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Brasiliens Theologin Maria Clara Bingemer:”Wir leben im nichterklärten Bürgerkrieg”
Die Dekanin des Zentrums für Humanwissenschaften an der Katholischen Universität Rio de Janeiros will eine sehr spirituelle „Kirche der Laien“
Wer aus Europa anreist und die Theologin in ihrem geräumigen Kabinett aufsucht, wird sie spontan beneiden. Aus breiten Fenstern blickt man nur auf wunderschönen exotischen Tropenwald wie aus der Tourismuspropaganda, die ganze Universität scheint mitten in einer Naturoase zu liegen. Da stimmen die Brasilienklischees – Rio, schönste Stadt der Erde. Nur zu viele Besucher fliegen mit diesem Eindruck wieder ab, haben nichts gesehen, nichts begriffen. Just hinter Maria Clara Bingemers Bilderbuchwald liegen Slums, in denen auch derzeit wieder schwerbewaffnete neofeudale Banditenmilizen um die Vorherrschaft kämpfen, Mißliebige sogar lebendig verbrennen. Brasilien zählt jährlich über fünfzigtausend Gewalt -Tote. In ihrem Kabinett hört die Theologin keine Granatenexplosionen, aber sie weiß davon. „Wir sind in einem nichterklärten Bürgerkrieg – wer in Rio de Janeiro lebt, ist ähnlichen Gefahren ausgesetzt wie im Irakkrieg oder in Afghanistan, muß sich permanent den Normen der Rechtsbrecher unterwerfen.“ Die gravierende Menschenrechtslage im Lande, die Massaker von Todesschwadronen in den Slums, die Staatskorruption – das bringt sie tagtäglich sichtlich auf, das schreit geradezu nach Aktionen, Engagement. Die 55-Jährige beschränkt sich dabei längst nicht nur auf die Universität, die Debatten mit Studenten im Hörsaal. Sie mischt sozusagen an allen Ecken und Enden in der Zivilgesellschaft mit, zählt zu den am meisten gehörten kirchlichen Intellektuellen Brasiliens. Interviews im Fernsehen, ständige Kolumnen in Qualitätsblättern, Mitarbeit in Sozialpastoralen, das von ihr geleitete „Centro Loyola de Fè e Cultura“, die Gruppe „Teopoètica“, welche Theologie mit Literatur, Poesie verknüpft, dazu Buchveröffentlichungen, Vorträge – ein Pensum, das Respekt abnötigt. Auch in Deutschland sind manche erstaunt, geschockt, daß der durch geschicktes Polit-Marketing zum „Hoffnungsträger“ der lateinamerikanischen Massen, gar zur Ikone der Welt-Progressiven, der Globalisierungskritiker aufgebaute Staatschef Lula mit seiner Arbeiterpartei derzeit tief im Korruptionssumpf steckt, gar von Amtsenthebung bedroht ist. Seit Monaten diskutiert Brasilien nur darüber – und natürlich ist überall Maria Clara Bingemers Analyse gefragt. Lange vor der Präsidentschaftswahl von 2002 hatte die katholische Kirche gewarnt, daß Lula mit der gesamten Parteispitze fortschrittliche Positionen verlasse, nach rechts tendiere. Schon seit den Neunzigern wußte man, daß es mit Lulas Ethik nicht weit her war. Deshalb kommt das jetzige Debakel für die Theologin keineswegs überraschend. „Lula paktierte mit den übelsten, skrupellosesten Figuren der brasilianischen Rechten, nutzte alle Mittel, um an die Macht zu kommen – jetzt sehen wir die Konsequenzen.“ Die Wirtschaftspolitik sei konservativ, erhoffte soziale Fortschritte blieben aus, das Anti-Hunger-Programm stehe im Grunde nur auf dem Papier, sei keine echte Misere-Bekämpfung. Doch von Massenprotesten, wie in Argentinien üblich, keine Spur, auch die Studenten bleiben passiv. „Wir damals vibrierten noch vor Politik, gingen zu jeder Demo – doch die junge Generation von heute ist größtenteils desinteressiert, hält sich aus der Politik heraus.“ Das gelte auch für die Katholische Universität – einst immerhin Widerstandsnest gegen die Militärdiktatur. Maria Clara Bingemer ist mit einem Deutsch-Argentinier verheiratet, hat mit ihm drei erwachsene Kinder. „Mein Sohn ist Anwalt, eine meiner Töchter Ökonomin – sie mögen weder Lula noch die Arbeiterpartei, sind klar für Brasiliens Sozialdemokraten vom PSDB.“ Und die Kirche, der Glaube? „Die Leute wechseln hier von einer Religion zur anderen – alles ist fragil, so wie Ehen, Beziehungen, Kompromisse.“ Theologen nutzten gerne das Bild vom Supermarkt, von religiöser Atomisierung:“Greif dir Elemente verschiedener Religionen, die dir gerade gefallen – und mix dir deinen eigenen Cocktail!“ In keiner Großstadt ist der Katholikenanteil geringer als in Rio, hier wuchsen die Sektenkirchen am raschesten, vor allem in den riesigen Slums. „Das sind keine Kirchen, sondern Unternehmen wie MacDonalds – daher funktionieren sie hocheffizient.“ Maria Clara Bingemer studiert die Erfolgsrezepte der Konkurrenz vor Ort – oder in den eigenen vier Wänden an ihren Hausangestellten, alles keine Katholiken, wie bei so manchem Padre in Rio. “In unseren historischen Kirchen herrscht Anonymität – doch bei denen spricht man sehr persönlich mit jedem Gläubigen, werden Laien massiv in den Gottesdienst einbezogen.“ Deshalb fühlten sich die Leute in diesen Tempeln so wohl. In der katholischen Kirche müsse das vernachlässigte Spirituelle wieder viel stärker betont werden. „Die Menschen müssen zuallererst eine tiefe, prägende Gotteserfahrung machen – nur auf dieser Basis kann man ihnen bestimmte Normen vermitteln. Nur zu sagen, Pille und Sex vor der Ehe, das geht nicht – soetwas funktioniert gerade bei der postmodernen Generation überhaupt nicht mehr. Die Kirche muß deshalb ihren Diskurs völlig ändern – und sie wird künftig eine Kirche der Laien sein!“
Rund achtzig Prozent der etwa 190 Millionen Brasilianer leben bereits in großen Städten – wie kommen die Gemeinden der Katholiken mit Sekten, Evangelikalen zurecht?
