Klaus Hart Brasilientexte

Aktuelle Berichte aus Brasilien – Politik, Kultur und Naturschutz

Brasiliens TV: Populärer Moderator Ratinho drastisch zu Brustkrebs-und Prostatatest.

http://odia.terra.com.br/portal/diversaoetv/html/2011/8/ratinho_tira_a_camisa_em_seu_programa_e_ensina_a_fazer_o_auto_exame_da_mama_182141.html

Brasiliens TV-Ratte

Reality-Shows im Tropenland – Brutalo-Moderator Ratinho wurde Kultfigur

Stärkeren Tobak präsentiert, wie es aussieht, weltweit kein anderer Kollege – Carlos Massa alias Ratinho, kleine Ratte, traut sich, darf mehr als die Konkurrenten, und das allabendlich bis zu vier Stunden. Beim Beschreiben programmtypischer Szenen sträubt sich die Feder: Ratinho, 41, Ex-Kongreßabgeordneter, stellt einen Jungen vor, dem ein Schwein das Geschlechtsteil abfraß. Wie üblich, feuert jemand  die mehreren Hundert im Studio an, per Sprechchor den Verschüchterten zum Herunterlassen der Hosen zu veranlassen. Schließlich tut er es, steht ganze fünf Minuten da, zeigt die entsetzliche Wunde, die Kamera geht ganz nahe ran – das Publikum reagiert zufrieden bis begeistert. Ein Lump, der an platten Voyeurismus denkt, kommentiert Ratinho, ein medizinischer Fall werde realistisch vorgeführt, weiter nichts, dem armen Jungen solle auf Senderkosten geholfen werden. Das gleiche Schema bei den Riesenbrüsten von Slumbewohnerinnen: Sie leiden unter der Last, werden gehänselt, haben Probleme bei der Arbeitssuche – ganz menschlich-mitfühlend interviewt Ratinho; dann wieder die Sprechchöre, alle wollen die Brüste sehen. Achtzehnjährige, Frauen über sechzig haben sichtlich Hemmungen, Ratinho redet gut zu, alles diene der Volksaufklärung und der Medizin; schließlich heben sie, eine nach der anderen, sehr Dicke und sehr Magere,  die T-Shirts hoch bis zum Hals, oder knöpfen Blusen auf, grotesker gehts nimmer. Ratinho verspricht Gratis-Operationen, schielt in den Einschaltquoten-Monitor. Der sogenannte „Ibope“, ständig gemessen, steigt sprunghaft – freudestrahlend, lauthals herauslachend, teilt der populistische Demagoge jeweils mit, wenn  das private TV Globo,  meistgesehener Kanal der immerhin fünfzehnten Wirtschaftsnation der Erde, wieder einmal überrundet wurde, verspottet dessen Programm-Macher. Ratinhos SBT(Sistema Brasileiro de Televisao), im Besitze eines ehemaligen Straßenhändlers,  rangiert  auf Platz zwei, legte seit dem  Ankauf des neuen Nationalidols deutlich zu. Zuvor war das Medienphänomen  beim einst Ibope-schwachen Sektensender „Rede Record“, katapultierte ihn mit seiner Kult-Reality-Show auf den dritten Rang. Stoff, der ähnliche US-Programme in Poesiealbum-Nähe rückt, fehlte nie – schließlich werden in Rio de Janeiro oder Sao Paulo täglich Menschen lebendig verbrannt, zerstückelt, in Gruppen massakriert. Ratinho, der zum Karrierestart laut Nachrichtenmagazin „Isto è“ den Finger in die Einschußlöcher Ermordeter steckte, stimulierte bereits unter den wohlwollenden Augen der Sektenbischöfe überzogen-grotesk die Paranoia des kriminalitätsgeplagten Durchschnittsbrasilianers, appellierte ans rechtsextremes Volksempfinden – liegt damit im Trend: Allein in der Sieben-Millionen-Stadt Rio de Janeiro( schon 1997 offiziell über zwölftausend Morde) sind 52 Prozent für Lynchjustiz, die täglich praktiziert wird. „Nur Intellektuelle mögen Banditen“, schimpft Ratinho und wünscht Kriminellen  den Tod, fordert die Todesstrafe:“Der Entführer ist ein Tier, muß sterben, muß verfaulen!“ Gelegentlich springt er auf die Kamera zu, schreit solche Sprüche so heftig heraus, daß die Linse beschlägt. Und schaltet seine Ansichten auch in Kolumnen fürBoulevardblätter durch. Vergewaltiger müßten entmannt werden:“Mit dem Messer die Eier abschneiden, den Katzen hinwerfen – und fertig.“ Obszöne Kraftausdrücke der Vulgär-und Fäkalsprache,  die jedem deutschen Moderator sofort den Job kosten würden, gehören zu Ratinhos Standardrepertoire. Bricht unterm Zuckerhut wieder einmal eine Tropenkrankheit epidemienartig aus, konstatiert er:“ Die Rio-Bewohner werden grade vom Dengue-Fieber gefickt.“Eine eher noch harmlose Bemerkung. Bezeichnend für Brasiliens gesellschaftliches Klima, daß weder Öffentlichkeit noch Medien auf eine Ratinho-Spezialsendung zum  Jahrestag des ungesühnten Polizeimassakers von 1992 an mindestens 111 Häftlingen Sao Paulos reagieren: Einen Menschenrechtler läßt er durch Blutbad-Befürworter niederbrüllen, ruft die Zuschauer zu Pro-und Contra-Anrufen auf. Neben dem Studiotisch, auf den Ratinho alle paar Minuten kommentarverstärkend mit einem Polizeiknüppel haut, dort sogar gelegentlich tanzt, steht der lockende Hauptgewinn – ein nagelneuer Import-BMW. 77,7 Prozent sind schließlich für den grauenvollen Militärpolizeieinsatz von 1992, der weltweit Schlagzeilen machte.

