Klaus Hart Brasilientexte

Aktuelle Berichte aus Brasilien – Politik, Kultur und Naturschutz

Bono Vox/U2 trifft Lula, gibt Konzerte in Sao Paulo – Stadt der Todesschwadronen, Scheiterhaufen, Folter. Bisher keinerlei Position zu Menschenrechtslage in Brasilien…Umweltpolitik unter Lula – die Bußgelder für Umweltverbrechen. Libyenkrieg-Jagdbomberwerbung in Rio.

http://g1.globo.com/u2-no-brasil/noticia/2011/04/lula-e-bono-vox-se-encontram-em-hotel-de-sp.html

http://www.hart-brasilientexte.de/2011/04/11/folter-entsetzliche-hygienische-bedingungen-gefangnishorror-in-brasilien-unter-neuer-rousseff-regierung-anzeige-der-bischoflichen-gefangnispastoral-jeden-tag-wird-in-brasilien-gefoltert/

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Zeitungsausriß.  Reiche reden laut Medienangaben über Armut. http://www.hart-brasilientexte.de/2011/01/28/lulas-einkommen-allein-als-ehrenprasident-der-arbeiterpartei-aufschlusreich-ist-der-vergleich-mit-dem-brasilianischen-mindestlohn-den-satzen-von-bolsa-familia-den-arbeiter-durchschnittslohnen/

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“Folter noch jeden Tag.”(2011)

Angeli über Elend in Brasilien:  http://www.hart-brasilientexte.de/2011/04/12/elendsbeseitigung-in-brasilien-karikatur-von-angeli-in-der-grosten-qualitatszeitung-des-landes-folha-de-sao-paulo-von-2011/

http://www.hart-brasilientexte.de/2011/04/11/u2-in-sao-paulo-bei-ersten-zwei-konzerten-nur-lob-fur-bereitschaft-von-prasidentin-rousseff-das-elend-im-lande-auszutilgen-melden-landesmedien-keinerlei-kritik-an-gravierenden-menschenrechtsve/

Crack-Kind und U2-Konzert in Sao Paulo:  http://www.hart-brasilientexte.de/2011/04/10/crack-kind-in-sao-paulo-2011-gesichter-brasiliens-drogen-und-kinderpolitik-unter-der-regierung-rousseff/

Jagdbomberwerbung und Libyenkrieg:  http://www.hart-brasilientexte.de/2011/04/12/libyenkrieg-frankreichs-jagdbomber-konzern-rafale-wirbt-mit-kriegseinsatzen-gegen-libyen-auf-kriegs-und-waffenmesse-rio-de-janeiros-kritisieren-brasilianer-friedensbewegung-pax-christi-begrust-frie/

Hintergrund von 2006:

“Demagogischer, scheinheiliger” Bono Vox von U2 in Brasilien scharf kritisiert

“Mann der Geld-und Politik-Maschinerie”

Umweltpolitik unter Lula:  http://www.hart-brasilientexte.de/2011/04/12/brasiliens-umweltschutz-nur-075-prozent-der-busgelder-fur-umweltverbrechen-umweltvergehen-wurden-unter-lula-rousseff-zwischen-2005-und-2010-tatsachlich-entrichtet/

http://www.hart-brasilientexte.de/2011/04/04/brasiliens-neue-prasidentin-dilma-rousseff-nach-drei-monaten-amtszeit-kritisieren-die-landesmedien-alte-politische-sunden-und-bruch-von-wahlversprechen/

Copacabana-Protest:  http://www.hart-brasilientexte.de/2010/07/19/copacabana-protest-wegen-tod-des-schulers-wesley-durch-verirrte-kugel-menschenrechte-der-slum-bewohner-unter-lula/

“Moderne Scheiterhaufen”:  http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/fazit/668242/

Wer ist Antonio Palocci?  http://www.hart-brasilientexte.de/2010/12/14/dilma-rousseff-macht-antonio-palocci-zum-chefminister-des-zivilkabinetts-ihrer-regierung-hatte-selber-diesen-posten-kommentar-uberflussig/

