Klaus Hart Brasilientexte

Aktuelle Berichte aus Brasilien – Politik, Kultur und Naturschutz

Waldick Soriano tot. Brasiliens Brega-Musik, enorm populär.

Rund 500 Kompositionen, 84 extrem erfolgreiche Platten, immens beliebt bei den allermeisten Brasilianern, in ganz Lateinamerika und selbst in den USA gespielt “  trotzdem in Deutschland absolut unbekannt. Zu den Absurditäten der (Des-)Informationsgesellschaft und auch der Weltmusik-Szene gehört, daß die wirklichen Stars der Musica Popular Brasileira, solche wie Waldick Soriano, in deutschen Musikprogrammen keinerlei Chance haben.

Er wächst in Bahia als Bauerkind auf, ist danach Viehtreiber, Schuhputzer, Diamantenschürfer, entsetzlich arm. Dann auf einmal unverschämtes Glück “  Anfang der Sechziger bringt eine Plattenfirma Sao Paulos eine seiner ersten schlichten Kompositionen, „Quem és tu”, heraus, sofort ein nationaler Hit, Ohrwurm wie alle folgenden. Soriano, Markenzeichen schwarzer Hut, schreibt meist ultraromantische, sehr gefühlvolle Boleros, von manchen als Seelenkitsch verrissen, in Brasilien als „Brega” und „Cafonice” eingestuft. Doch sowas hört gerade die Bevölkerungsmehrheit der einfachen Menschen unheimlich gerne; viele Stars von Bossa Nova und Samba wie Joao Gilberto sind bei denen chancenlos. „Waldick ist Brasiliens B-Seite, die in Wahrheit wegen der enormen Popularität die A-Seite ist”, schreibt die größte Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo” im Nachruf. „Wer wirklich liebt, leidet deshalb meist furchtbar “ Motto meiner Musik”, sagte Soriano einmal. Seine erste Frau, eine Ex-Prostituierte, stirbt zwei Monate nach der Hochzeit “ danach 13 Lebenspartnerinnen, sieben Kinder, dennoch immer wieder tiefe Einsamkeit im Dasein des sensiblen Bohemien. Die Militärdiktatur verbietet „Tortura de Amor” just wegen des Titels “ Sorianos absoluter Superhit „Ich bin doch kein Hund”(Eu nao sou cachorro nao) kriegt von  Falcáo, noch so einem großen, interessanten Unbekannten aus Brasilien, eine kuriose englische Version namens „I´m Not Dog No”. Indie-Bands würdigen 2007 Waldick Soriano mit der CD „Eu Nao Sou Cachorro Mesmo”. Auf den seelenvollen Schwoofs des Hinterlands spielen die Tanzorchester natürlich fast nur Titel von Soriano und seinen Brega-Companheiros. Immer wieder im Interior zu beobachten: Frauen, Männer sitzen abends vor der Kate, haben ein kleines Transistorradio, das „Radinho” in der Hand, hören meist auf Mittelwelle Brega-Programme mit Soriano. In einem Interview sagte er:”Diese neue Generation von heute ist sehr kalt “ echte, wahre Liebe gibts nicht mehr, man liebt nicht mehr wie früher.” Bevor Soriano am 4. 9.2008 in Fortaleza an Krebs verstarb, wurde gottseidank der Dokumentarfilm „Waldick “ Sempre no Meu Coraçáo” fertig und läuft bereits erfolgreich auf Festivals. Anschauen “ sehr brasilianisch.

 Waldick – YouTube: http://www.youtube.com/watch?v=Mf1eumYAFkEhttp://www.youtube.com/watch?v=2m0oJVWlwEghttp://br.youtube.com/watch?v=kr1GmczNngQhttp://videostiosam.blogspot.com/2008/09/waldick-soriano-tortura-de-amor.html

Hintergrund:

Die wirklichen Stars der Musica Popular Brasileira

Brasiliens populärste Musiker werden von Deutschlands Radios kaum oder gar nicht gespielt, von den Kommerzmedien gewöhnlich unterschlagen. Wer im Tropenland wohnt, weiß ohnehin, wer populärer ist – Caetano Verloso oder Roberto Carlos, Gilberto Gil oder das Duo Zezè di Camargo e Luciano? Und wer demnächst beruflich oder privat nach Brasilien kommt, sollte einfach mal testen: Sind Gilberto Gil, Caetano Veloso, Chico Buarque, Carlinhos Brown, Chico Cesar, Tom Zè oder Marisa Monte wirklich die großen Namen diser Musik-Supermacht, liefern sie dem Volke die Ohrwürmer, tanzt man in den Schwoofdielen am liebsten nach deren Titeln, werden deren CDs am meisten verkauft, am meisten im Radio gespielt?

