Klaus Hart Brasilientexte

Aktuelle Berichte aus Brasilien – Politik, Kultur und Naturschutz

Fußball-WM-Vergabe an Brasilien – Belohnung für neoliberale Sozial-und Menschenrechtspolitik

Jetzt winken  gigantische Geschäfte und Profite, betonen die Kommentatoren der brasilianischen Qualitätszeitungen. „O Globo” aus der Scheiterhaufen-und Lepra-Stadt Rio de Janeiro titelt ironisch:”A Copa é nossa –  jetzt fehlen nur noch die Flughäfen, die Straßen, die Züge, U-Bahnen, Stadien.”

http://www.hart-brasilientexte.de/2011/04/29/brasiliens-scheiterhaufen-erstmals-in-einer-anklagenden-inszenierung-der-scheiterhaufenstadt-rio-de-janeiro-zu-sehen/


Stark herausgestellt wurde die aggressive Reaktion des brasilianischen Fußballverbandschefs Ricardo Teixeira auf die Frage einer kanadischen Journalistin  zur Sicherheit der anreisenden Fans aus aller Welt angesichts einer sehr hohen Mordrate im Tropenland. Teixeira antwortete: ”Unser Gewaltniveau ist nicht höher und auch nicht niedriger als jenes in den Hauptstädten der reichen Länder.“
Dies bedeutet unter anderem, daß gemäß Teixeiras Interpretation in Städten wie Berlin, Wien oder Zürich Zustände herrschen, wie sie in brasilianischen Spielfilmen wie „City of God” und „Tropa de Elite” geschildert werden, also auch dort beispielsweise das ungesühnte lebendige Verbrennen Mißliebiger in Slum-Parallelstaaten üblich ist, Millionen von Menschen in einer Slumdiktatur hausen, regelmäßig verübte Blutbäder ungestraft bleiben.
Brasiliens Zeitungen hielten Teixeira vor, auf internationalem Parkett schlichtweg die Unwahrheit gesagt zu haben: In Westeuropa würden gemäß den Statistiken jährlich drei von hunderttausend Einwohnern ermordet –  in Brasilien seien es indessen 27. Daß die amtlichen brasilianischen Statistiken über Gewalttaten stark geschönt sind, wird in den Landesmedien regelmäßig angeprangert.
FIFA-Chef Joseph Blatter weiß aus seinen Spezialinformationen detailliert, wie beispielsweise die Menschenrechtslage in den in Sichtweite des Maracana-Stadions von Rio gelegenen Slums ist. „Ich habe dort Favela-Bewohner Fußball spielen sehen –  der Ball war ein Menschenkopf”, berichtete der Menschenrechtsaktivist André Fernandes im Exklusivinterview. Brasilianische Mitarbeiter von Favela-Sozialprojekten, die europäische Gelder erhalten, haben ebenfalls im Exklusivinterview wiederholt erklärt, daß in zahlreichen Rio-Slums die Banditen demonstrativ vor den Favela-Bewohnern “ und zu deren Einschüchterung “ mit abgeschlagenen Menschenköpfen Fußball spielten.
Brasiliens Nationaltrainer Dunga warf kritischen  Journalisten des Tropenlandes unpatriotisches Verhalten vor: ”Man muß diese Typen dazu bringen, Brasilien zu respektieren. Man muß stolz darauf sein, daß man ein Brasilianer ist –  man muß echten Stolz haben!” Dunga schlug sich dabei an die Brust. Brasiliens größte Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo” nahm Dungas Forderung ironisch: „Okay –  aber müssen wir deshalb auch blind sein?” Milliardengelder würden wegen der WM 2014 dringlichsten Sozialaufgaben entzogen –  für eine Art von Fest, auf das Brasilien gut verzichten könne. Die offiziellen Darlegungen der brasilianischen Regierung in Bezug auf WM-Verpflichtungen seien eine „Anhäufung von Lügen”. Dies betreffe die Infrastruktur ebenso wie die öffentliche Sicherheit.