Der Sänger Bono Vox von der irischen Band U2 gilt in Europa als Megastar, als sympathischer, charismatischer Weltverbesserer, als Politaktivist, der sich unentwegt für die Menschenrechte, für die Schwachen dieser Erde vor allem in der Dritten Welt, für Minderheiten einsetzt. Im Januar hatte Bono Vox den Deutschen Medienpreis erhalten. Doch wie kommt er in einem Drittweltland wie Brasilien an, wie reagieren die Kritiker der Qualitätsmedien? Ganz Brasilien empfing Bono und seine Band mit offenen Armen – in der Kultur-und Wirtschaftsmetropole Sao Paulo freute man sich auf die beiden Konzerte und selbst in den abgelegensten Amazonasdörfern auf die Direktübertragung im Fernsehen. Doch als Bono sofort nach der Ankunft in den Präsidentenpalast zu Staatschef Lula eilte und dessen Politik über den grünen Klee lobte, nicht ein einziges Wörtchen der Kritik etwa an der gravierenden Menschenrechtslage fallen ließ, machte sich nicht nur in den Medien Verwunderung und Skepsis breit. Schließlich steckt die Lula-Regierung tief im Sumpf von Korruption und Machtmißbrauch.

Und als Bono dann auch noch seine Konzerte mit weitschweifigen politischen Erklärungen würzte, gar Lob-und Hudel-Bilder des Staatschefs Lula auf die Großleinwände projizieren ließ, war es mit der Geduld vieler Brasilianer vorbei. Wie die Medien hervorhoben, wurde Bono ausgepfiffen, als er seinen “neuen Freunden” Lula und Kulturminister Gilberto Gil dankte. Marcos Goncalves, Feuilletonchef von Brasiliens größter Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo” bringt im Website-Interview die Kritik der Medien des Tropenlandes auf den Punkt:”Bono verkörpert die Ödheit, das Langweilig-Platte politischer Korrektheit. Wir leben heute in der Welt dieser Ideologie des politisch Korrekten, was zu einer Art Gefängnis wurde. Die Sprache wird überwacht – als Journalist übt man Selbstzensur, überwacht das eigene Vokabular. Wir wurden Gefangene angeblich fortschrittlicher Ideen. Ein regelrechter Apparat in der heutigen Kultur fordert diese politische Korrektheit ein. Ich finde, ein Rocksänger sollte Distanz zu den Autoritäten wahren, zumal Staatschef Lula und dessen Partei durch Korruption belastet sind. Doch Bono ignoriert das alles, kritisiert und hinterfragt nichts, leiht Lula in einem Wahljahr sein Prestige, gebärdet sich als dessen Helfer bei der Wiederwahl. Bono kennt die Realität Brasiliens, nutzt seinen Aufenthalt indessen fürs persönliche Marketing, entgleist in Demagogie und Scheinheiligkeit. Bono gehört zur Geld-und Politik-Maschinerie dieser Erde. Seine Konzerte hier waren wirklich ein Festival der Demagogie.”

Bono Vox und Mick Jagger
Marcos Goncalves erinnert an die ironische Reaktion Mick Jaggers, den man einmal auf Bonos Gutmenschentum, auf dessen soziales Engagement ansprach. „Ich glaube, ich habe ihn unlängst über die Wasser gehen sehen.” Bono gebärde sich beinahe wie ein Gott, sagt Goncalves lachend.

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Marcos Goncalves, Feuilletonchef von „Folha de Sao Paulo”

Als Bono in Sao Paulo war, revoltierten gerade die Insassen von fünf Gefängnissen gegen unmenschliche Haftbedingungen. Zahlreiche Menschenrechtler protestierten auf den Straßen Sao Paulos dagegen, daß in Brasilien die Folter weiterhin alltäglich ist, und daß gerade ein Polizeioberst freigesprochen wurde, der ein Massaker an Häftlingen geleitet hatte. Über einhundert Gefangene waren von dessen Sondereinheit getötet worden. Und in Rio de Janeiro terrorisierten neofeudale Milizen des organisierten Verbrechens kurz vorm Karneval gerade wieder einmal Slumbewohner, töteten zahlreiche unschuldige Menschen. Wegen der brachialen Naturzerstörung hatte sich ein bekannter Umweltaktivist letzten November aus Protest lebendig verbrannt