Und sind Interpreten, Bands wie Badi Assad, Lenine, Virginia Rodrigues, Daudè, Trio Mocoto oder Olodum, die man in Deutschland so anpreist, in ihrem Heimatland tatsächlich so populär? Bebel Gilberto “ am Zuckerhut jetzt ein Star, gar die „Königin der neuen brasilianischen Musik”? Sorry, oder besser auf Portugiesisch “ sinto muito “ alle Genannten machen eine meist interessante, wohlelaborierte Musik, doch verglichen mit den wirlichen Stars und Hitmachern sind einige davon direkt kleine Lichter, sogar Bebel Gilberto. Über Geschmack läßt sich streiten “ mir wäre am liebsten, wenn Chico Buarque die Hitlisten anführte. „Wir sind von Dummheit umzingelt “ in Brasilien wächst sie gefährlich an”, erklärte er unlängst – die letzten zwei Jahrzehnte konstatierte der Komponist und Romancier gar eine „Bewegung der globalisierten Idiotie”. Der meistgespielte, meistgehörte, meistgekaufte Musiker ist er in Brasilien jedenfalls nicht.
Schon mal was vom Sänger und Komponisten Roberto Carlos gehört? Seit über drei Jahrzehnten ist er Brasiliens einziger Megastar “ von keinem anderen wurden mehr Tonträger, DVDs verkauft, keiner wird so oft nachgespielt. Selbst von Caetano Veloso, Gal Costa, Marisa Monte, bekannten Bands wie Skank, Vexame, Barao Vermelho Eine der erfolgreichsten CDs von Maria Bethania enthält nur Roberto-Carlos-Stücke. Über keinen steht mehr in der Musikpresse. Landauf, landab strahlen Sender tägliche(!) stundenlange Spezialsendungen mit Balladen, Boleros von Roberto Carlos aus. Natürlich hat er den Grammy in der Sparte „bester lateinamerikanischer Sänger”, der ganze Kontinent liebt ihn. Theoretisch dürfte er deshalb in keinem internationalen Musikprogramm deutscher Sender fehlen “ doch genau das passiert. Roberto Carlos paßt nicht ins Konzept. Denn wider alle Klischees mögen die meisten Brasilianer, auch die jungen, sentimentale bis ultraromantische Stücke weit mehr als hektisch-aufgeregte Titel nach Art der immer schnelleren, marschähnlichen Karnevalssambas. „Politisch korrekt” wäre daher, wenn auch die Weltmusiksparte endlich den dominierenden Musikgeschmack der Brasilianer akzeptieren, entsprechend reflektieren würde, anstatt weiter absurde Klischees von afrobrasilianischer Exotik, vom feurigen, temperamentvollen Brasileiro zu pflegen. Sentimentales, Langsames von den Beatles, Stones, allen heutigen anglo-amerikanischen Rock-und Pop-Größen legen die deutschen Radios gerne auf “ da winkt man in Brasilien ab, wir haben Besseres. Neben Roberto Carlos auch Nana Caymmi, Leandro, Roberta Miranda, Alexandre Pires und viele andere. In dem Tropenland, 24-mal größer als Deutschland, hat einheimische Musik heute einen konstanten Marktanteil von über achtzig Prozent, selten verläuft sich einmal ein nordamerikanischer, britischer Titel unter die ersten Zehn, Zwanzig der Hitparaden.
Ricardo Moreira in Rio de Janeiro, Product-Manager von Universal Music Brasil, kennt die Probleme mit der europäischen Weltmusikszene, deren Machern nur zu gut. Er hat die auch in Deutschland erhältliche, sehr empfehlenswerte CD-Serie „Pure Brazil” konzipiert, alle Titel alleine ausgesucht. Doch von Megastar Roberto Carlos ist kein einziger dabei. „Den mag ich unheimlich”, sagt Moreira, „Roberto Carlos ist einer der größten Interpreten, den ich kenne, psychologisch-gefühlsmäßig gesehen soooo brasilianisch. Er ist eine Ikone der romantischen Musik ganz Lateinamerikas, hat dort Riesenerfolg. Nicht zu leugnen – die Brasilianer mögen das Tiefromantische, die mögen langsame Titel. Schnellere, zum Tanzen, sicher auch, aber die langsamen, romantischen bleiben immer am längsten in der Hitparade. Wir haben ja diese Tristeza in uns, die vielleicht noch aus der Zeit der Sklavenschiffe herrührt. Aber ich dachte mir eben, wenn ich Roberto Carlos in die Pure-Brazil-Kollektion mit reinpacke, wird das unsere Zielgruppe draußen in der Welt ablehnen. Man muß eben auch Marktaspekte berücksichtigen.” Aus den selben Gründen wagte es der Universal-Manager auch nicht, wenigstens einen einzigen Titel der ultraromantischen Sertaneja-Musik mitzunehmen. Die ist in Brasilien unangefochten Marktführer, war in den meisten Regionen Brasiliens schon immer populärer als Samba, den nur eine Minderheit richtig zu tanzen weiß.
