter Palmen womöglich auf bewaffnete Ausbrecher zu treffen, von diesen gar als Geisel genommen zu werden.

Das kam schließlich vor, entsprechende Warnschilder standen überall an den Wegen. 1994 wurde der Kerker größtenteils gesprengt, Gruselgefühle nähren sich nur noch aus Vergangenem, den vielen wilden “ übertriebenen und wahren “ Geschichten, die einem von Gefängniswärtern, die zu Herbergsbesitzern, Kellnern und Waldhütern mutierten, gerne aufgetischt werden. Erwartungsgemäß erlebt der Inseltourismus derzeit einen Boom, der sich glücklicherweise bislang fast nur auf die Hauptsiedlung Vila do Abraao beschränkt. Dort legen die wenigen, von den Festlandsstädtchen Angra dos Reis und Mangaratiba startenden Fährboote an “ nur sonn-und feiertags sind sie wirklich voll; wer als besonders Ruhebeürftiger während der Woche kommt, hat das 193 Quadratkilometer große Eiland sozusagen fast für sich allein.

Wohnen beim deutschen Zivilisationsflüchtling

Die Zimmersuche ist kein Problem “ hübsche, lianenumrankte Pousadas stehen nur Schritte von den Kais an der Strandpromenade; billigere, ruhigere in den lehmigen ungepflasterten Nebenwegen. Wer des Portugiesischen nicht mächtig ist, sich gerne von Bachrauschen in den Schlaf wiegen läßt, sollte nach der „Pousada Cachoeira” do Alemao, des Deutschen fragen. Der Berliner Zivilisationsflüchtling Claus Ziegenlederer hat bereits in den 8oern mit seiner brasilianischen Frau Teresa eine kleine Herberge eröffnet, kennt die Insel, ihre Pfade, Campingplätze und verstecktesten Naturschönheiten inzwischen besser als mancher Ureinwohner, fährt mit Gästen gerne zum Fischen und Tauchen hinaus, ist für einen Plausch immer zu haben.

Die Eigenheiten dörflichen Lebens erschließen sich rasch “ von den kleinen Straßenbars und Restaurants der kurzen, schmalen Rua da Praia aus lassen sich bei einem kühlen Bier oder dem Nationalcocktail Caipirinha bequem die Einwohner bei ihren Verrichtungen beobachten. Jeder der rund 4000, so scheint es, muß am Tage mindestens einmal hier entlang “ die Fischer mit frischen Fängen, Bäckerburschen, schwitzende Händler mit hochbeladenen Schubkarren, Handwerker, Sheriffs, balldribbelnde Schuljungs. Die zahlreich streunenden Hunde ärgern gelegentlich schwarze Geier, die nur Meter entfernt landen, herumstolzieren, ebenfalls dem ganzen Treiben zusehen, die vielen Wegpalmen als Schlafbäume nutzen. Kein Meeresfrüchte-Restaurant liegt idyllischer als das Lua e Mar am rechten Ende der kleinen Bucht “ ganz nach Belieben fixiert man seinen hölzernen Tisch unter ausladenden, wundervoll Schatten spendenen Bäumen im Sande so, daß die Wellen fast die Füße umspielen. Bei Sonnenuntergang können indessen wie auf der ganzen Insel Moskitos lästig fallen “ aber Tropenreisende sind natürlich für die Abwehr gerüstet. Auch im Lua e Mar macht, wie in ganz Brasilien üblich, ein Gericht bequem mindestens zwei Esser satt “ man gibt daher selten mehr als umgerechnet an die zehn, zwanzig Euro aus, wird dafür sehr gut bedient. Erstmals geht es auch teurer, haben verwöhnte Gaumen eine Alternative: Seit der Kerker verwaist ist, trauen sich auch Besserbetuchte mit ihren Luxusjachten häufiger in den Inselbereich, gehen fünfzehn Taxiboat-Minuten von Vila do Abraao entfernt in der hübschen Saco-do Ceu-Bucht am Reis e Magos(Könige und Magiere) , einer Mischung aus Restaurant und Kunstgalerie, vor Anker. Das erlesene Nachtessen wird durch Kerzen und Fackeln illuminiert. Solange man es bereitet, können sich besonders Gestreßte durch eine Shiatsu-Massage auflockern lassen. Musiktherapeut Claudio Galvao nimmt für fünfundvierzig Minuten rund siebzig Dollar, spielt später nach Gästewünschen dezent auf der Querflöte Bach und Bossa-Nova. Famose Fußballspieler, Stars der beliebten abendlichen TV-Telenovelas, bekannte Namen der Rio-Aristokratie lassen es sich hier wohlsein, finden ihre bevorzugte Champagner-und Whiskymarke, legen für ein Menü problemlos um die hundert und mehr Euro hin.