Erinnert wurde an die gigantischen öffentlichen Ausgaben für die jüngsten panamerikanischen Spiele in der Scheiterhaufen-Stadt Rio de Janeiro. Zugegeben worden sei, daß diese Ausgaben viermal höher gelegen hätten als ursprünglich geplant. Doch die echten Kosten habe man bis heute nicht offengelegt.
Offizielle Angaben seien entweder falsch, unkomplett oder nicht vertrauenswürdig. Der WM-2014-Kostenvoranschlag sei schlichtweg erlogen –  die hinzukommenden Zuschläge durch üblichen Raub seien nicht zu beziffern.
Rodrigo Bueno aus Sao Paulo zählt zu den führenden brasilianischen Fußballexperten, hat während der WM in Deutschland für die „Folha de Sao Paulo” sowie für einen TV-Sportkanal die Spiele kommentiert. Nach der Rückkehr trifft ihn wie üblich der Kulturschock –  Bueno sieht die Slums, das Massenelend, Desorganisation und Gewalt, die ganze geballte Häßlichkeit des abgasvergifteten Betonmeers von Sao Paulo. Der Entwicklungsabstand zu Europa wird ständig und deutlich spürbar größer. ”Wie die Brasilianer leiden, was sie tagtäglich ertragen müssen, macht mich traurig und unzufrieden“, sagt er im Exklusivinterview. „Oft wollte ich deshalb in ein europäisches Land auswandern. Ich habe das Gefühl, daß sich hier einfach nichts ändert – als ob wir noch am Nullpunkt wären. Verglichen damit, gibts in Europa nicht viel zu verbessern, ist doch fast alles perfekt und wunderbar. Auch Brasiliens Sport-Infrastruktur ist extrem zurückgeblieben. Ungelogen –  wir haben kein einziges WM-taugliches Stadion. Alle unsere Fußballstadien wurden so geplant, daß sich eine möglichst große Menschenmasse wie Vieh hineinpferchen läßt. Für die WM 2014 müßte man alle diese Stadien sprengen und an die selbe Stelle sichere, moderne, zeitgemäße bauen –  das wäre das einfachste.”
Fußballexperte Bueno wäre strikt dagegen, wenn die Regierung für die WM Steuergelder verwendete. Der große Pelé sieht es genauso. Für die WM, so sagt er, dürfe man nicht das Volk opfern. Zumal sich die allermeisten Brasilianer nie im Leben ein WM-Ticket leisten könnten. Für Bueno ist indessen ausgeschlossen, daß Brasiliens knausrige Privatwirtschaft die nötigen Mittel bereitstellt. ”Die FIFA hat Rieseneinnahmen – damit sollten die neuen Stadien finanziert werden. Deutsche Unternehmen haben Brasilien für die WM 2014 Hilfe, Know-How angeboten. In München steht die Allianz-Arena – könnte man nicht zum Beispiel eine Lufthansa-Arena, eine Bayer-Arena in Sao Paulo bauen?”
Der Sportreporter fährt gerne Fahrrad, zählt in Sao Paulo zu den ganz wenigen, die sich wagemutig ins Verkehrschaos trauen, sich zwischen den Autos hindurchschlängeln. Fahrradwege wie in Deutschland, Junge und Alte, die sich wie in Berlin oder München überall bequem mit dem Rad fortbewegen? Natürlich Fehlanzeige – reaktionäre, brutale, rücksichtslose Stadtverwaltungen verhindern all dies nach wie vor. Selbst die elitäre Spitzenfunktionärin von Lulas Arbeiterpartei, Marta Suplicy, heute Tourismusministerin, weigerte sich während ihrer Amtszeit als Präfektin Sao Paulos, die von Umweltschützern geforderten Fahrradwege anzulegen. Klare Absicht ist, den Auto-Individualverkehr, den Absatz der Automultis zu fördern. Und seit Jahrzehnten systematisch zu verhindern, daß die Masse der Armen mit dem Fahrrad in der Megacity ein billiges, praktisches Fortbewegungsmittel hätte.