Bonos Schweigen
Doch Bono schwieg zur Folter ebenso wie zur Banditendiktatur in den Slums, hätte an den Protesten der Menschenrechtsaktivisten natürlich teilnehmen können, wie auch Feuilletonchef Marcos Goncalves betont: ”Bono hätte sich mit ganz anderen Leuten treffen müssen “ doch er ist eben fasziniert von den Sphären der Macht. Er darf doch nicht einfach ignorieren, was hier im Lande passiert, diese Zustände auch noch unterstützen. Lula muß mit Kritik begegnet werden, Lula muß Rechenschaft ablegen. Aus dessen Arbeiterpartei ist doch die Hälfte nicht ohne Grund ausgetreten, darunter große progressive Intellektuelle. Bono zählt zur NGO-Szene. Doch diese NGO kriegen doch ihr Geld von den Regierungen, sind also in Wahrheit gar keine Nicht-Regierungs-Organisationen, leben vielmehr im Schatten der Regierungen. Heute schuf man diese NGO-Kultur, eine Kunst mit diesen verzuckerten Redensarten über Minoritäten, „die Verteidigung der Armen”. Dabei wird doch nur zu oft lediglich um Geldmittel gestritten “ das muß man kritisch beleuchten! Bono nutzt die Politik, um sich von anderen Rockmusikern zu unterscheiden, das ist seine Marketing-Masche. Doch nach Europa wird Bono mit der Aura des großen Revolutionärs zurückkehren, der stets unerschütterlich an der Seite der Dritten Welt steht. Dabei nutzt er die Unkenntnis der Ersten Welt über Brasilien aus.”

Karneval und Brasilienklischees
Wir lieben Brasiliens Karneval, rief Bono ebenfalls in die Massen. Denn im Karneval träfen sich Reiche und Arme, Alte und Junge, Linke und Rechte. Das sei gut so, denn um die Armut zu besiegen, müßten alle zusammenarbeiten. Noch so eine Phrase, die Marcos Goncalves mehr als hohl fand. ”In Europa kultiviert man Mythen über Brasilien, über den Karneval, den Fußball “ und ausgerechnet die Brasilienklischees werden von Bono auch noch verstärkt. Nach diesen Konzerten hier wird sich die öffentliche Meinung über ihn ändern. Oberflächlich betrachtet, vertritt er ja das Gute, das Positive, ist ein Gutmensch. Doch wir Kulturkritiker müssen hinter die Äußerlichkeiten, die Erscheinungsebene schauen “ und da offenbart sich eben bei Bono gewaltige Demagogie.”

Feuilletonchef Goncalves bestätigt, daß die Medienqualität in Europa stark abgefallen ist “ doch auch in Brasilien gebe es einen Verlust an kritischem Sinn in der Presse. „Alles wird akzeptiert, alles wird in Marketing eingewickelt, das Banale und Konventionelle wird ständig wiedergekäut.”

Bono und Gilberto Gil
Nach den Konzerten von Sao Paulo flog Bono nach Salvador da Bahia, um an der Seite von Musiker und Kulturminister Gilberto Gil den Karneval zu verbringen. Goncalves erinnert daran, wie Gil und der damalige Arbeitsminister und heutige Arbeiterpartei-Chef Ricardo Berzoini sich von berüchtigten, gefürchteten Gangsterbossen den Besuch eines Rio-Slums genehmigen ließen, gemäß Banditenanweisung ohne Polizeischutz oder Bodyguards in den Slum einfuhren und damit die neofeudale Diktatur der Banditenmilizen über deren Parallelstaat der Armenviertel sozusagen offiziell anerkannten. „In Deutschland würde in einem solchen Falle die Regierung gestürzt”, betonte Sao Paulos Uni-Experte für Gewaltfragen, Paulo Sergio Pinheiro.