Natürlich erntet Ratinho in den Qualitätszeitungen nur gröbste Verrisse, muß sich nachweisen lassen, daß die üblichen Studio-Schlägereien zwischen Ehepartnern, verschmähten oder betrogenen Liebhabern wie anderes Hanebüchene gelegentlich getürkt, inszeniert waren. Oder die beliebte Szene, wenn Ehegatten nachgewiesen wird, daß ihre Kinder nicht von ihnen, sondern von anderen Männern sind – die auch noch live auftauchen. Falls eine Geschichte mal nicht stimmte, schiebt Ratinho alles Dritt-Produktionsfirmen in die Schuhe –  seine Glaubwürdigkeit, Popularität bleibt hoch. Den Massen gefällt offensichtlich, daß Ratinhos Programm politisch unkorrekt,  handwerklich eher stümperhaft, reine Improvisation ist, der Chef live Kritiker, patzende Mitarbeiter zurechtweist:“Ich mache , was ich will – in dieser Scheiße hier befehle ich!“ Als die Firmen-Selbstkontrolle von ihm vergeblich fordert,  nicht länger ein unwirksames Haifischmehl „gegen brüchige Knochen“ permanent anzupreisen, kommt abends nach acht prompt die Begründung:“Warum mache ich die Propaganda? Jedesmal, wenn ich das Pulver erwähne, kriege ich siebenhundert Dollar!“ Ein Klacks gegen die über hunderttausend Dollar Monatsgage. Längst ist Ratinho nebenbei auch noch Unternehmer, unterstützt Politiker im Wahlkampf, wird sogar von der großen Sambaschule Mangueira in Rio gefeiert.

Im europäischen Fernsehen, betonen Soziologen, sorgten sich Kommissionen um ethisch-moralische Fragen, existierten Regeln – das brasilianische TV, bis auf einen kleinen öffentlichen Kanal durchweg privat, werde dagegen von der Gesellschaft überhaupt nicht kontrolliert, banalisiere Sex, Tod und Misere. Jurandir Freire Costa, Uni-Prof und Therapeut in Rio, geht noch weiter:“In Europa gibt es noch verantwortungsbewußte kulturelle, politische und moralische Eliten, die sich um die Erhaltung einer lebendigen, eigenen Kultur sorgen, gegen solche Medien vorgehen würden. Derartige Eliten hat Brasilien nicht mehr, die existierenden bleiben untätig und indifferent. Praktiziert wird eine Demokratie der Apartheid, im Lande herrscht ethisch- moralische Schizophrenie.“

Dieser Beitrag wurde am Mittwoch, 03. August 2011 um 00:12 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Kultur abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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