Für die WM 2014 wäre auch der Transport ein Riesenproblem. ”Die ausländischen Fans müßten sich auf einiges gefaßt machen”, sagt Bueno. „Zwischen den Spielorten käme nur der Flieger in Frage. Wunderschöne Autobahnen wie in Deutschland haben wir nicht –  und nicht mal Schienenverkehr. Total absurd, daß zwischen Rio de Janeiro und Sao Paulo keine Züge mehr fahren, nur Busse. Die Regierung müßte in die Bahn investieren, das wäre auch gut fürs Volk. Generell befürchte ich, daß bei einer WM 2014 in Brasilien Unmengen von Geldern abgezweigt würden –  wir leben hier in einer Korruptionskultur. Ich vertraue da weder in die Politiker noch in den Chef unseres nationalen Fußballverbands.”
Brasilien hatte ein relativ gut ausgebautes Bahnnetz, sogar Straßenbahnen in Städten wie Rio und Sao Paulo. Um die Automultis zu favorisieren, wurde vom Staat ein Großteil der Strecken stillgelegt, erreicht man von Sao Paulo aus die Küste nicht mehr mit der Bahn, sondern muß sich in enge, unbequeme VW-oder Mercedes-Busse zwängen, die nur zu oft im Stau steckenbleiben. Den Brasilianern wurde allen Ernstes eingeredet, Schiene sei Rückschritt, Bus und PKW Fortschritt. Brasilianische Touristen stellen dann in der Schweiz, Österreich und Deutschland überrascht fest, wie wichtig dort Tram und Bahn sind.
Und die Sicherheit bei einer WM 2014? In Brasilien werden jährlich mehr Menschen als im Irakkrieg getötet, Sao Paulo erlitt sogar eine Welle von Terroranschlägen des größten nationalen Verbrechersyndikats PCC. In Städten wie Rio de Janeiro, wo seit dem Beginn der Aggression gegen den Irak immer mehr beteiligte US-Soldaten an Nobelstränden wie Ipanema „Fronturlaub“ machen, nehmen bewaffnete Raubüberfälle von Banden auf Passanten, Autofahrer zu. ”Die Attacken des PCC begannen vor der WM 2006, Gangsterboß Marcola unterbrach den Terror aber während der Spiele”, gibt Bueno zu bedenken. „Bei großen internationalen Veranstaltungen in Rio de Janeiro gab es stets einen Waffenstillstand mit den Banditen. Ich denke, bei einer Fußball-WM wäre es genau so.”
Rodrigo Bueno gibt sich trotz aller Probleme optimistisch. Auf der Straße, doch auch auf den nationalen Internetseiten nannten viele Brasilianer die WM-Kandidatur angesichts der gravierenden sozialen Lage einen schlechten Witz, gar eine Idiotie. Brasilien werde sich vor aller Welt lächerlich machen. Üblich sei in den großen Stadien, nicht die numerierten Sitzplätze zu respektieren, sondern sich gemäß dem Recht des Stärkeren einfach hinzusetzen, wo man wolle. Immer wieder gebe es nach Spielen Schießereien zwischen Fanclubs, würden dabei regelmäßig Menschen ermordet. Im berühmten Maracana-Stadion von Rio halte regelmäßig martialische Kavallerie der Militärpolizei die Fußballfans in Schach, schlage mit Säbeln und Hartholzknüppeln zu, schreibt die „Folha de Sao Paulo”. Spiele würden für einfache, friedliche Fußballfreunde daher zum „Inferno”. „Brasilien will eine WM austragen, aber ist nicht einmal fähig, ein Spiel für nur etwa vierzigtausend Zuschauer zu organisieren.”

Dieser Beitrag wurde am Samstag, 08. März 2008 um 03:36 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Kultur, Politik abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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