Andere Kulturkritiker nannten Bono, den Träger des Deutschen Medienpreises, jetzt einen Populisten, der die Kontrolle über sein Geschwätz verloren habe, ein monotones und absurdes Blablabla. “Và pentear macaco, Bono Vox!” (Geh Affen kämmen, Bono Vox), riet ihm die engagierte Kritikerin Barbara Gancia. “Bono versucht das Gewissen der Reichen zu beruhigen, indem sie Geld an afrikanische Länder spenden. Aber wird denn damit irgendetwas gelöst? Wenn man afrikanischen Diktatoren Geld gibt, damit sie Waffen und immer größere Mercedes-Benz-Limousinen kaufen – ist das die Lösung?” In jenen Ländern, denen Bono zu helfen suche, sei der Hunger Symptom der Sozialstruktur. Bono lobe Lula, als ob in dessen Regierung keine Korruption existiere, so Barbara Gancia von der “Folha de Sao Paulo”.
Viele Fans erregten sich über den extrem hohen Eintrittspreis der Konzerte, von zwei Dritteln des derzeitigen brasilianischen Mindestlohns aufwärts. Das Publikum bestand deshalb fast nur aus Mittel-und Oberschicht. Auf brasilianischen Internetseiten war zu lesen:”Bono ist käuflich. George Bush schlug er vor, die USA sollten ein Prozent der Steuereinnahmen den armen Ländern geben. Aber warum spendet Bono dann nicht fünfzig Prozent des Gewinns seiner Brasilienkonzerte für das Anti-Hunger-Programm der Regierung, gibt lediglich eine Gitarre zum Versteigern? Eintrittspreise von 200 Real sind außerhalb der Realität eines Landes, dessen Mindestlohn bei 300 Real liegt. Den anderen in die Tasche zu greifen, ist leicht, alles pure Demagogie. Bono hat sich vor seinen Fans blamiert, ließ sich in die schmutzige Politik Brasiliens verwickeln…”

Das Konzert der Rolling Stones einige Tage zuvor an der Copacabana war gratis, 1,2 Millionen Menschen kamen. U2 spielte im Morumbi-Stadion Sao Paulos zweimal vor jeweils 73000 Menschen. Der dicke, langweilige, humorlose Bono habe nicht ein Zehntel des Sex-Appeals von Mick Jagger, keinerlei Spontaneität, hieß es auf den brasilianischen Kulturseiten außerdem. Jeder Bühnenschritt Bonos sei vorhersehbar, die hohen Noten singe er auch noch falsch.
–Bono und Deutscher Medienpreis–
“Die Welt braucht Menschen wie sie”, sagte Ex-Außenminister Joseph Fischer in seiner Laudatio zur Verleihung des Deutschen Medienpreises am 24. Januar in der Kongreßhalle von Baden-Baden. “Unser heutiger Preisträger wird für seine herausragende Leistung geehrt, für seine Leidenschaft, für seine Vernunft, sein Mitgefühl und seine Überzeugungskraft.”
Laut Pressemitteilung werden mit dem Deutschen Medienpreis stets Persönlichkeiten ausgezeichnet, “die nach Ansicht einer Jury aus Chefredakteuren in einem Jahr die Gesellschaft oder die Politik prägend beeinflußt haben.”
Vor Bono haben auch Helmut Kohl und Gerhard Schröder den Preis erhalten.
Ende März wurde in Santiago de Chile laut Presseberichten die Band U2 im Rahmen der Konzerte mit dem Menschenrechtspreis “Ambassador of Conscience” von Amnesty International ausgezeichnet. Den Preis überreichte die neue chilenische Präsidentin Michelle Bachelet. Bono Vox erhielt zudem den “Verdienstorden Pablo Neruda”.
Brasiliens Medien bekräftigten indessen die Kritik an Bono Vox. Zitiert wurde zudem aus einem offenen Brief des indischen UNO-Wirtschaftsexperten Jagdish Bhagwati an Bono Vox. Danach suche sich der Sänger die falschen politischen Partner aus, sei in Bezug auf Afrika zum Sprecher einer überholten Programmatik geworden. Finanzhilfe für afrikanische Länder, bei der es sich in Wahrheit um Kredite handele, schaffe Abhängigkeit, keine Entwicklung, sei Quelle der Korruption, hieß es unter anderem.