Und “ man ahnt es schon, auch Sertaneja-Musik wird in den deutschen Radios ebenfalls unterschlagen, nur in absoluten Ausnahmefällen gespielt. Die Megastars dieser enormen Sparte der Musica Popular Brasileira(MPB) sind das Falsett-Duo „Zezè di Camargo e Luciano”, der Nation liefern sie einen Ohrwurm nach dem anderen. Nicht zufällig erwählte sie Staatschef Lula, der Ex-Arbeiterführer, strategisch geschickt zu seiner Anheizer-Band für die Kundgebungen im Präsidentschaftswahlkampf. Der erfolreichste brasilianische Streifen des Jahres 2005 ist ein Musikfilm. Über Samba? Nein, über Sertaneja. „2 Filhos de Francisco” zeigt die Biographie dieses Falsett-Duos. Im Soundtrack auch Caetano Veloso, Maria Bethania, Ney Matogrosso und andere.
„Wir sind mehr MPB als Chico Buarque und Caetano Veloso”, sagt Zezè di Camargo. „Das P steht schließlich für populär “ und das sind wir viel mehr als die.” Daran gibt es nicht den geringsten Zweifel – von solchen CD-Auflagen können Gil, Caetano, Carlinhos Brown und all die anderen in Deutschland mehr oder weniger bekannten Musikusse nur träumen. „Sertaneja” ist inzwischen ein weiter Begriff “ reicht von der schlichten Gitarrenballade der Viehtreiber nachts am Feuer bis zum brasilianischen Country-Pop, unverkennbar der Einfluß des Bolero, des mexikanischen Maratchi.
In Brasilien darf man ruhig einen sehr eklektischen Musikgeschmack haben “ in der deutschen Szene sturer Puristen nicht. Sertaneja, Roberto Carlos “ wie grausig! Ja nicht dabei erwischen lassen, den Sertaneja-Superhit „Pense em mim” zu trällern! In Brasiliens Intellektuellenzirkeln liefs, läufts ähnlich. Zum Filmstart von „2 Filhos de Francisco” bekennt der renommierte Psychologe und Kolumnist Contardo Calligaris in der Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo”, bereits seit den 80ern Sertaneja zu mögen, dies aber immer verschwiegen zu haben: „Leandro und Leonardo oder Zezè di Camargo e Luciano zu hören, galt in meinen Kreisen als Zeichen extremer musikalischer Vulgarität. Aber ich wette “ wenn unsere Sertaneja-Duos englisch sängen, würden sie in Nashville genauso triumphieren wie in unserem Barretos.”
Auf jede im Laden legal verkaufte CD kommen heute in Brasilien etwa zehn Raubpressungen. Wer in Rio die Copacabana entlanggeht, kann das Angebot der illegalen CD-Straßenhändler begutachten “ alles offen auf den Fußwegen ausgelegt. Die „Ambulantes” bieten nur Musik an, die das Volk wirklich mag. Deshalb fehlen nie Roberto Carlos und Sertaneja-Duos wie Zezè di Camargo e Luciano, Xitaozinho e Xororò, Bruno e Marrone und viele andere der Sparte. Bebel Gilberto, Caetano Veloso? Leider meist Fehlanzeige. In den Slums an den Großstadtperipherien kennt die kaum einer.
–„coole Europäer””
Roberto Carlos, Sertaneja-Musik “ „vielleicht zu romantisch für coole Europäer”, sagt in Sao Paulo der brasilianische Musikexperte Biaggio Baccarin. Da ist was dran. Zudem sind viele coolen Vorkoster, von löblichen Ausnahmen abgesehen, der brasilianischen Landessprache gar nicht mächtig, plappern nur nach, was auf den Waschzetteln der Plattenfirmen steht, bedienen nur den eigenen Geschmack. Motto “ das macht doch nichts, es merkt ja keiner.