Surfen, Tauchen, Forro-Schritte lernen

Das gemeine Volk tanzt zur selben Stunde an offenen Bars der Vila do Abraao womöglich schon den schnellen maliziös-frivolen Forro des archaischen Nordostens, gerade wieder einmal groß in Mode auch in Rio und Sao Paulo. Die Herkunft des Begriffs ist kurios “die britischen Eisenbahn-Ingenieure veranstalteten einst im Nordosten an den arbeitsfreien Wochenenden immer zwei Bälle “ einen für die Creme der Führungskräfte und einen „for all”, für die einheimischen Schwerstarbeiter. Daraus wurde „Forro”, in der Rua da Praia kann man ihn lernen. Luau hat dagegen auf der Ilha Grande mehr Tradition: In hellen Vollmondnächten treffen sich Gruppen Einheimischer oder Zugereister an den Stränden, singen zur Gitarre romantische Samba-oder Sertaneja-Balladen. Der Liedvorrat reicht problemlos bis zum Morgengrauen, die Textkenntnis und “sicherheit der Brasilianer ist frappierend, für Europäer auch beschämend. Mit Musik eigener Zunge käme man zuhause bei solcher Spontanveranstaltung nicht weit.

Endlose Inselpfade

Etwas vertraut mit der touristischen Infrastruktur , lassen sich kürzere und ausgedehnte Wanderungen oder Bootstouren ins Auge fassen. Nur zwanzig Fußminuten von der Hauptsiedlung entfernt , befinden sich an der Praia Preta aus schwarzem, heilkräftigem Monazitsand die Ruinen des alten Seuchenlazaretts. Während der wochen-bis monatelangen Ozeanüberquerung infizierten sich ganze Koggenbesatzungen mit Pest und Cholera “ von 1886 an wurden sie im Lazareto in Quarantäne gehalten, ein Teil der Anlage diente später als moderiges Kellergefängnis, dessen schauerliche Zellen man heute noch besichtigen kann. Während der Flut drang oft zwangsläufig Meerwasser hinein, womit, wohl beabsichtigt, die Pein der Insassen erhöht werden sollte. Unweit davon läßt sich ein Aquädukt überqueren, das Lazarett und Kerker einst Wasser zuführte.

Düstere Vergangenheit

Die Ilha Grande besitzt bislang nur eine einzige, zwölf Kilometer durch Tropenwald führende Erdstraße “ über sie wurden früher die angeketteten Schwerverbrecher zur Strafanstalt „Candido Mendes” an der schlichtweg malerischen Dois-Rios-Bucht transportiert. Am Wege liegt der rund eintausend Meter hohe „Pico do Papagaio”, den Klettererprobte trotz Tropenhitze sicherlich erklimmen werden. Die Siedlung der Gefängniswärter und der nur unvollkommen zerstörte Anstaltskomplex sind für Geschichtsinteressierte eigentlich ein Muß. „Glück ist ein Intervall des Leidens”, stand eingeritzt in einer Zellenwand, die Haftbedingungen waren bis zuletzt einfach grauenhaft.Überall bestialischer Gestank, weil bei Temperaturen von vierzig Grad Fäkalien und Abwässer durch offene Gräben aus den Massenzellen flossen; Tropenkrankheiten wie Lepra und Malaria, aber auch Tuberkulose grassierten. Hier wurden politische Gefangene zweier Diktaturen absichtlich mit Mördern, brutalsten Gangstern zusammengesperrt. Als erster schickte der Hitler-und Franco-Verehrer Getulio Vargas in den 30er und 40er Jahren Oppositionelle in den Kerker.Vargas, der stets eine der SA-Uniform der Nazis sehr ähnliche Montur nebst Schaftstiefeln trug, hatte es unter anderem auf den berühmten Poeten Graciliano Ramos abgesehen , der später in seinem verfilmten Dauerbestseller „Memorias do Carcere” das Leitwort der Kerkermeister zitierte:”Ihr seid nicht hier, um euch zu bessern, sondern um zu sterben!” Vargas lieferte die deutsche Jüdin Olga Benario den Nazis aus, beging 1954 Selbstmord “nach dem Militärputsch von 1964 füllte sich die Strafanstalt wiederum mit Regimegegnern, die gefoltert und teils den Haien lebendig zum Fraß vorgeworfen wurden. 1979 erließen die Generäle eine Amnestie “ die auf der Insel zurückbleibenden Schwerkriminellen gründeten Brasiliens bis heute mächtigste und politisch einflußreichste Verbrecherorganisation, das „Comando Vermelho”.