Schriftsteller Zuenir Ventura:  http://www.hart-brasilientexte.de/2008/10/07/kokain-schnupfende-jungen-mit-maschinenpistolen-sind-ebenso-normal-an-den-peripherien-unserer-metropolen-wie-madchen-die-an-schonen-nordoststranden-neben-auslandischen-touristen-oder-sogar-auf-dere/

Favelas, Terror, Menschenrechte, Lula(2005)
„In Deutschlands parlamentarischer Demokratie wäre Staatschef Lula wegen der vielen Korruptionsaffären schon längst amtsenthoben, gestürzt worden“, sagt Professor Marcos Figueiredo von Rios Institut für Universitäre Studien/IUPERJ im Exklusivinterview. Aber Lula verkündete doch der Nation in einer Fernsehrede, von all den illegalen Praktiken seiner Companheiros nichts gewußt zu haben? „Natürlich wußte er davon“, bekräftigt Sozialwissenschaftler Figueiredo in seinem Institut, das direkt vor der Hang-Favela Dona Marta im Stadtteil Botafogo liegt. Für ihn weiß die Lula-Regierung natürlich auch bestens Bescheid, wie es um die Menschenrechte der Slumbewohner steht, die von neofeudalen Banditenmilizen des organisierten Verbrechens beherrscht und terrorisiert werden. „Diese Favelas funktionieren wie ein Parallelstaat, mit einer militärischen Struktur – die Situation dort ist dramatisch.“

