Klaus Hart Brasilientexte

Aktuelle Berichte aus Brasilien – Politik, Kultur und Naturschutz

Daniel Sottomaior, Präsident der brasilianischen Atheistenvereinigung ATEA. Gesichter Brasiliens.

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Anders als beispielsweise in Deutschland sind die Atheisten in Brasilien eine geradezu verschwindende Minderheit. Gemäß den Statistiken verneinen von den rund 190 Millionen Einwohnern nur etwa zwei Prozent die Existenz eines Gottes, in der Altersgruppe von 16 bis 25 Jahren ist es einer neuen Studie zufolge sogar nur ein Prozent. Die nationale Atheistenvereinigung „ATEA” hat gerade um die 800 Mitglieder und wird von der Gesellschaft, von den Medien fast völlig ignoriert.

„Unter allen Minderheiten Brasiliens, von den Homosexuellen bis zu den Drogensüchtigen, werden wir Atheisten gemäß den Umfragen am meisten abgelehnt und gehaßt”, sagt der Präsident von ATEA, der 38-jährige Ingenieur Daniel Sottomaior in Sao Paulo im Website-Interview. „Wir sind geradezu die Inkarnation des Bösen –  Atheist zu sein, wird als Krankheit, als psychische Störung angesehen. Man begreift nicht, daß Gottlosigkeit überhaupt möglich ist. Die Gläubigen der evangelikalen Kirchen assozieren uns mit dem Teufel und die Katholiken mit dem Schlechten, mit der Sünde. Brasilien wurde vom katholischen Portugal kolonisiert, die katholische Kultur ist bis heute tief verwurzelt. Europa erlebte das Zeitalter der Aufklärung – wir nicht. Wir hatten keinen Diderot, keinen Voltaire, keine französische Revolution –  garnichts in dieser Richtung.”

In der Tat trifft man im größten katholischen Land der Erde, das für seine tiefe Volksfrömmigkeit bekannt ist, nur sehr selten einen Atheisten. Andererseits fällt auf, und ist auch durch Studien belegt, daß die Religion das Alltagsverhalten der gläubigen Brasilianer nur sehr wenig beeinflußt. In einem Land mit hoher Analphabetenrate und sehr mangelhaftem Schulsystem  kennt ein Großteil garnicht die Regeln und Gebote seiner Religion oder nur sehr oberflächlich – und hält sich entsprechend wenig daran. Das bekräftigt auch Atheisten-Präsident Sottomaior: „Im Grunde sind die Brasilianer doch fast durchweg praktizierende Atheisten, weil die Religion in keinen Aspekt ihres Alltags eingreift. Natürlich sagt jeder, klar, ich glaube an Gott, Gott steht bei mir über allem – weil dies ein hoch anerkannter gesellschaftlicher Wert ist und Atheisten zu den Ausgestoßenen, Verachteten zählen. Wer will das schon sein! Aber wieviele Brasilianer folgen schon den Verhaltensregeln ihrer Kirche – gar in Bezug auf christliche Werte, auf Abtreibung, Sex vor der Ehe oder Kondomgebrauch.”Brasiliens Atheisten schmerzt, wenn von Politikern und Kirchenführern die hohe Gewaltrate im Lande immer wieder mit fehlender Religiosität erklärt wird und es allen Ernstes heißt: Gottlose werden gewalttätig und begehen alle Arten von Verbrechen. Sottomaior meint ironisch: „Nach dieser Lesart sind wir Atheisten sozusagen Leute, die in der Arbeitspause Banken überfallen oder Minderjährige vergewaltigen. Die brasilianischen Gefängnisse müßten dann also voller Atheisten sein, sollten wir vielleicht dort nach mehr Anhängern suchen.”Sottomaiors Verband erstattet stets Anzeige bei der Justiz gegen Leute mit solchen Gewalt-Theorien und wendet sich an die Presse –  doch beides wird schlichtweg ignoriert. Brasiliens Zeitungen berichteten zwar über die europäischen Busse mit der Atheisten-Werbung –  doch als Brasiliens Atheisten exakt die gleiche Kampagne starten wollten, lehnten es die Medien ab, darüber auch nur eine Zeile zu bringen. ”Wir sind zwar laut Verfassung ein konfessionsloser Staat, doch überall gibt es Verstöße, gegen die wir ankämpfen. In den meisten öffentlichen Schulen, die theoretisch religionsfrei sind, ist noch das Schulgebet obligatorisch, natürlich ein katholisches. In den Kindergärten und sogar in den staatlichen Behindertenprojekten  Brasiliens ist Beten ebenfalls Pflicht. Ich kenne atheistische Künstler und auch Politiker, die ihrer Karriere nicht schaden wollen, und deshalb sogar lügen. Bei jeder Gelegenheit betonen sie öffentlich, tief religiös zu sein.”Die junge Anwältin Natalia Kuchar zählt ebenfalls zum winzigen Häuflein der brasilianischen Atheisten, überlegt sich aber in ihrem Alltag sehr genau, wem sie davon erzählt.  ”Als ich mit 10, 12 Jahren meinen katholischen Eltern eröffnete, daß ich nicht an Gott glaube, wurde dies sofort zum Familientabu erklärt. Mein tief schockierter Vater hält mich seitdem für einen Ketzer – und meine Mutter denkt allen Ernstes, ich sei verrückt, psychisch gestört und werde im Höllenfeuer schmoren. Fängt mein Vater wegen der Atheismusfrage Streit an, sage ich: Du betrinkst dich jeden Sonntag, obwohl es deine Religion verbietet. Du hältst dich an kein Gebot deiner Kirche! Nur von meinen Freunden, die mit mir an der Universität studierten, werde ich eher akzeptiert. Aber generell ist es in Brasilien auch in den gebildeten Schichten so –  man muß gläubig sein.”Natalia Kuchar ärgert, wenn evangelikale Sektenkirchen selbst in den öffentlichen Verkehrsmitteln aggressiv und in enormer Lautstärke die Leute missionieren wollen. Bitte man darum, nicht so laut zu schreien, würden diese Sektenprediger nur noch lauter und aggressiver. ”Wir Atheisten akzeptieren religiöse Menschen –  aber sie uns nicht. Ich finde auch empörend, wenn Evangelikale die brasilianischen Homosexuellen heilen, konvertieren wollen, weil das Gottes Wille sei. Ich als Atheistin respektiere das menschliche Leben mehr als viele Katholiken und Evangelikale.”Jeden Sonntag geht Natalia Kuchar indessen in die Kirche –  und trifft dort stets mehrere Atheisten. „Wir mögen einfach die Musik, die Tradition, fühlen uns wie infiltriert. Niemand weiß, wie wir denken und wir sagen es auch niemandem dort. Wir schauen uns nur vielsagend an.” www.atea.org.br

http://www.hart-brasilientexte.de/2011/07/26/brasiliens-atheisten-plakatkampagne-in-porto-alegre-mit-adolf-hitler-und-charly-chaplin/

http://www.hart-brasilientexte.de/2009/09/22/prof-dr-marcus-mazzari-prasident-der-goethe-gesellschaft-brasiliens-associacao-goethe-do-brasil-gesichter-brasiliens/

Dieser Beitrag wurde am Freitag, 25. September 2009 um 00:26 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Kultur, Politik abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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