1947 wird Alcione im kraß unterentwickelten nordöstlichen Lepra-Teilstaat Maranhao geboren, singt bereits als Jugendliche im Polizeiorchester ihres Vaters, lernt dort Trompete spielen, arbeitet als Grundschullehrerin, geht dann nach Rio de Janeiro. Alle paar Jahre bescheinigt ihr die Kritik erneut, „auf dem Höhepunkt der Karriere” zu sein. Über zwanzig goldene Schallplatten, mehrere in Platin.
Als sie noch längst kein Star ist, ziemlich schlecht im ersten Stock an einer grauenhaft lauten Kreuzung in Copacabana wohnt, bin ich mit ihr durch Rios Musikszene gezogen, lernte durch sie damals noch völlig unbekannte Musiker kennen. Alcione sagte, das sind Supertalente, die habe ich entdeckt, die fördere ich jetzt, die müssen was werden! Und bei ihrem Durchsetzungsvermögen – „Der Macho bin ich! Auch in Beziehungen!” – sind es längst landesweit bekannte, anerkannte Musiker, Sänger geworden – Beispiel Emilio Santiago. Bei dessen ersten Shows in Winzig-Klubs sitze ich neben Alcione, bekomme sozusagen Musikunterricht: „Hör Dir den genau an! Es gibt viele sehr gute Sänger in diesem Land, die einfach keinen Plattenvertrag kriegen – und andererseits wird unheimlich viel Mist produziert. Emilio Santiago ist für mich der beste Sänger Brasiliens – doch er hat keine Plattenfirma. Ich werde in eine Platte für ihn investieren!” Die hat einen Riesenerfolg, zig andere danach ebenfalls, alleine von den sieben CDs der Serie „Aquarela Brasileira“ werden weit über vier Millionen verkauft.
Wie erging es Alcione in Rio? „Anfangs hatte ich nur Gelegenheitsjobs, war Verkäuferin, bis mir schließlich eine Nachtbar eine Chance gab, weil ich auch Trompete blasen konnte. Dort hat mich der berühmte Jair Rodrigues entdeckt, mir 1972 den ersten Plattenvertrag verschafft. Früher sang ich alles durcheinander, Jazz, Bolero, Mambo – bis ich entdeckte, daß Samba mein Stil ist, mir alle Möglichkeiten zum Improvisieren gibt. Wir müssen heute noch dafür fechten, daß mehr Samba im Radio gespielt wird, das erscheint absurd im Land des Samba. Amis, die hierher kommen und das Radio anmachen, fühlen sich wie zuhause, weil dieselbe Musik wie dort läuft. Provinziell ist für mich, daß Brasilianer Rockmusik imitieren “ in einem Land, das so starke musikalische Wurzeln hat, und so unendlich reich an Rhythmen ist. Verglichen damit, ist Rock eine recht armselige Angelegenheit.” Heute würde Alcione wohl auf ähnliche Weise Rio-Funk, brasilianischen HipHop und Rap kritisieren.
Alcione ist Zugpferd von Rios traditionellster Sambaschule Mangueira – hat diese professionalisiert. Brasiliens Musikindustrie ist in der Krise, der CD-Absatz ist im Keller, jede zweite verkaufte CD wird schwarz produziert – doch Alcione scheint davon nicht betroffen, ist immer in den Hitparaden, kommt bei letzten CDs auf über eine Million verkaufter Scheiben und mehr. Kennt andere Zeiten: „Laßt den Samba nicht sterben”, ist einer ihrer Klassiker, aus den Sechzigern, Siebzigern, Achtzigern – als sie mit anderen Komponisten, Musikern, Sängern richtig ums Überleben des Samba, gegen dessen Nischendasein fechten mußte. „Wir Sambistas wurden lange Zeit wie Vagabunden, zwielichtige Gesellen angesehen, ganz früher sogar von der Polizei verfolgt!” Kaum jemand hat sich in Brasilien so für den Samba ins Zeug gelegt wie Alcione. Heute kann sie sich recht zufrieden zurücklehnen – Samba ist wieder populärer, wird auch wieder von Jüngeren, vom studentischen Publikum gemocht.
Wer sich ins boomende, brennend interessante Nachtleben des Rio-Altstadtteils Lapa stürzt, kann mitfeiernd beobachten, was sich in Rios neuer Samba-Szene tut, welche neuen Bands immer mehr Erfolg haben.
Alcione ist indessen auch wegen ihrer sentimentalen Boleros, Balladen berühmt. Von der UNO wurde sie zur „Stimme Lateinamerikas” gekürt, bekam so ziemlich alle Kulturpreise Brasiliens, tourte um die ganze Welt.
Die vorletzte CD von 2004 “ „Faz uma loucura por mim” (Begeh eine Verrücktheit für mich) erhielt im Tropenland beste Kritiken. Aufwendig produziert, neue oder wohlbekannte Komponisten und ein swingiger, jazziger Samba “ wunderbar zum Tanzen – namens „Primo do Jazz”, Vetter des Jazz “ mit dem sie ihre Shows eröffnet, immer auch mal Solotrompete spielt. Fünfzehn Musiker mit ihr auf der Bühne und noch mehr herumwirbelnde Sambatanzpaare. Der Text weist auf die Verwandtschaft zwischen Samba und Jazz, auf die gemeinsamen Wurzeln in der Kultur der aus Afrika verschleppten Negersklaven, weist auf Swing und Soul. Und in Anspielung an ihren oben erwähnten Klassiker „Laßt den Samba nicht sterben” heißt es da : „Wer denkt, der Samba ist tot, hat nichts begriffen, blickt nicht durch” – „Samba streßt nicht, wird nie alt. Mein Samba wirbelt Staub auf, alles tanzt schön wild, bewegt die Hüften – schwer was los, wenn ich diesen Samba abfeuere.”
Mit der neuesten CD ”De Tudo Que Eu Gosto“ ist Alcione jetzt mit sechzig Jahren auf landesweiter Tournee – schmettert mit ihrer charakteristischen, bisweilen rauhen Superstimme neben Sambas und Boleros auch Forró und Reggae in die ausverkauften Riesenhallen, einen Ohrwurm nach dem anderen.
« „Bioenergien sind bio“ oder „Bio-Treibstoff ist Todessprit“(1) – Brasiliens Heer der Geistesgestörten. In Sao Paulo leiden 40 Prozent unter psychischen Krankheiten – Geistesgestörte, geistig Verwirrte im Alltag häufig anzutreffen. Gewalt und Verbrechen machen psychisch krank – gestörte Sexualität. Wachstumsbranche Pharmaindustrie. Langtext. »
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