Viele Brasilianer tanzen gerne eng zusammen, pflegen den erotisch-sinnlichen Paartanz wie keine andere Nation weltweit “ Deutsche nicht mehr, Erfolg der Amerikanisierung durch die westliche Führungsmacht. Aus teils panischer Angst vor Körperkontakt lieber alleine hopsen in der Disco, dem Treffpunkt der Nichttänzer. Doch die populäre brasilianische Musik ist Tanzmusik, erschließt sich am besten über den Paartanz. Von den Verwaltern der Musica Popular Brasileira in den deutschen Sendern, Printmedien ist nicht bekannt, daß sie sich regelmäßig bei Samba, Bolero, Forrò oder Zouk austoben, gar gelegentlich in Rios seelenvollen Schwoofdielen auftauchen, Kurse bei Brasiliens bestem Tänzer und Tanzlehrer Jaime Aroxa in Rio nehmen. Vielleicht haben deshalb die wirklichen Stars der MPB sowenig Chancen in Deutschland. In Jaime Aroxas Tanzakademien werden Roberto Carlos & Co. hoch und runter gespielt. Und beim Samba? Natürlich der in Deutschland fast völlig unterschlagene Jorge Aragao, in Brasilien gemäß Branchenstatistiken die Nummer Eins der Sparte, populär wie Alcione, noch so eine große Unbekannte. Der dunkelhäutige Aragao schafft bis zu zweiundvierzig Auftritte pro Monat, kämpft seit jeher für authentischen, sehr gut tanzbaren Samba “ und für schwarzes Selbstbewußtsein, ist einer von den ganz politischen Sambistas. Jahrelang schleppt er Kühlschränke und Möbel, macht nur nebenbei Musik. Doch dann läßt er Brasiliens Schwarze vor zwei Jahrzehnten mit dem Lied „Coisa de Pele”, die Sache mit der Haut, aufhorchen, protestiert gegen kulturelle Überfremdung. „Als ich diesen Samba schrieb,” sagt er im Exklusivinterview, „wurden in Brasilien zu achtzig Prozent nur ausländische, anglo-amerikanische Titel gespielt “ fast nichts von uns, genau das Gegenteil von heute. Dieser Samba steht für eine Zeit, als sich auf einmal die Dinge änderten.” Martinho da Vila, Zeca Pagodinho, neugegründete Sambabands feierten zuvor undenkbare Erfolge. Einen Samba-Hit, „Hot-Saia”, hat Aragao auf Tanzstar Jaime Aroxa gemünzt:”Der hat mich immer angefeuert, solche Sambas für die Schwoofdielen zu komponieren, für Leute, die gerne zusammentanzen, frei, leicht, fließend. Genau mein Ding.” Schauen wir auf die „Hitparade” der CD-Straßenhändler “ Aragao und die göttliche Alcione sind natürlich immer reichlich im Angebot.
Brasiliens größtes Nachrichtenmagazin „Veja” schrieb, daß die Erste Welt in Wahrheit gar nicht daran interessiert sei, die echte nationale Musik des Tropenlandes kennenzulernen. Man wolle doch nur ein bißchen andere Würze, die zum sonst üblichen Musikgeschmack der Nordamerikaner und Europäer passe. Brasilianische Musik guter Qualität klinge nicht exotisch genug, sei gar zu sanft. Um in der Ersten Welt Erfolg zu haben, müßten sich die brasilianischen Musikusse daher den dortigen Stilen, Genres anpassen “ das typisch Brasilianische werde dann lediglich zu etwas Temperinho, Würze. Bebel Gilberto “ für „Veja” das beste Beispiel. Andere mixen ebenfalls Elektronik, sogar Tecno mit Bossa-Nova, damits ankommt. Nichts für Jaime Aroxa, der gerade in Rio de Janeiro den Zouk, die charmantere, elegantere, sinnlichere Version der Lambada populär macht.
–„O Iraque è aqui”–
„Der Irak ist hier”, singt Jorge Aragao auf seiner neuesten CD, „das Volk in den Ghettos hat Angst”. Der Sambista bedient keines der in Deutschland so beliebten sozialromantischen Brasil-Klischees “ schließlich werden in dem Tropenland mehr Menschen umgebracht als im Irakkrieg, ermordete eine Todesschwadron 2005 dreißig Menschen an Rios Slum-Peripherie, eines von vielen Massakern.
Brasilien ist ein Land extremer Sozialkontraste “ auch die Musikszene daher weit facettenreicher, als sich mancher vorstellt.

Dieser Beitrag wurde am Freitag, 12. September 2008 um 18:36 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Kultur abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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