Klaus Hart Brasilientexte

Aktuelle Berichte aus Brasilien – Politik, Kultur und Naturschutz

Wie Brasilien tickt – der Fensterstreit von Sao Paulo(1), ein soziokulturelles Experiment. Ungläubiges Staunen, schallendes Gelächter über den Fall in Deutschland: „Hier völlig undenkbar – auf eine solche Idee käme hier niemand.“

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Stellen Sie sich vor, Ihre deutsche Hausverwaltung würde Sie und alle anderen Bewohner auffordern, umgehend in den Eigentumswohnungen  neue Fenster einzubauen, die, wie auf dem Foto zu sehen ist, nur noch die Hälfte an Lichteinfall und Belüftung zulassen. Die Verschlechterung Ihrer Lebensqualität, so die Aufforderung, hätten Sie auch noch selber zu bezahlen – die Hälfte Ihres Fensters nun durch häßliches Aluminium verdeckt, verschlossen.

Die Hausverwaltung wäre angesichts der bizarr-absurden Idee binnen kurzem allgemeinem Gespött preisgegeben, die Medien würden sich genüßlich des Themas annehmen, die Verantwortlichen interviewen, durch den Kakao ziehen. Niemand der Hausbewohner nähme die Aufforderung ernst –  der Hinweis auf das deutsche Gesetz, den Bestandsschutz-Paragraphen, auch auf Gesundheits-und Umweltgesetze reichte aus, um die Sache zu beenden.

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Brasilianische Fensterkonstruktion – nur zur Hälfte zu öffnen…

Ganz anders in Sao Paulo, Brasilien – dort ist zwar die Gesetzeslage genauso bis sehr ähnlich, werden indessen die Bewohner eines City-Wohngebäudes, mit immerhin 18 Appartements, gezwungen,  just solche Fenster auf eigene Kosten einzubauen – und den Verlust an Licht und Belüftung, Lebensqualität hinzunehmen. Mehrere Bewohner versuchten, sich zu wehren, wandten sich, naheliegend, an die von der Arbeiterpartei PT Lulas geführte Präfektur, mit PT-Bürgermeister Haddad – die vollmundig Bürgernähe, Gesetzestreue, Schutz und Verbesserung der Lebensqualität auf ihre Fahnen schreibt. Auf der real existierenden Beschwerdestelle der Präfektur sieht ein wohlinformierter Beamter das Fenster-Absurdum sofort ein, formuliert eine entsprechende schriftliche Beschwerde, leitet eine Prüfung durch zuständige Präfekturfunktionäre ein, gemäß den Kriterien Gesundheit, Lebensqualität, wie in der Verfassung garantiert. Doch siehe da – es geschieht weit über einen Monat nichts, zuständige Präfekturfunktionäre verweigern eine Besichtigung des Wohngebäudes, eine Vor-Ort-Beurteilung des durch die bereits zum größten Teil eingebauten häßlichen Alu-Fenster entstandenen Schadens. Zumal ein Appartement noch die Originalfenster besitzt – wunderschön, perfekt von kundigen Handwerkern einst aus bestem Holz gefertigt, sehr ähnlich denen an denkmalsgeschützten Häusern Deutschlands, der Schweiz, Österreichs oder Frankreichs. Ein zuständiger Präfekturfunktionär hält den Einbau der Alu-Fenster für völlig gerechtfertigt, ist erst nach etwa halbstündiger Diskussion bereit, seinen „Supervisor“ von der Sache zu informieren, die Gesundheitsbehörde der Präfektur einzuschalten. Ein anderer hoher Funktionär der Präfektur besteht ebenfalls darauf, daß der Fenstereinbau rechtens sei, übergeordnete Gesetze, wie die zum Bestandsschutz(direito adquirido) hier nicht gelten könnten. Selbst befragte Rechtsanwälte vertraten – gegen Honorar –  den Standpunkt: Wenn das so entschieden wurde, hat man es eben hinzunehmen – und Punkt, ein Rechtsstreit, der Gang zur Justiz sei garantiert erfolglos. Hinweis auch auf die gewaltigen Mentalitätsunterschiede zwischen Deutschland und Brasilien. Ein in dem Gebäude wohnender Anwalt unterwarf sich ebenfalls dem Fensterdekret, man sei zwar im Recht, dies werde man indessen in einem Land wie Brasilien nicht bekommen.  Auch er hielt die Einschaltung der Justiz für sinnlos. Andere Bewohner, Anwohner argumentierten: „Auf keinen Fall vor Gericht gehen, keine Anzeige erstatten – sehr hohe Kosten, mehrere Wochen Arbeitsausfall. Brasilien hat eine Rachekultur – falls wider Erwarten der Prozeß gewonnen wird, besteht das Risiko, daß die Kläger ermordet, totgeschlagen werden.“

Indessen haben die Besitzer einer Wohnung auf eigene Initiative die vorgeschriebenen Aluminiumfenster so modifizieren lassen, daß man sie doch hundertprozentig öffnen kann. Niemand sonst im Gebäude folgt dem Beispiel. Am Tage des Einbaus durch eine Firma entsteht der unter brasilianischen Verhältnissen zu erwartende Skandal – Hausverwaltungsfunktionäre schreien herum, fordern von Wohnungsbesitzern und Firma den Stopp des Einbaus. Die Fenster werden jedoch installiert – und schon am nächsten Tag steht ein Hausverwaltungsfunktionär vor der Tür, überreicht das amtliche Schreiben einer sofort zu entrichtenden hohen Geldbuße, wegen der Fensterinstallation, die umgehend rückgängig zu machen sei.  

Auf dem UNO-Index für menschliche Entwicklung liegt Deutschland auf Platz 5, Brasilien nur auf Platz 85.

Natürlich gibt es brasilianische Rechtsexperten, die sehr deutliche Bewertungen zur Lage formulieren. So sagt Paulo Sergio Pinheiro, UNO-Sonderberichterstatter, renommierter Menschenrechtsexperte: „Der Mehrheit der Brasilianer werden die Rechte verweigert. In allen brasilianischen Polizeiwachen wird gefoltert, jeder weiß das.“

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Wir werden über den Fortgang des Fensterstreits von Sao Paulo weiter berichten – zumal, wie selbst Präfekturangestellte einräumten, solche Fälle garnicht so selten seien. Gewöhnlich, so hieß es, würden nur zu oft völlig funktionsfähige, schöne Fenster zum Schaden, gegen den Protest der Bewohner ausgetauscht, um Firmen, die Billigfenster produzieren, zu begünstigen. Probleme dieser Art gibt es in Brasilien in unzähligen Variationen, sind für Bewohner Mitteleuropas gewöhnlich nicht nachvollziehbar. 

Der  vergleichsweise banal anmutende Fensterstreit vollzieht sich vor dem Hintergrund heftiger Straßenproteste der Bevölkerung Sao Paulos zugunsten der in Gesetz und Verfassung theoretisch garantierten Rechte, Bürgerrechte, Menschenrechte.  

Dieser Beitrag wurde am Freitag, 30. August 2013 um 18:13 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Kultur, Politik abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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