Seit den 80er Jahren, bestätigt er, überließen die Autoritäten, der Staat die Favelas den Verbrechersyndikaten – im Tausch gegen politische Unterstützung. Denn die Favelados sind ein wichtiges Wählerreservoir, das nunmehr von den Banditenmilizen kontrolliert werde. Die ordnen an, für wen votiert werden muß. „Das ist weiterhin so – ein Großteil der Stimmabgabe erfolgt auf direkten Befehl der Gangsterbosse. Sie haben die politische und die physische Kontrolle über die Favelas. Selbst ein Gouverneur, Präfekt oder sonstiger Politiker kann dort nicht einfach hineingehen oder hineinfahren“, nötig sei stets eine Erlaubnis durch die Verbrechersyndikate. Figueiredo erinnert an den Besuch von Kulturminister Gilberto Gil und Arbeitsminister Ricardo Berzoini im Favela-Konglomerat „Complexo da Marè“ von Rio, unweit des internationalen Flughafens. Gil und Berzoini fuhren in der schwarzen Regierungslimousine in den Slum ein – ohne jeglichen Polizeischutz oder zumindest die üblichen Bodyguards. Wie die Medien herausfanden, hatten beide die ausdrückliche Erlaubnis der Banditenbosse. „Die Minister haben vorher mit denen verhandelt, claro, und das ist sehr schlecht, pessimo“, urteilt der Sozialwissenschaftler Figueiredo. Sein Kollege Paulo Sergio Pinheiro von der Bundesuniversität in Sao Paulo betont:“All dies ist ein Skandal – geschähe derartiges in Berlin, Paris oder London, würde das im Parlament debattiert, würde die Regierung stürzen.“
Figueiredo kennt die Erlaubnis-Prozedur von den Befragungsteams seines Instituts. Wollen diese mit Favelados sprechen, müssen sie zuerst die Bewohnerassoziation kontaktieren, die fast ausnahmslos von den Banditenkommandos dominiert wird. „Die Assoziation fragt dann bei den Gangsterbossen an – und die erlauben dann einen Besuch – oder auch nicht. Wirklich unglaublich, daß es Territorien in der Stadt gibt, wo die Autoritäten keinen freien Zugang haben, nicht einfach reingehen können!“ Eine Lösung des Problems, etwa durch den Einsatz des Militärs, sei extrem schwierig. Figueiredo macht eine erstaunliche Rechnung auf: Inzwischen sei ein Punkt erreicht, wo man auf jeweils zwei bis zehn Favelados einen gut ausgebildeten Soldaten brauche, um den Gangstern die Macht zu nehmen. „In Favelas mit zweihunderttausend Bewohnern müßte man also jeweils bis zu hunderttausend Soldaten stationieren, um die Lage zu kontrollieren.“ Die Berichte über den Terror der neofeudalen Banditenkommandos, die Greueltaten seien leider wahr. Selbst auf dem Morro da Providencia, nur wenige hundert Meter vom Rio-Sitz der Bundes-und Zivilpolizei, der Präfektur sowie vom Hauptbahnhof entfernt, haben die Verbrechersyndikate ebenfalls eine Hochburg. Zeitungen brachten im September Fotos der dortigen Banditenmilizen mit ihren NATO-Sturmgewehren, den handlichen israelischen Uzi-Mpis sowie Handgranaten. Auf einer Titelseite war auch das Foto mit den Überresten einer zunächst gefolterten und danach verbrannten Frau zu sehen. Die Täter – jene auf dem Morro do Castro von Niteroi herrschende Banditenmiliz. Ein Aufschrei der Öffentlichkeit, gar Proteste von in-und ausländischen Menschenrechtsorganisationen bleiben wie immer aus. Derartiges gehört längst zur Normalität, wird hingenommen.
–deutsche G 3 in Vidigal—
Auch im Hangslum Vidigal ist die Lage weiter sehr gespannt.
In der dortigen Kirche zelebriert der spanische Ordensbruder Julio Caballero einen Gemeindegottesdienst – doch über das bedrückendste Problem der Gläubigen, den Banditenterror, verliert er nie ein einziges Wort. Fehlt ihm Courage? Die mehreren hundert Katholiken kennen den Grund sehr genau. Würde ihr so beliebter „Frei Julio“ Klartext reden, wäre er vielleicht schon ermordet, die Kirche von den Gangstermilizen geschlossen, die Sozialarbeit jäh gestoppt worden. Das will der Seelsorger nicht riskieren – und niemand verlangt es von ihm. Umsicht und Fingerspitzengefühl, gelegentlich etwas Kaltblütigkeit und ein sechster Sinn in risikoreichen Situationen sind gefragt. Immer wieder dringen Banditenmilizen, die sogar deutsche G-3-Sturmgewehre der Marke Heckler & Koch tragen, zur Einschüchterung überfallartig in die Kirche ein. Denn fast täglich toben Gefechte in den engen Gassen des Hangslums, explodieren Granaten. Die Gangsterbosse verhängen ihr Normendiktat, darunter Ausgangssperren und das „Gesetz des Schweigens“ über alle Vorgänge in Vidigal. Wegen der Schießereien muß immer wieder der Verkehr auf der vielbefahrenen Avenida Niemeyer unterbrochen werden, die die beiden noblen Strandviertel Leblon und Sao Conrado miteinander verbindet. In Sao Conrado wohnen Kulturminister Gilberto Gil , Caetano Veloso und andere prominente