Filmreife Gefangenenausbrüche

1986 preschte im Tiefflug über den Baumwipfeln ein Hubschrauber heran, im Gefängnishof sprang der gefürchtete Mörder, Bankräuber und Drogenboß Escadinha auf, die filmreife Fluchtaktion gelang. Andere brachen sogar gruppenweise mehrfach aus, schafften es, per Kanu oder Holzfloß das neunzehn Kilometer entfernte Festland zu erreichen “ wurden wieder eingefangen; manche leben heute als Fischer frei auf der Insel, haben, wie der betagte Ex-Raubmörder Julio de Almeida Frau und Kinder, wurden geschätzte Mitglieder der Comunidade. „Jeder Baum des Dois-Rios-Strandes hat eine Geschichte. Gefange pflanzten ihn, nutzten ihn beim Flüchten, wurden an seinem Fuß getötet”, sagt er nachdenklich. Menschenrechtler, frühere politische Häftlinge forderten immer wieder, den Kerker in ein Museum umzuwandeln, vor allem der jüngeren, stark entpolitisierten Generation Brasiliens sollte vermittelt werden, wie die Diktatoren mit ihren Gegnern umgingen. Stattdessen betätigte Ostern 1994 der damalige, inzwischen verstorbene linkspopulistische Gouverneur und Vizepräsident der Sozialistischen Internationale, Leonel Brizola, den Sprengknopf, um sich von dunklen Punkten in seiner politischen Biographie zu befreien. Schließlich war der erwähnte Diktator Vargas sein geistiger Ziehvater, politisches Idol. Und in einem Gefängnis-Museum der Insel wären ja alle Schandtaten, Verbrechen von Vargas genau dokumentiert worden. Das wollte der SI-Vize, der sich stets seiner Freundschaft zu Willy Brand rühmte, natürlich verhindern. Der Großgrundbesitzer Brizola wurde zwar von den Putschgenerälen des Jahres 1964 exiliert, unterhielt indessen nach seiner Rückkehr 1982 beste Beziehungen zum letzten Diktaturpräsidenten Joao Figueiredo und ging immer wieder Wahlbündnisse mit der Regimepartei PDS ein. Die Sozialistische Internationale störte sich offenbar nicht an diesen Details, als sie Brizolas linkspopulistische PDT in ihre Reihen aufnahm. Wie ein Filialleiter der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Rio erläuterte, geschah die Aufnahme aus ”pragmatischen Gründen, ”man war froh daß überhaupt eine Partei aus Lateinamerika, wie die PDT, zur Sozialistischen Internationale dazugehört und schaute nicht so genau hin, was diese tut. Wie Brasiliens führendes Nachrichtenmagazin ”Veja schrieb, übernahm Brizola wie kein anderer nationaler Politiker den Regierungsstil seines Vorgängers im Gouverneursamt, Chagas Freitas, der sich von Rios Unterwelt, darunter den Bossen der Slums und den Chefs eines verbotenen Glücksspiels unterstützen ließ.
Die Sprengung des Ilha-Knasts tötete, so Gefängniswärter und Inselbewohner, auch etwa 300 Hunde, die von den zuletzt 700 Häftlingen zum Zwecke der Zoophilie, einer in Brasilien keineswegs seltenen sexuellen Abartigkeit, gehalten worden waren. Die Sprengung hatte laut Insidern auch wahltaktische Gründe: Die Insassen wurden mit Gangstern des Comando Vermelho in Festlandsanstalten zusammengelegt “ eine wichtige Konzession an die Verbrecherorganisation, die in vielen der rund 800 Slums von Rio traditionell darüber bestimmt, welche Kandidaten gewählt werden.
Eine Touristenattraktion wie Alcatraz in den USA hätte der Kerker werden können, klagen frühere Wärter, zeigen verächtlich auf die Resultate der von Brizola überstürzt befohlenen, dilettantisch vorbereiteten Detonation “ Mauern, Portale und einige Gebäude stehen schließlich noch; wegen der Hundekadaver, heißt es, durfte lange Zeit niemand in die Nähe, patrouillierte Militärpolizei.