Maria Clara Bingemer: Die sind aggressiv, deren Organisationsstruktur ist weit weniger rigide als unsere. Jeder Gläubige, der sich in deren Gottesdiensten durch den Heiligen Geist inspiriert fühlt, redet einfach los! Unsere Liturgie ist da viel kontrollierter. Deren Pastoren sind zudem Laien, können eine Familie haben, müssen sich an kein Zölibat halten. Eine kleine Gruppe kann bereits eine neue Kirche bilden. Deren Flexibilität kontrastiert mit unserer Strenge und dem Gewicht unserer Institution – was die Situation sehr kompliziert. Deshalb müssen wir unsere Strukturen flexibilisieren, Konzessionen machen, ohne das Essentielle anzutasten. Ganz dringlich ist, die Laien stärker mitreden zu lassen, nicht nur in den Klerus zu investieren. Andernfalls werden immer mehr Katholiken zu den Sekten überlaufen, gewinnen diese an Attraktivität.
Stehen die Sekten den katholischen Gemeinden geschlossen wie ein Block gegenüber?
Maria Bingemer: Man muß differenzieren – in Sekten, envangelikalen Kirchen geschieht viel Migration, wechseln die Gläubigen häufig von einer zur anderen, gibt es religiöse Atomisierung, darunter die Phänomene einer doppelten, gar vielfachen Religions-und Kirchenzugehörigkeit. Das nimmt zu!
Die charismatische Erneuerungsbewegung mit ihrer Symbolfigur, dem ungemein populären Padre Marcelo Rossi aus Sao Paulo, bringt heute bereits problemlos drei bis vier Millionen Gläubige zu einer Freiluftmesse zusammen. Bilden die „Carismaticos“ nicht zunehmend erfolgreicher ein Gegengewicht zu den Sekten?
Maria Clara Bingemer: In der Tat ist die charismatische Erneuerungsbewegung stark angewachsen – und in den katholischen Gemeinden ganz Brasiliens inzwischen sehr anerkannt. Ich sehe das nicht nur negativ, weil unsere Kirche dadurch gefühlvoller, lebendiger geworden ist, wir auf einmal fröhliche, sogar von Tanz geprägte Gottesdienste haben. Gerade die jungen Menschen identifizieren sich mit der Musik der Charismatiker. All dies ist eine klare Botschaft an die Kirchenführung, sich mehr um die Gefühle der Gläubigen zu kümmern. Ich beobachte in dieser Bewegung aber eine bestimmte Oberflächlichkeit – das echte spirituelle Leben ist nicht gut assimiliert. Wichtige Herausforderung der katholischen Kirche Brasiliens ist, eine tiefe Gotteserfahrung wiederzubeleben – zu der sehr fröhliche Messen durchaus gut passen. Doch alles muß auch Tiefgang haben. Die Kirche redet viel davon, die Laien stärker einzubeziehen, tut dies aber längst nicht genug. Man muß eben mehr in die Laien investieren, die Geld-und Humanressourcen nicht nur für den Klerus aufbrauchen. An meiner theologischen Fakultät in Rio de Janeiro sind die allermeisten Studenten Laien, zudem größtenteils Frauen – da spüre ich den Hunger nach Spiritualität, aber auch nach theologischen Kenntnissen. Dieses Potential muß die Kirche besser fördern, muß besonders die Frauen darunter unterstützen, theologisch-spirituelle Inhalte zu produzieren. Ein ernstes Problem in unseren Gemeinden ist, daß die Laien nicht an sich glauben, weil sie eben doch noch nicht so einbezogen werden, wie es gelegentlich scheint. Ich bin eine Frau – und spüre das selbst, wenn ich mich als Laie betätige. Und auch dies will bedacht sein: Wer sein Leben – oder einen Teil davon – der Kirche widmen will, braucht Geld, um dies unter menschenwürdigen Bedingungen tun zu können.
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