Show-Größen. Ausgerechnet neben den schönsten Stränden der Zuckerhutmetropole kämpft Brasiliens führendes Verbrechersyndikat „Comando Vermelho“ um die Herrschaft über Vidigal und hat es fast geschafft. Das rivalisierende „Terceiro Comando“ zieht sich zurück – die Schicken und Reichen der Upperclass-Viertel werden nur noch vom berüchtigten „Comando Vermelho“ mit harten Drogen beliefert. Ein superprofitables Geschäft für wenige – der pure Horror für die über 37000 Bewohner Vidigals. “Ständig werden hier Unbeteiligte von Schüssen getroffen, denn die Gangster nehmen auf uns keine Rücksicht“, berichten Bewohner. „Die feuern los nach allen Seiten – und wer von uns gerade auf der Straße ist, den erwischt es eben. Wir haben hier Barbarei – abgeschlagene Köpfe werden wie Trophäen ausgestellt. Sogar den Präsidenten unserer Bewohnerassoziation haben sie bei einem Attentat zusammengeschossen.“
Gemeint ist Luiz Carlos da Silva, 38, Vater von fünf Kindern. Anfang des Jahres sagt er im Interview: “Unsere Regierung, alle Autoritäten haben uns aufgegeben, im Stich gelassen, obwohl wir gerade jetzt wegen der Gewalt dringend Hilfe brauchen. Wir sind die Ausgeschlossenen der Gesellschaft, leben am Rande, sind die spottbillige Arbeitskraft für die Bessergestellten. Einmal warfen die Banditen eine Granate in eine Hütte – alle tot. An einer anderen Stelle wurden vier, fünf Katen wurden durch Handgranaten dem Erdboden gleichgemacht. Wegen dieser ausweglosen Lage hatten wir Papst Johannes Paul den Zweiten um Hilfe gebeten, der uns mitten in den härtesten Zeiten der Militärdiktatur hier ganz spontan besuchte.“ Silvas damaliger Mitarbeiter Antonio Paiva:“Wir leben in ständiger schrecklicher Anspannung, viele drehen durch. In Gefechtspausen besorgen sich die Leute schnell was zu essen, verbarrikadieren sich rasch wieder in ihren Behausungen – so ist es im Irak doch auch! Weil das einfache Volk in Brasilien keine richtige Schulbildung hat, machen die Politiker was sie wollen, verhalten sich zu uns indifferent.“
Silvas Bewohnerassoziation war eine der wenigen unabhängigen in den über 800 Slums von Rio, unterwarf sich nie den Gangstern – jetzt untersteht sie dem Comando Vermelho. Silva liegt nach wie vor schwerverwundet in einer Klinik.
An der Mauer gegenüber der Kirche steht drohend in großen Lettern: „Das Comando Vermelho bleibt jetzt hier für immer“. Für die Bewohner im obersten Teil von Vidigal ist derzeit wegen der Gefechte keinerlei Seelsorge möglich. In der dort zu Ehren von Johannes Paul dem Zweiten errichteten Kapelle können nicht einmal Gottesdienste abgehalten werden, trauen sich die Leute nur selten ins Freie. Manche Katen haben zwanzig, dreißig und mehr Einschüsse. Dutzende von Familien wurden von den Banditenmilizen aus Vidigal vertrieben.
Das Comando Vermelho dominiert auch den Nachbarslum Rocinha, ist dort ebenfalls mit NATO-Waffen, darunter deutschen G-3-MGs ausgerüstet. „Die Sturmgewehre made in Oberndorf“, so die Reservistenkameradschaft Westhausen, „schießen fast überall in der Welt mit.“ In anderen Quellen heißt es:“Für Heckler & Koch war dieses Gewehr eine wahre Goldgrube, denn in Spitzenzeiten wurde das G 3 in 47 Ländern der Erde als Ordonnanzwaffe eingeführt.“
Keinen Kilometer entfernt von Vidigal lehrt die Dekanin der Katholischen Universität von Rio, Maria Clara Bingemer, eine der angesehensten Theologinnen des Tropenlandes: “Die Menschenrechte der Slumbewohner werden gravierend verletzt – wir leben in einem unerklärten Bürgerkrieg.“
Laut UNO-Angaben kommen in Brasilien täglich mehr Menschen durch Gewalttaten ums Leben als beispielsweise im Irak.
Zwecks Einschüchterung seit jeher auch in Vidigal immer wieder Exekutionen, Folter, drakonische „Strafen“, darunter Verstümmelungen jeder Art.
Der Psychotherapeut Jurandir Freire Costa aus Rio hat eine Erklärung für das Desinteresse der Bessergestellten am Los der Slumbewohner:“Die Mittel-und Oberschicht spricht diesen den Gleichheitsgrundsatz ab, definiert sie quasi als Nicht-Menschen, reagiert daher mit extremer Indifferenz und Akzeptanz auf jede Art von Gewalt gegen diesen Bevölkerungsteil. Daß Slumbewohner kaum ein Minimum an Menschenrechten genießen, ist somit irrelevant.“ In Europa nutzen viele Brasilien als Projektionsfläche für sozialromantische Träume und blenden diesen Teil der Landesrealität nur zu gerne aus. Für andere sind Berichte darüber lediglich platter Sensationalismus.

Dieser Beitrag wurde am Dienstag, 12. April 2011 um 00:20 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Kultur, Politik abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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