Piraten, Sklavenhändler, Sekten

Die ursprünglich von längst ausgerotteten Tupinamba-Indios besiedelte Ilha Grande lag einst auf einer wichtigen Route französischer, britischer, holländischer und spanischer Piraten und Sklavenhändler “ eine kleine, gerne von Sportanglern und “tauchern aufgesuchte Insel vor dem Kerkerstrand soll von dem famosen Korsaren Jorge Grego im 16. Jahrhundert zeitweilig bewohnt worden sein, ist nach ihm benannt. Der legendäre spanische Seeräuber Juan Lorenzo baute sich auf der Ilha do Morcego(Fledermausinsel) vor Vila do Abraao ein Haus, das noch existiert. Ausgeruht und mit frischem Proviant segelten die Piraten in Richtung Rio de la Plata weiter “ dort wurden die mit peruanischem Gold und bolivianischem Silber beladenen Schiffe Spaniens bevorzugt attackiert.
Wer genügend Zeit mitbringt, ein Boot zur Verfügung hat, sollte beim Umsegeln der Ilha Grande an der abgelegenen Fischersiedlung Proveta Rast machen. Sie wird von der Sektenkirche „Assembleia de Deus” dominiert “ über neunzig Prozent der etwa zweitausend Bewohner halten sich strikt an die gestrengen Gebote des Pastors und De-facto-Präfekten Elizeu Martins, trinken und rauchen nicht, bleiben dem Karneval und anderen lauten Festen fern. Atemberaubend knappe Bikinis wie sonst überall in Brasilien “ nicht in Proveta. Mädchen, Frauen dürfen nur in Bluse und Rock baden, Knaben und Männer in Bermuda-Shorts und T-Shirts, natürlich kurzmähnig und bartlos. Wenn die vom Festland kommenden Lehrer der kleinen öffentlichen Schule wissenschaftlich erklären, wie die Erde, die menschliche Rasse entstand, die Zeugung funktioniert, sagen viele Kinder „Blödsinn” “ und halten sich weiter an die Bibelversion.

Ausflüge

Nahe Vila do Abraao, an der Festlandsseite, liegt kein einziger Strand, der zum Surfen taugt. Wer darauf nicht verzichten mag, wird mit Gleichgesinnten die dem Ozean zugewandte Praia de Lopes Mendes ansteuern “ weißer, feiner Sand, Mandelbäume und sehr häufig ungestüme, hohe Wellen.
Die Ilha Grande ist nur eine von weit über einhundert kleinen und größeren Tropeninseln vor Angra dos Reis und dem entzückenden Kolonialstädtchen Parati, von der Unesco zum Kulturerbe der Menschheit deklariert. Keineswegs alle Inseln gehören Schicken, Reichen, Prominenten wie Brasiliens weltbekanntem, selbst von US-Stars bevorzugten Schönheitschirurgen Ivo Pitanguy “ nicht verwöhnte Camper könnten sich auf einem unbewohnten Eiland absetzen und irgendwann wieder abholen lassen. Das verträumte, romantische Parati, in dem das Elternhaus der Mutter von Thomas und Heinrich Mann jetzt in ein euro-brasilianisches Kulturzentrum verwandelt wird, lohnt vor allem außerhalb der Saison – dann verkrochen sich dort auch Leute wie Marcello Mastroianni oder Mick Jagger.

Dieser Beitrag wurde am Mittwoch, 05. März 2008 um 20:13 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Kultur abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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